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Ausgabe:

Mai/2010

Spalte:

612-615

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schwarz, Norbert

Titel/Untertitel:

»denn wenn ich schwach bin, bin ich stark«. Rezeptivität und Produktivität des Glaubenssubjektes in der Homiletik Hans Joachim Iwands.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. 360 S. gr.8° = Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, 56. Kart. EUR 49,90. ISBN 978-3-525-62406-7.

Rezensent:

Alexander Deeg

Hans Joachim Iwand (1899–1960) dient der neueren Homiletik gelegentlich als eine Art dunkler Folie, auf deren Hintergrund das Neue einer Predigtlehre umso heller erstrahlt, die die gegenwärtige Welt und die pluralen Lebenswirklichkeiten der Menschen in ihr ebenso grundlegend berücksichtigt wie die sprachliche und kommunikative Gestaltung der Predigtrede. Diesem einseitigen homiletischen Porträt des Begründers der Göttinger Predigtmeditationen arbeitet die 2005 in Göttingen angenommene Dissertation von Norbert Schwarz entgegen.
Es sei vorweg gesagt: Das große Ziel, Iwand von dem Vorwurf zu befreien, seine Homiletik drohe zum Wirklichkeitsverlust zu führen, kann die vorliegende Studie nur teilweise erreichen. Sie zeigt aber, wie anregend sich eine Relektüre Iwands für die gegenwärtige homiletische Diskussion erweist. Iwands Homiletik geht von dem In- und Miteinander von homiletischem Ziel und rhetorischer Gestaltung aus und bleibt auf der Suche nach einer Sprachform, die bewirkt, was sie intendiert, und die Predigende und Hörende in jenen Wirklichkeitszusammenhang hineinnimmt, in dem das Pauluswort zur Erfahrung werden kann: »denn wenn ich schwach bin, bin ich stark« (2Kor 12,10b – so der Titel der Studie).
Doch der Reihe nach: Die klar gegliederte, gut lesbare und präzise formulierte Studie nimmt ihren Ausgang bei einer Darstellung der Iwand-Rezeption in neueren homiletischen Studien und der Konturierung des Problems, mit dem sich die Dissertation im Kern auseinandersetzt: dem »Verhältnis von Wort Gottes und menschlicher Wirklichkeit« (13) und – homiletisch gewendet – der Frage nach der Verbindung eines genuin theologischen und eines kommunikationswissenschaftlichen Ansatzes zur Beschreibung der Predigtaufgabe und des Predigtgeschehens. Besonders Birgit Weyel, Wilfried Engemann und Jan Hermelink konstatierten – auf jeweils unterschiedlichem theoretischem Hintergrund – eine Tendenz zum Wirklichkeitsverlust bei Iwand, konkret: eine reduktive Wahrnehmung des gelebten Lebens, das primär nur als dunkler Hintergrund erscheint, auf dem dann das Neue und Andere des Glaubens umso heller aufstrahlt, gleichzeitig aber abstrakt bleibt (Kapitel 1, 13–47).
Im zweiten Kapitel (49–94) erarbeitet Sch. kenntnisreich Iwands theologische Anthropologie und greift dabei auf dessen unveröffentlichte Dissertation zurück. Es gelingt treffend, die Verankerung dieser Anthropologie im religionsphilosophischen Diskurs zwischen Kant und Heim zu erschließen und das Spezifische der theologischen Lehre vom Menschen bei Iwand herauszuarbeiten. Identität erscheint – anders als in liberal-theologischen Ansätzen – als gebrochene, das »Identitätsverlangen des Menschen wird als Gesetzeserfahrung unter der Verborgenheit Gottes qualifiziert« (80). Glaubensidentität erweist sich demgegenüber als bleibend (!) externes, als in Christus zugesprochenes neues Sein. Zu fragen wäre angesichts der Darstellung dieses Kapitels lediglich, inwiefern es bei Iwand (und so auch in zahlreichen vergleichbaren Ansätzen) zu einer systematisch-materialen Formalisierung der hermeneutischen Dynamik von Gesetz und Evangelium kommt.
Das dritte Kapitel (95–156) stellt Iwands Homiletik im Ausgang von seiner Bloestauer Homiletikvorlesung dar und verortet sie zwischen Barth auf der einen Seite, den liberal-theologischen Entwürfen andererseits. Von beiden grenzt sich Iwand ab, da beide auf jeweils unterschiedliche Weise dem Missverständnis einer menschlichen Autonomie gegenüber dem Wort Gottes unterlägen und so die inkarnationstheologisch bedingte Menschlichkeit des Verkündigungswortes unterliefen. Auch in diesem Kapitel tritt die methodische Genauigkeit der Studie zutage: Sch. stützt sich nicht allein auf den in den »Nachgelassenen Werken« vorgelegten Text, sondern nimmt auch das zugrunde liegende (ausführlichere) Manuskript der Vorlesung wahr (vgl. 95, Anm. 2).
Die drei folgenden Kapitel (Kapitel 4–6, 157–289) zeigen Sch. als einen Theologen, der es versteht, sich schriftlich veröffentlichten Predigten mit großer Akribie und überzeugender Sensibilität zu nähern. Die Analysen von sechs Iwand-Predigten bieten eine nicht nur theologisch, hermeneutisch und homiletisch gewinnbringende Lektüre, sondern ermöglichen durch Sch.s kundige Führung, dem Predigtereignis Iwand auf die Spur zu kommen. Die drei Doppelanalysen behandeln Iwands homiletische Hermeneutik unter dem Stichwort des Narrativen (Kapitel 4), die homiletische Durchführung der Anthropologie (Predigt als »Kampfgeschehen zwischen Fleisch und Geist«; Kapitel 5) sowie die eschatologische Kontur­ seines Predigens mit besonderer Betonung der Bildverwendung und -gestaltung (Kapitel 6). Jedes Kapitel bedient sich methodisch unterschiedlicher Weisen der Predigtanalyse, die sich (wenngleich die Methode vor allem in Kapitel 6 in etwas ermüdender Ausführ­lichkeit exerziert wird) insgesamt als hilfreich erweisen.
