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Ausgabe:

Mai/2010

Spalte:

605-608

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Bieler, Andrea

Titel/Untertitel:

Gottesdienst interkulturell. Predigen und Gottesdienst feiern im Zwischenraum.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2008. 239 S. gr.8° = Christentum heute, 9. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-17-020028-9.

Rezensent:

Peter Cornehl

»Im Sommer 2000 wandere ich verheult, mit Herzklopfen und zu schwerem Gepäck in die USA aus«; im Flugzeug von Frankfurt nach San Francisco entsteht eine erste Predigtmeditation über Gen 12,1–3. »Sie ist mit Herzblut geschrieben. Im Zwischenraum. Sie erzählt vom Weggehen.« (20 f.) So persönlich wird in einer wissenschaftlichen Abhandlung hierzulande selten geredet. Andrea Bieler hat es gewagt. Daraus ist ein eindrückliches Buch entstanden, das man mit steigender Anteilnahme liest. Die lutherische Theologin aus Deutschland lebt und lehrt seitdem als Professorin für Praktische Theologie und Liturgiewissenschaft an der Pacific School of Religion (PSR) in Berkeley, Kalifornien. Kalifornien ist ein Migrationsland. Studierendenschaft und Dozentenkollegium der PSR sind international und interreligiös zusammengesetzt. Wo man nach Herkunft, Hautfarbe, Geschlechterorientierung wie selbstverständlich multikulturell ausgerichtet ist, liegt es nahe, dass auch die gottesdienstliche Praxis vom Geist religiöser Offenheit geprägt ist. Konfessionelle Grenzen sind durchlässig, liturgisch herrscht eine kreative, experimentelle Atmosphäre.
Das Buch ist im Kern eine kommentierte Sammlung von Predigten aus drei Bereichen. B. dokumentiert einerseits ihre eigene Praxis: Predigten, Liturgien, Meditationen, Gebete, Bildbetrachtungen und Essays aus den Jahren 2001 bis 2006. Dazu kommen Texte afrikanisch-amerikanischer sowie asiatisch-amerikanischer Predigerinnen und Prediger. Zu allen Beispielen gibt es knappe, präzise Informationen über die Autoren, die kirchliche Situation und den zeitgeschichtlichen Kontext der Gottesdienste. Vorangestellt ist eine systematische Einleitung, die das Phänomen homiletisch-liturgischer Interkulturalität umreißt und erste theoretische Klärungen vollzieht. Den Schluss bildet (wie in der Reihe »Christentum heute« üblich) ein ausführliches »Enzyklopädisches Stichwort«: »Gottesdienst in interkultureller Perspektive« (188–231).
Bei aller Vielfalt zeigen sich auch große Übereinstimmungen. Alle Predigten sind geprägt von einer gemeinsamen Sicht der Situation nach dem 11. September 2001, alle eint die Opposition gegen den der Bush-Administration propagierten »War against Terrorism«, gegen die Kriege im Irak und in Afghanistan. B. teilt das Urteil der radikalen christlichen Linken, wonach die Aktionen und Strategien der Amerikaner und ihrer willigen Verbündeten nicht nur Maßnahmen einer verfehlten Regierungspolitik sind, die durch eine andere abgelöst werden muss, sondern Manifestationen eines Systems weltweiter Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Kapitalismus, Rassismus, Neoliberalismus bilden ein zusammenhängendes Ganzes: »das Imperium«. Unter der Führung der USA beansprucht das Imperium politisch, ökonomisch und kulturell die Herrschaft über die Welt und schickt sich an, diese mit allen Mitteln durchzusetzen.
Das hat eine lange Vorgeschichte, die bis in biblische Zeiten zu­rück­reicht. Die Großmächte Ägypten, Assur, Babylon und das Imperium Romanum sind Kontext und Gegenüber der Geschichte Israels und der frühen Christenheit. Leiden und Widerstand gegen das Imperium sind der hermeneutische Horizont, in dem die biblischen Texte zu verstehen sind. Das verleiht den biblischen Texten bis heute eine unmittelbare Aktualität. Die hier gesammelten Predigten, Gebete, Litaneien sind keine kühlen politischen Analysen, sondern Zeugnisse existenzieller Betroffenheit. Aus ihnen spricht parteiliche Anteilnahme für die Opfer, Verzweiflung über den Missbrauch christlicher Religion sowie ein leidenschaftliches Ringen um die befreiende Kraft des Evangeliums. Sie beeindrucken durch die poetische Intensität, mit der Zorn, aber auch Ratlosigkeit, Nichtwissen und Ambivalenzen zur Sprache gebracht werden, auch wenn das dahinterstehende Weltbild in manchem allzu schematische Züge hat.
Es wäre aufschlussreich zu erfahren, ob die veränderte politische Situation nach der Wahl von Barack Obama auch die Einstellungen der Predigerinnen und Prediger verändert hat. Gibt es bei B. und ihren Freunden neue Hoffnung, gibt es eine Bereitschaft, sich auf die Chancen, aber auch die enormen Schwierigkeiten einzulassen, mit denen die neue amerikanische Regierung außen- und innenpolitisch konfrontiert wird? Oder beharrt man auf der eingeübten prinzipiellen Distanz zum System?
