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Ausgabe:

Mai/2010

Spalte:

617-619

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Grümme, Bernhard

Titel/Untertitel:

Vom Anderen eröffnete Erfahrung. Zur Neubestimmung des Erfahrungsbegriffs in der Religionsdidaktik.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus; Freiburg-Basel-Wien: Herder 2007. 403 S. 8° = Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft, 10. Kart. EUR 49,95. ISBN 978-3-579-05740-8 (Gütersloher Verlagshaus); 978-3-451-29373-3 (Herder).

Rezensent:

Werner Ritter

Bernhard Grümmes Arbeit ist dem Begriff der Erfahrung gewidmet, der in der evangelischen wie katholischen Religionspädagogik bereits in den 70er Jahren des 20. Jh.s intensiv diskutiert, dann jedoch schnell durch andere religionspädagogische Stichworte abgelöst wurde. Insofern darf man auf die kritische relecture dieser relevanten Begrifflichkeit gespannt sein.
Einleitend (Kapitel A) schreibt G.: Wenn es ein Zentrum der neueren Religionspädagogik bis in die Gegenwart hinein gebe, dann sei dies ihr Erfahrungsbezug. Jedoch sei zu fragen, inwiefern man sich dabei einem ungebrochenen, undialektischen Erfahrungsbegriff angepasst habe. Aus diesem Grund will die Arbeit den Erfahrungsbegriff neu grundlegen. Sodann (B) entfaltet G. die »Schwierigkeiten der Korrelationsdidaktik als Symptom eines problematischen Erfahrungsbegriffs« (29–145). Anhand von Paul Tillich, Karl Rahner und Edward Schillebeeckx zeigt er deren vereinseitigtes Erfahrungsverständnis (ohne ihre produktive Leistung zu verkennen) auf, welches in der Gefahr stehe, die »kritische Potenz der Offenbarungserfahrung« gegenüber menschlicher Erfahrung zu kurz kommen zu lassen. Im nächsten Kapitel (C) der Studie sucht G. einen »alternativen Erfahrungsbegriff« (145–230). Dabei setzt er sich kritisch von zahlreichen Erfahrungsansätzen unterschiedlicher Provenienz (u. a. phänomenologisch, transzendental, kommunikativ-handlungstheoretisch) ab, die ihm nicht genügen, da sie die Fremdheit der Botschaft und die Freiheit der Subjekte zu wenig im Blick hätten. Dies entfaltet G. im Abschnitt D »Vom Anderen eröffnete Erfahrung. Profilierung eines alteritätstheoretischen Erfahrungsbegriffs« (235–312). Angeregt vor allem von Franz Rosenzweigs Vorstellung einer »dialogische[n] Alterität« (239) geht es G. um die »vom Ereignis des Anderen gestiftete Erfahrung« (244) qua »assymetrisch grundierte[r] Dialogizität« (251). Abschließend (E) bündelt G. Ertrag und Perspektiven seiner Arbeit mit einem »Ausblick auf eine Alteritätstheoretische Didaktik« (313 – 346), was im Plädoyer gipfelt, den didaktischen Prozess offen und »vulnerabel« (315) zu halten jenseits subjektivistischer Aneignungs- und objektivistischer Vermittlungsdidaktik. Es sind in meinen Augen vor allem diese wenigen Seiten des Kapitels E, die zeigen, dass der Weg von einer breiten Kritik zur didaktischen Konkretion durchaus schmal ist.
In toto erscheint G.s Arbeit als ein notwendiger Beitrag zur Weiterführung der religionspädagogischen Debatte, da er noch ein­mal die Erfahrungsthematik aufgreift, die in der Tat bis vor gut zwei Jahrzehnten religionspädagogisch hoch gehandelt war, dann aber (zu) schnell aus dem religionspädagogischen Verkehr gezogen wurde. G. liegt nicht einfach falsch (wenn vielleicht auch nicht ganz richtig), wenn er in kritischer Rückschau meint nachweisen zu können, dass der religionspädagogische Erfahrungsbegriff der 70er bis 90er Jahre zu identitätslogisch und harmonisch konzipiert war und damit dem der Erfahrung inhärierenden Aspekt der Fremdheit und Irritation zu wenig gerecht wurde, was ihn seinen alteritätstheoretischen Erfahrungsbegriff entwickeln lässt, der die Transzendenz Gottes und die befreiende wie kritisch-produktive Wucht der biblischen Botschaft zur Geltung bringt, ohne die Dignität der subjektiven Erfahrungen zu schmälern.