Dass die sechs Predigten auch im Anhang abgedruckt werden und Sch. (154, Anm. 228) explizit darauf hinweist, dass sich eine Lektüre der Predigten vor der Wahrnehmung der eigenen Analyse empfiehlt, gehört zu den Stärken des (bis auf die leider recht häufigen Druckfehler und das fehlende Register) hochwertig ausgestatteten Buches. Nur gelegentlich hätte Sch. etwas mehr rezeptionsästhetisch geschulte Vorsicht walten lassen können, wenn er behauptet, Iwand habe dieses oder jenes intendiert bzw. bei seinen Hörern bewirkt. Bedauerlich, aber angesichts der Quellenlage kaum anders denkbar, bleibt in diesen Kapiteln zudem, dass sich die Wahrnehmung des Predigtphänomens Iwand nur auf die analysierten Texte gründet. Etwas über die Predigtwerkstatt zu erfahren (Predigtvorbereitung; Manuskriptgestaltung ...) oder über die konkrete Rezeption seiner Predigten (etwa durch Berichte von Augen-/Ohrenzeugen etc.), hätte wesentliche Einsichten vermitteln können.
Das abschließende Kapitel 7 (291–309) bietet eine Zusammenfassung und soll – so Sch. – die bei Iwand ermittelten Ansätze in die neuere homiletische Diskussion einordnen. Dies allerdings ge­schieht nur auf wenigen Seiten, blendet zu viel Literatur aus und bleibt daher allzu schemenhaft. Dabei böten die Beobachtungen bei Iwand reichlich Stoff für das Gespräch mit neuerer Homiletik (etwa die Frage nach der Person des Predigers oder der Sprachgestalt der Predigt). Problematisch ist vor allem, dass Sch. die Einsichten einer ästhetisch bzw. semiotisch formatierten Homiletik nicht grundlegender ins Gespräch mit der Iwand-Analyse bringt.
So erscheint Bohrens Predigtlehre, die einen pneumatologisch-sprachästhetischen Weg sucht, um das in der Studie umrissene Problem des Verhältnisses von Wort-Theologie und Sprachgestalt einer Lösung entgegenzuführen, weder im Literaturverzeichnis noch in den Ausführungen der Dissertation. Ähnliches gilt für weitere Ansätze einer neueren ästhetischen, rhetorischen bzw. semiotisch formatierten Homiletik. So begegnen in Iwands Predigten immer wieder traditionelle und konventionelle homiletische Sprachmuster (vgl. nur die zahlreichen modalen Wendungen mit »dürfen«, »können«, »lassen«), die etwa in den semiotischen Untersuchungen Engemanns oder Lützes zu Recht als problematisch erkannt werden (291–309). Das Literaturverzeichnis umfasst sieben Seiten (354–360) und besticht durch die Weite, mit der sich Sch. bei Iwand umgesehen hat; demgegenüber fällt allerdings auch hier auf, wie knapp die neuere homiletische Literatur rezipiert wurde.
Sch. führt insgesamt vor Augen, wie Iwand den Menschen aus der Perspektive des Glaubens »realistisch« wahrnimmt und wie er dies homiletisch vor allem auf die Rolle des Predigers bezieht. Im Kern ist es eine lutherisch formatierte Anthropologie, die um die Leitworte »Gesetz und Evangelium« sowie »simul iustus et peccator« kreist. Homiletische Weltwahrnehmung bedeutet dann für Iwand, die Wirklichkeit (zunächst: die eigene Wirklichkeit des Predigers als »erstem Hörer des Wortes«!) in dieser Perspektive wahrzunehmen, was sich durchaus widerständig zu anderen, geläufigen Perspektiven verhält. Dabei allerdings sind es dann – auch in den analysierten Predigtbeispielen – primär die »negativen« Aspekte der jeweiligen Doppelbegriffe (»Gesetz«; »Sünde«), die bei Iwand lebensweltliche Konkretion erfahren. Das Andere des Glaubens, die eschatologische Realität bleibt demgegenüber häufig in der Formulierung zugespitzter anthropologischer Grundaussagen stehen. Es zeigt sich: Eine systematisch-theologisch überzeugende Theorie der religiösen Erfahrung ist homiletisch noch nicht mit einer Wahrnehmung von Weltwirklichkeit gleichzusetzen (die freilich nicht mit einer von Iwand zu Recht problematisierten »Zeitgemäßheit« zu verwechseln ist, vgl. 106 f.). Die Frage, wie Predigt beide (!) – diejenigen, die reden, und diejenigen, die hören – in eine Lebensform führen kann, die sich nicht auf eine stabile, von innen nach außen entworfene Identität gründet, sondern immer neu von außen nach innen konstituiert wird, bleibt auch nach Sch.s Dissertation aufgegeben.
Gleichzeitig aber macht diese Iwand-Rezeption vor allem das notwendige Ineinander von Predigtpraxis und systematisch-theologischer Reflexion deutlich. Besonders deshalb ist das Buch nicht nur für die Homiletikgeschichte, sondern auch für die gegenwärtige homiletische Diskussion wichtig und zudem so gut zu lesen, dass ihm nur weite Verbreitung und intensive Rezeption ge­wünscht werden kann.