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Ausgabe:

Mai/2010

Spalte:

604-605

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Wolbert, Werner

Titel/Untertitel:

Gewissen und Verantwortung. Gesammelte Studien.

Verlag:

Freiburg (Schweiz): Academic Press Fribourg; Freiburg-Wien: Herder 2008. 261 S. gr.8° = Studien zur theologischen Ethik, 118. Kart. EUR 42,00. ISBN 978-3-7278-1595-9 (Academic Press, Fribourg); 978-3-451-29802-8 (Herder).

Rezensent:

André Munzinger

»In den meisten Fällen des Alltags weiß der Mensch, was seine sittliche Pflicht ist.« (10) Wozu es dennoch der ethischen Reflexion bedarf, führt Werner Wolbert, Professor für Moraltheologie an der Universität Salzburg, mit diesen größtenteils bereits veröffentlichten, aber überarbeiteten Beiträgen zur Fundamentalethik aus, die in einem Zeitraum von 25 Jahren entstanden sind.
Im ersten Beitrag wird die Wiederkehr der Tugendethik diskutiert und festgestellt, dass die Urteilskraft »permanent überfordert« sei, ob einer sich zu den Teleologen oder Deontologen zähle (27). Diese Einschätzung muss nicht als Widerspruch zur eingangs zitierten Einsicht gelesen werden, weil sie für den Vf. vornehmlich für die Fragen gilt, auf die in der Tradition keine Antworten geboten werden. So werden in »Detektivarbeit« (53) die Vor- und Nachteile von Tugend- und Pflichtenethiken in der internationalen Diskussion dargestellt. Die Studie resümiert, dass das Anliegen der Tugendethiker, das »Können« hervorzuheben, im Rahmen einer Ethik des »Sollens« integriert werden kann, »indem man dem Menschen seine Würde als sittliches Wesen vor Augen stellt« (57). Im zweiten Kapitel wird diese Würde in ihrer Relevanz für die Moral und ihrem Verhältnis zu den Menschenrechten thematisiert. In dieser Ausführung wird eine Grundtendenz des Bandes deutlich, nämlich dass der Vf. sich der Moraltheorie Kants verpflichtet fühlt und starke Verbindungslinien zu einer »christlichen Ethik« ziehen möchte. Der dritte Beitrag mit der Überschrift »Pflicht und Verantwortung« kreist um den Verantwortungsbegriff – angesichts der Möglichkeiten und Risiken in der Moderne. So sei Verantwortung z. B. nicht mehr vorwiegend auf die Vergangenheit bezogen, sondern auch auf die Zukunft ausgerichtet, in der Vermeidung übler oder der Herstellung positiv eingeschätzter Zustände. Es wird summarisch festgehalten, dass »die Bewusstmachung heutiger Verantwortung ... eine der wichtigsten moralpädagogischen Forderungen unserer Zeit« sei (131). Im vierten Teil des Aufsatzbandes untersucht der Vf. die umstrittene Frage, ob das Gewissen unfehlbar ist und ob der Mensch seinem irrigen Gewissen zu folgen hat. Insgesamt möchte er zeigen, »dass die Meinungsverschiedenheiten um das irrige Gewissen weitgehend überflüssig sind«, indem er den Unterschied zwischen der Verschuldenshaftung und der Erfolgshaftung stark macht (175). Erstere ergebe sich aus der Überlegung, dass die Taten, die schuldlos aus dem irrigen Gewissen erfolgten, keineswegs als »böse« qualifiziert werden könnten, sondern nur die aus Freiheit bewusst entschiedenen. Allerdings sollten die durch Gewissensirrtümer verursachten Folgen nicht unterschätzt werden – und deshalb bestehe auch eine Erfolgshaftung.
Anzumerken ist, dass exegetische Forschungen nicht zur Kennt­nis genommen worden sind (z. B. von C. A. Pierce oder R. A. Horsley), die den neutestamentlichen Gewissensbegriff von der späteren theo­logischen Konzeption, wie sie der Vf. verwendet, absetzen. Zum einen wird dort der einheitliche Sprachgebrauch problematisiert, indem verschiedene Bedeutungsebenen des Begriffs aufgewiesen werden (z. B. auch die des Bewusstseins), und zum anderen werden andere anthropologische Termini (z. B. des Denkens und Fühlens) stärker hervorgehoben.
Im fünften Beitrag werden Probleme des Naturrechts erörtert – und zwar insbesondere die Frage, ob der Naturalismusvorwurf berechtigt ist und was dieser überhaupt austrägt. Nach einer ausführlichen Diskussion wird argumentiert, dass die »Schwerter des Naturalismusvorwurfes ... lieber in Pflugscharen« umgeschmiedet werden sollten (199). Das Naturrecht gelte es zu verteidigen, wenn auch in erheblich differenzierterer Weise, als dies bisher durchgeführt worden sei. Der sechste Beitrag arbeitet sich am Phänomen, Problem und Auftrag der Dankbarkeit zwischen Menschen und gegen Gott ab. Eine Vielzahl von traditionellen und neueren Stimmen kommt zu Wort, um die schwierigen Aspekte des Dankens und Dankempfangens zu erörtern. Dabei kritisiert der Vf. wiederholte Aufrufe, die Dankbarkeit von der Selbstliebe zu reinigen (etwa bei Karl Holl). Unterschieden werden zudem partikulare (z. B. Gebet, Eucharistie) und universale Dankbarkeit (als Leben nach Gottes Willen). Schließlich zielt der Vf. im siebten Text darauf ab, die Quellen der Moralität einer Handlung zu klären: nämlich Objekte, Umstände und Ziele. In diesem Teil tritt die konfessionelle Überzeugung des Vf.s am deutlichsten in den Vordergrund, indem er vorwiegend mit Texten aus der eigenen Tradition arbeitet. Die Schwierigkeit des formalen und materialen Pluralismus in dieser Frage bleibt dagegen merklich unbehandelt.
Die Stärke des Ansatzes ist es aber, vielschichtig und nuanciert vorzugehen und einen argumentativen Stil zu pflegen. Dies gelingt auch, weil eine über die nationalen und fachlichen Grenzen hinaus verweisende Diskussion rezipiert wird. Allerdings ist die Folge dieses Stils, dass die meisten Kapitel relativ ergebnisoffen bleiben. Zwar ist der Band mit der Absicht veröffentlicht worden, die Position des Vf.s »besser und zugänglicher« zu präsentieren (5), diese bleibt jedoch unkonturiert. Dabei ist nicht zu bestreiten, dass der Vf. einer deontologischen Denkrichtung folgt, die sich für die Idee eines inneren Gesetzgebers und Richters einsetzt. Insbesondere formal wäre es indes hilfreich, diese Richtung (oder lediglich das Erreichte) in Einleitungen und Schlussfolgerungen aufzuweisen und zusammenzufassen. In jedem Fall lohnt es sich, den Wegen der moraltheoretischen Argumentationen nachzugehen. Der Vf. überredet nicht, sondern regt zum Mitdenken an.