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Ausgabe:

Mai/2010

Spalte:

601-604

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Frieß, Michael

Titel/Untertitel:

»Komm süßer Tod« – Europa auf dem Weg zur Euthanasie? Zur theologischen Akzeptanz von assistiertem Suizid und aktiver Sterbehilfe.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2008. 258 S. gr.8° = Forum Systematik, 32. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-17-020563-5.

Rezensent:

Christian Polke

An Fragen von Leben und Tod spalten sich die Geister. Das ist nicht immer falsch, zeigt es doch immerhin an, dass die Tragweite mancher Entscheidungen ermessen wird. Um kaum eine andere Frage in diesem Zusammenhang ist in Deutschland in den letzten Jahren so gerungen worden wie um den rechtlichen Spielraum, der Pa­tientenverfügungen zugestanden werden soll. Seit dem 1. September 2009 gilt nun eine weitreichende Regelung, deren Befürworter stets den Wert der individuellen Selbstbestimmung, auch und gerade am Lebensende, in den Vordergrund rückten. Insofern hat sich einiges von dem, was der Theologe Michael Frieß in seiner Untersuchung zum assistierten Suidzid und zur aktiven Sterbehilfe vom bundesdeutschen Gesetzgeber einfordert, erfüllt; aber bei Weitem nicht alles.
Im ersten der sechs Kapitel seiner Dissertationsschrift geht F. zunächst auf die Komplikationen ein, die sich insbesondere in Deutschland in den Debatten um die Sterbehilfe durch den Konnex zu den sog. Euthanasieprogrammen der Nationalsozialisten ergeben (17–32). Er fordert zu Recht, diese beiden Diskussionen wohlfeil auseinanderzuhalten. Denn diese Verbrechen der Nazis waren – wie so vieles andere – schlicht staatlich organisierter Massenmord (vgl. 31 f.). Das zweite Kapitel (33–63) bietet eine ebenso knappe wie präzise Zusammenfassung der verschiedenen Definitionen und Differenzierungen der Arten von Sterbehilfe. Daran schließt sich ein informativer Überblick über die Rechtslage im europäischen Kontext an. Besprochen werden neben Deutschland (68 ff.) auch die gesetzlichen Bestimmungen in den Niederlanden (95 ff.), der Schweiz (88 ff.) sowie in Belgien (109 f.). Die restlichen drei Kapitel dienen der theologischen und ethischen Grundlagendiskussion. Untersucht werden die kirchlichen Stellungnahmen zur ak­tuellen Diskussion (111–135), sodann die biblischen und theologiegeschichtlichen Hintergründe des Tötungsverbots (137–193), und ab­schließend erfolgt eine Analyse der Rede von Gott als Herrn über Leben und Tod (195–226).
Insgesamt hat F., der seine Arbeit unter den Titel eines Bachchorals (»Komm süßer Tod«; BWV 478) gestellt hat, ein emphatisches Plädoyer für die »Freiheit eines Christenmenschen« als Recht auf Selbstbestimmung bis zuletzt vorgelegt. Das zeugt von Mut. Denn in der Auseinandersetzung mit kirchlichen Stellungnahmen, etwa der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz, zu den Fragen des assistierten Suizids und der aktiven Sterbehilfe spart F. selbst nicht an Kritik. Zum einen geht es ihm darum, die scheinbar stringente Ablehnung der Sterbehilfe durch die beiden großen Kirchen in Deutschland infrage zu stellen (vgl. 111 f.); zum anderen will er durch den Verweis auf anders gelagerte Einstellungen, z. B. der reformierten Kirchen in den Niederlanden oder der anglikanischen Kirche in England, das Argument entkräften, beim kategorischen Nein würde es sich schlicht um allgemeinchristliches Gedankengut handeln (vgl. 127–135). So sehr die einzelnen Argumentationen manchen überzeugen mögen, der Rezensent bleibt vorsichtig kritisch.