Nach der Lektüre ergeben sich einige Anfragen und Bedenken wie folgt:
1. Die Eingangsbehauptung der Arbeit, dass gegenwärtige (wissenschaftliche) Religionspädagogik erfahrungsorientiert sei, kann ich so nicht zu teilen. Das mag für die 70er bis 90er Jahre gelten. Dann aber geriet Erfahrung zu Unrecht im schnelllebigen religionspädagogischen Konzeptionenkarussell ins Hintertreffen. Petra Schulz schreibt in ihrer Habilitationsschrift (Sich etwas von sich selbst her zeigen lassen, Münster 2006.) m. E. zu Recht, dass infolge von Peter Biehls Wendung zur Wahrnehmung in den späten 90er Jahren die Erfahrungskategorie in den Hintergrund gedrängt worden sei. Deswegen ist m. E. Erfahrung sicher nicht die oder eine zentrale Kategorie zeitgenössischer (wissenschaftlicher) Religionspädagogik, so sehr man sich das auch wünschte. Längst sind andere religionspädagogische Stichworte (ästhetisch; konstruktivistisch; performativ usw.) auf dem Markt ... Ob in der Praxis des schulischen Religionsunterrichts mit einem einseitigen Erfahrungsverständnis gearbeitet wird, steht auf einem anderen Blatt!
2. Dass in den frühen Aufbruchsjahren der Erfahrungsbegriff immer wieder (zu) unterbestimmt blieb, ist nicht zu bestreiten. Allerdings war das primäre erkenntnisleitende Interesse religionspädagogischer Pionierarbeiten zur Sache aus den 70er Jahren ein anderes als das von G.: Es galt seinerzeit, christlichen Glauben überhaupt von Erfahrung her zu verstehen und nicht einfach steil von oben als Einschlag von Offenbarung zu behaupten, um sich wissenschaftlich und interpersonal zu verständigen.
3. Die alteritätstheoretische Nachjustierung bzw. Neuvermessung des Erfahrungsbegriffs durch G. halte ich im Ansatz für berechtigt, gleichwohl war in seinerzeitigen religionspädagogischen Arbeiten zur Sache sehr wohl auch vom Potential fremder, anderer Erfahrung (»Kontrasterfahrung«) die Rede (vgl. W. Ritter, Glaube und Erfahrung im religionspädagogischen Kontext, Göttingen 1989) – aber das vergisst sich scheinbar leicht.
4. Fraglich ist mir, ob die Betonung des Fremdheitscharakters als dem Strukturmerkmal von Erfahrung die Arbeit nicht über das Ziel hinausschießen lässt. De facto ist es doch so, dass biblische und nachbiblische Tradition uns »nahe« und »ferne« Erfahrung(en) zeigt. Von daher erscheint es mir nicht richtig, Erfahrung ausschließlich fremd zu bestimmen. Dann bliebe uns doch letztlich das Evangelium fremd, oder? Pointiert formuliert: Wenn christliche Erfahrung per se immer »fremd« ist, wie kann sie dann je meine und unsere werden? Erfahrung braucht m. E. anders gesagt den »geregelten« Austausch von nah und fern. Sollte G. das letztlich auch so sehen, dann wäre mir das aus seinen Ausführungen zu wenig deutlich geworden.
5. Stark sind G.s Reflexionen zweifellos vor allem in den theologisch-dogmatischen (A), auch in den theologisch-religionspädagogischen Abschnitten (B, C, D). Schwach und zu wenig aufgerollt empfinde ich dagegen virulente Einsichten und Klärungen seitens Pädagogik und Erziehungswissenschaften (signifikant hierfür das gleichsam »negative« Literaturverzeichnis der Arbeit!) zur Erfahrung, was im positiven Falle womöglich den didaktischen Perspektiven mehr Konkretionen hätte bringen können.
Summa sumarum: Eine gewisse theologisch-dogmatische (Über-) Bestimmung gepaart mit einer nicht zu übersehenden erziehungswissenschaftlichen Unterbestimmung der Erfahrungskategorie entwertet G.s engagiert geschriebene Arbeit nicht, stellt aber ein Problem dar, das nach Bearbeitung verlangt, wenn und weil es um Erfahrung im Kontext der Religionspädagogik geht.