Ähnliche Fragen stellen sich auch im Blick auf die Predigten, die von afrikanisch-amerikanischen Theologen stammen und in einem eigenen Kapitel vorgestellt werden. Die Empörung über den nach wie vor herrschenden Rassismus in der amerikanischen Ge­sellschaft, über die nahezu unverändert miserable soziale Lage der »working poor« ist groß, die Kritik am Christentum, das von vielen nach wie vor als Sklavenhalterreligion wahrgenommen wird, massiv. Dabei richten sich die Angriffe nicht nur gegen die konservativen weißen Fundamentalisten, sondern auch gegen den liberalen, scheinprogressiven Mainstream, der in Berkeley zuhause ist. Hier sind die Attacken fast noch bissiger. So fordert Lynice Pinkard, eine Pfarrerin der United Church of Christ, in einer Predigt über Jesaja 58 mit militanter Vehemenz die Gemeinde zum Widerstand gegen das Imperium auf: »Was wir brauchen ist eine ungezähmte Chris­tenheit! Wir brauchen eine Draufgänger-, eine wilde, eine Wir-sind-nicht-klein-zu-kriegen-, eine Wir-machen-die-Idioten-nieder-Christenheit, die an Gottes gerechte Welt glaubt« und das Imperium bekämpft (80). Wieder fragt man sich, ob sich nach der Wahl des ersten schwarzen Präsidenten für die afrikanisch-amerikanischen Predigerinnen und Prediger neue Perspektiven eröffnen, vielleicht in Anknüpfung an die Programmatik konsequenter Sozialreformen aus der Zeit der Bürgerrechtsbewegung, die der Pastoralpsychologe an der PSR und baptistische Pfarrer Archie Smith jr. in einer Predigt vertritt, die – obwohl schon 1967 gehalten – nichts an Aktualität verloren hat.
Die eigentliche Überraschung des Bandes steckt in den Predigten asiatisch-amerikanischer Geistlicher, die an sechs Beispielen im vierten Kapitel vorgestellt werden. Die Schicksale der u. a. aus Vietnam, Korea, China, Indonesien in die USA eingewanderten christlichen Familien sind oft nicht weniger hart, nicht weniger von Leid, Entbehrung, Enttäuschung gezeichnet. Doch in den hier ausgewählten Predigten herrscht ein anderer Grundton. Vielleicht, weil es für die Betroffenen trotz allem ein Weg in die Freiheit war. Einmal heißt es: Wir fühlen uns nicht als Flüchtlinge, sondern als Pilger (103). Das Fremdsein gehört zum Leben dazu, es hat eine biblische Signatur. Kulturelle Hybridbildungen, so reflektieren asiatisch-amerikanische Theologen ihre Erfahrungen, sind krea­tive Lernprozesse. So spricht der methodistische Bischof Roy I. Sano, Sohn japanischer Einwanderer, in der Auslegung der biblischen Schöpfungsgeschichte geradezu von der »Lust«, in den täglichen Begegnungen mit dem Kulturmix »Gott entdecken« zu können (127). »Wir sind eingeladen, das Durcheinander von Identitäten und Kulturen wertzuschätzen. Die globalisierte Welt, in der wir leben, fordert uns dazu heraus, uns auf neue Grenzüberschreitungen und Vermischungen in Musik und Sprache, in Liturgie und Gemeindearbeit einzulassen.« (128) Geradezu ansteckend sind der Humor und die Entdeckerfreude vieler dieser Predigten. Biblische Geschichten werden gegen den Strich gelesen. Mai-Anh Le Trans, eine methodistische Pfarrerin, Tochter vietnamesischer Immigranten, liest Gen 19,26 neu. Sie verteidigt Lots Frau, die, als sie trotz der Warnung Gottes zurückschaute, zur Salzsäule erstarrte: Vielleicht hielt sie im untergehenden Sodom Ausschau nach einem ihrer Kinder, das dort zurückgeblieben war. Das wiederum er­innert sie an ihre eigene Großmutter, die in den Wirren des zu Ende gehenden Kriegs in Vietnam ihren Sohn in der Armee nicht im Stich lassen wollte und den rettenden Hubschrauber nicht betrat, sondern zurückblieb, um den Sohn zu suchen. Ein be­sonders schönes Predigtbeispiel stammt von Choan-Seng Song aus Taiwan. Der emeritierte Professor an der PSR, der zeitweise presbyterianischer Bischof und Präsident des Reformierten Weltbundes war, ist ein ingeniöser Vertreter einer asiatischen narrativen Homiletik. Song verwebt in einer Predigt über Gen 12,1–13 auf anrührende Weise »zwei Verheißungsgeschichten«, die zugleich »Lügengeschichten« sind: die Geschichte von Abraham, der aus Angst um sein eigenes Leben seine Frau Sara verleugnete und dem Gott doch seinen Segen nicht entzogen hat, und die Geschichte vom »Weißen Schirm« einer asiatisch-amerikanischen Einwanderungsfamilie. Man muss diese Predigten lesen. Sie sind wunderbare Zeugnisse eines leidgeprüften, tiefen Vertrauens auf die Segenskraft der biblischen Texte.
Gottesdienst interkulturell? Am Ende des Buches stellt sich die Frage: Sind diese Beispiele nur eine amerikanische (vielleicht sogar nur kalifornische) Spezialität oder unser aller Zukunft? B. sei Dank für ihr klares Plädoyer für eine solche Zukunft. Das Buch macht Mut, sich den Herausforderungen, die so oder so auf uns alle zukommen, engagiert und zuversichtlich zu stellen.