Gewiss ist insbesondere in der Frage des assistierten Suizids pastorale Sensibilität ebenso gefragt wie moraltheologische Klugheit. Aber eine generelle Zulassung vonseiten des Rechts ethisch zu fordern (vgl. 87), kann nicht ohne prinzipielle Überlegungen zur ethischen Aufgabe des Rechts und der Frage von Einzelfallbeurteilungen erfolgen. Hierin liegt ein erstes, rechtsethisches Manko dieser Studie. So einfach, wie F. die Dinge beschreibt, liegen sie eben nicht. Viel zu schnell reduziert er die Problematik auf das generelle Verhältnis von Individuum und Gesetzgeber (vgl. 65 ff.). Gesellschaftliche Machtverhältnisse wie Eigendynamiken, etwa von klinischen Organisationsstrukturen, werden gänzlich ausgespart. Dafür je ein Beispiel.
Zum ersten: Wenn F. argumentiert, dass das unveräußerliche Gut des Lebens, dessen generellen Schutz die Verfassung nach Art. 2 GG dem Gesetzgeber auferlegt hat, nie ohne den Willen des individuellen Rechtsträgers zu denken ist, dann ist das prinzipiell richtig. Aber das meint verfassungstheoretisch keineswegs, dass dem Selbstbestimmungsrecht des Rechtsträgers, konkret: seinem Wil­len, stets Vorrang eingeräumt werden müsste. Gerade weil Grundrechte mehr als Abwehrrechte sind, ihnen ein objektives Schutzgut mit Ausstrahlungswirkung in alle Bereiche der Gesetzgebung inhäriert, hat der Staat sehr wohl zu bedenken, was F. offenbar völlig absurd erscheint, dass nämlich »ein gesellschaftlicher Druck auf alte und kranke Menschen entstehen könnte, sich töten zu lassen« (79).
Daran schließt sich zum zweiten ein weiterer Schwachpunkt in der Argumentation unmittelbar an. F. meint nämlich, das gerade erwähnte Argument (des sozialen Drucks) würde nur dann greifen, wenn in gleicher Konsequenz wie für die aktive Sterbehilfe dies für den assistierten Suizid nachgewiesen werden könne (vgl. ebd.). Hier wird auf einmal ein Konsequentialismus ohne gesellschaftliche Kontextbetrachtung zum Kern moralischer Urteilsbildung. Das aber ist schlicht abwegig. Denn unterschiedliche Normalsituationen von Konfliktfällen können sehr wohl unterschiedliche rechtliche Handhabungen verlangen. Assistierter Suizid dürfte jedenfalls kaum der Regelfall in Großkliniken werden, schon eher aber könnte eine rechtlich großzügige Regelung in Sachen legaler Sterbehilfe den Druck auf Patienten erhöhen. F. weiß sehr genau um diese Zusammenhänge, wie eine kleine Bemerkung über George W. Bush verrät. Dieser hatte offenbar im Falle Terri Schiavo als Gouverneur noch deutlich andere Vorstellungen als später als Präsident. In Texas jedenfalls war er durchaus für einen großzügigeren Behandlungsabbruch bei Moribunden im Falle, dass die Kosten nicht selbst vom Patienten und seinen Angehörigen getragen werden konnten (vgl. 51). Einmal mehr zeigt sich hier der dringende Bedarf an stärker topisch verfahrenden Herangehensweisen in der Medizinethik.
Den zentralen Gedanken, der zur theologischen Beweisführung überleiten soll, die sich dann allerdings häufig auf theologiegeschichtliche Anmerkungen beschränkt, bildet die Frage, ob es ein absolutes Tabu von Fremdtötung in der Geschichte des Christentums je gegeben hat; und wenn nicht, was dies für die Frage des Suizids austrägt. So jedenfalls müssen die Argumentationsgänge erklärt werden, in denen wir allerlei Wissenswertes aus Bibel und kirchlicher Tradition zu diesen Fragen erfahren; aber auch von Vernachlässigbarem nicht verschont bleiben, wie der zweimaligen Er­wähnung einer nun wirklich selbst schwachsinnigen Äußerung Luthers über die Erlaubnis zur Tötung eines schwachsinnigen Zwölfjährigen (vgl. 113.182). Aus der Sicht einer theologischen Ethik fehlt es dieser Studie im Ganzen an einer ethisch-theologischen Auseinandersetzung mit exemplarisch entgegengesetzten Positionen und der Entwicklung einer eigenen Sicht.
Theoriegeschichte allein hilft hier nicht weiter. Die gesellschaftsvertragliche Antwort (vgl. 188 ff.), die F. selbst – unter Rekurs auf ein Modell von Wolfgang Kersting – vorschwebt, bleibt im Abstrakten. »Aus der Reflexion der eigenen Biographie einigen sich die Mitglieder der in diesem Gedankenexperiment gedachten Versammlung auf vertraglich gesicherte Schutzmaßnahmen für das Leben, die Selbstbestimmung und die Würde jedes Menschen« (190). Im Wissen um die Bedürftigkeit am Lebensanfang wie am Lebensende soll im Vorhinein durch rationale Überlegung austariert werden können, wie weit Fürsorgemaßnahmen im Ernstfall greifen sollen bzw. Schutzmaßnahmen ergriffen werden müssen und wo dem eigenen Selbstbestimmungsrecht der Vortritt gelassen werden muss. Abgesehen davon, ob hiermit wirklich den Einsichten der protestantischen Rechtfertigungstheologie in die bleibende Ab­hängigkeit des Menschen von Gott entsprochen wird (bezeichnend ist, dass F. das nur für den Lebensanfang explizit erwähnt; vgl. 192), darf doch bezweifelt werden, inwieweit damit die notwendige Situationsgemäßheit ethischer Fälle überhaupt in den Blick kommen kann. Gerade in Fragen von Krankheit und Tod kann das individuelle Subjekt seine eigenen Präferenzen aufgrund mangelnder Erfahrungsnähe mitunter kaum aus zeitlicher Entfernung und vom Standpunkt des Gesunden aus definitiv einschätzen. Darin liegen die sehr engen Grenzen dieses Vorschlages.
Von einem klaren Autonomiebegriff aus würde sich schließlich auch der Übergang zum letzten Kapitel leichter gestalten. Dort wird die Frage gestellt, wer eigentlich Herr über Leben und Tod ist. Was man dann jedoch zu lesen bekommt, stellt teilweise ein Kuriositätenkabinett der Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte dar.
So weiß F. einiges über die Blitzableitertheologie der Frühaufklärung (vgl. 201–211) und die lebensweltliche Verankerung des Vorsehungsglaubens zu berichten. Dies alles mündet dann in ein Plädoyer für einen »begleitenden Deismus« (217 ff.) der Liebe in Situationen des Leidens, der Krankheit und des Sterbens. Mit diesem religiös-spirituellen Unterpfand wird schließlich erneut in relativ rabiater Weise für ein Selbstbestimmungsrecht des freien, endlichen Subjekts jenseits supranaturaler Herrschergrößen, seien sie nun immanent oder transzendent, votiert: »Weder Staat noch Gott begrenzen einen zurechnungsfähigen Menschen bei Entscheidungen, die den Zeitpunkt des eigenen Tod betreffen.« (231) Statt »Heiligkeit des Lebens an sich« gilt nunmehr die »Qualität des eigenen Lebens« (ebd.) als heranzuziehendes Kriterium. Dass diese Qualität mitunter in der schlichten Tatsache des »Lebens als Gabe« (T. Parsons) verankert sein könnte, scheint F. zu entgehen. Sonst wären ihm die reduktionistischen Tendenzen seiner Ausführungen mit Blick auf den Gedanken der Selbstbestimmung ebenso aufgefallen, wie die resignative Einschätzung der europäischen Rechtslage zu Suizid und Euthanasie zum Schluss entfallen wäre.
So sehr ich mit F. im Wunsch nach einer Revision mancher Positionen in Ethik und Theologie zu Sterbehilfe und Suizid übereinstimme, so skeptisch bleibe ich gegenwärtig – jenseits möglicher Einzelfallentscheidungen – hinsichtlich der rechtlichen Bestimmungen. Wie dem auch sei: Weder Sterben noch Tod erscheinen an sich »süß«, und selbstbestimmtes Sterben ist kein modernes Äquivalent für den »guten Tod«, um den die Alten baten. Bach wusste darum, sein Choral geht mit den Worten weiter: »… drum bin ich jederzeit / schon zum Valet bereit ... Ich will nun Jesus sehen/und bei den Engeln stehen ...«. Das ist keine Forderung, sondern ein Gebet.