Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2010

Spalte:

594-596

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Lotz, Carsten

Titel/Untertitel:

Zwischen Glauben und Vernunft. Letztbegründungsstrategien in der Auseinandersetzung mit Emmanuel Levinas und Jacques Derrida.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2008. 430 S. gr.8° = Studien zu Judentum und Christentum. Kart. EUR 44,00. ISBN 978-3-506-76433-1.

Rezensent:

Philipp Stoellger

In seiner Tübinger Dissertation entwickelt Carsten Lotz eine kritische Erwiderung auf aktuelle katholische Fundamentaltheologien, die Theologie im Zeichen einer Letztbegründung im autonomen Subjekt konzipieren. Das wird exemplifiziert an den Entwürfen von Thomas Pröpper (51 ff.), Hansjürgen Verweyen (69 ff.) und Klaus Müller (96 ff.). Wenn Offenbarung als definitiv behauptet und erwiesen werden solle, erfordere das einen »unhintergehbaren Be­griff letztgültigen Sinns« und eine prima philosophia, die diesen Anspruch letztbegründen können müsse (53). Pröpper konzipiert das ausgehend vom Begriff der Freiheit (mit H. Krings Transzen­dentaler Logik). – Verweyens Fundamentaltheologie rekonstruiert L. unter dem Titel »Das Bild-Werden des Cogito« (anhand der dritten Auflage von »Gottes letztes Wort«, 69 ff.72 ff.). Von der Selbstgewissheit des Ich aus (trotz widersprüchlicher Verfassung der Vernunft) denkt er die Einheit »nur in Differenz« (76). Das Ich wird als »Bild des Absoluten« begriffen (89, mit Fichte), wobei dieses Bild-Werden ikonoklastisch gewendet zum »Bild-Zerbrechen« werde (90) – letztlich als »gegenseitige[s] Zum-Bild-Werden freier Wesen« (91). Wie das Verhältnis von Absolutem und seinem Bild zu begreifen sei, bleibt symptomatisch metaphorisch (94 ff.).
Klaus Müller schließlich konzipiert die Letztbegründung der Theologie aus der »Unhintergehbarkeit von Selbstbewußtsein« (96 ff.), aus dem ein infallibler Begriff letztgültigen Sinns zu gewinnen sei (97).
Diesen Entwürfen gegenüber rekurriert L. auf die »Radikalisierungen philosophischer Rede« bei Levinas und Derrida (145–248). In deren Philosophien zeige sich die »Notwendigkeit, Freiheit, Cogito und Selbstbewusstsein zu hintergehen« (145 ff.). Die Metaethik führt »an-archisch« hinter die Egologie zurück – in eine grundsätzlich andere »Grammatik« der Philosophie und daher einer entsprechenden Theologie. Die Frage ist, ob über die Kritik an den neu­idea­listischen Entwürfen hinaus sich Perspektive und Horizont und damit das gesamte Wie und Worumwillen von Theologie verschiebt, wenn man mit Levinas und Derrida theologisch zu denken und zu sprechen sucht. Wenn das Bewusstsein nicht als Selbstbewusstsein oder Selbstvertrautheit verständlich wird, sondern mit Levinas als ein Wachen (159) bzw. Schlaflosigkeit – wird dann noch auf die Frage geantwortet, auf die die Egologie etwa Fichtes eine Antwort zu geben suchte? Statt um Letztbegründung (oder -erklärung) geht es um eine darauf irreduzible Alternative, eine Wendung des Denkens weg vom Begründungs- und Ursprungsdenken in eine Form »messianischen« Denkens vom Anderen her und auf Anderes hin. Das zeigt sich u. a. am Beispiel des Sprachdenkens: Das ist bei Levinas nicht nur eine Version des »linguistic turn«, sondern es wird zur Verwindung der Transzendentaltheorie. Mit Derridas Studie »Gewalt und Metaphysik« (164 ff.) zeigt L., wie von Husserl aus über die transzendentaltheoretische Tradition hinausgedacht wird – im Zeichen von Negation und Paradoxierung (die den Transzendentaltheoretikern wohl oder übel nur als undenkbar und unmöglich erscheinen kann – und soll, 166). Unendlichkeit und Alterität sind nicht vom Subjekt aus zu konzipieren, sondern kommen ihm zuvor und entgegen. Und anders sei Andersheit gar nicht denkbar. Im Grunde regiert hier die (selber problematische) Alternative von Egologie und Alterologie bzw. von parmenideischer Identitätsphilosophie und Differenztheorie. Daher rekurriert L. zur Entfaltung auch auf Derridas différance (Die Stimme und das Phänomen, 172 ff.).
Die damit thematische Zeitlichkeit der Zeichen (des Denkens und Sprechens) entfaltet L. anhand der »Aporien des Diskurses« von Tod und Zeit (177 ff.). Der Tod als Äußerstes des Zeitdenkens zeigt sich als Unmöglichkeit des Denkens wie der Möglichkeiten des Subjekts. Damit wird er zum movens, den Horizont der letztlich transzendental grundierten Philosophie (noch Heideggers) zu über­schreiten (181 ff.). »Der Tod ist in diesem Sinne die Grenze des Idealismus«, wird Levinas von L. zitiert (182, Die Zeit und der Andere, 44). Hier wird die Philosophie der Immanenz gebrochen und zu einer der Transzendenz übergegangen (oder gesprungen) – was von L. kritisch fragend zu verstehen gesucht wird, ohne die gravierenden hermeneutischen Probleme dabei zu verschweigen (190 f., vgl. 195 f.).
An die Stelle der Letztbegründung als allein rationaler Konstruktion tritt in Überschreitung der Destruktion Heideggers die Dekonstruktion, in der die Bedingungen der Möglichkeit zu solchen der Unmöglichkeit werden, etwa zur Unmöglichkeit, den Anderen und den Tod zu denken (211 ff.), oder die Gabe jenseits des Horizonts der Ökonomie (213 ff.).
Um diese Entwicklung des Denkens zu verstehen, reflektiert L. die »Sprachformen« (218 ff., anhand von Levinas, Sprache und Nähe, sowie Jenseits des Seins). Hier vermeidet er die naheliegende Integration in die Tradition negativer Theologie und zeigt, wie die »via eminentiae« näherliegt, um die Übersteigerung der Begriffe bis in ihr Zerbersten zu verstehen (223). Das führt er weiter in die metaphorologischen Beiträge Derridas (226 ff.239 ff.), was zur These führt, wenn die Philosophie »ihr Eigenstes bewahren« wolle, könne sie »nicht auf die Metapher verzichten« (247; aber geht es darum, das Eigenste zu bewahren, und ist die Metapher ein Mittel zu diesem Zweck?). Von daher erscheint die Metaphorizität der Letztbegründungsentwürfe Pröppers, Müllers und Verweyens nicht mehr als Mangel, sondern als Symptom der inneren Grenze der Philosophie. Statt das weiter auszuführen, verschiebt sich der Blick L.s auf die Fragen von »Glauben und Vernunft«, denen er anhand von »Fides et ratio« und »Dei Filius« nachgeht.
»Glauben zu wissen« ist der folgende Teil zur Klärung der »Lehramtlichen Grenzen von Glauben und Vernunft« überschrieben (249–283). Im Wesentlichen zeigt L. einleuchtend, wie im Lichte dieser Tradition des Lehramts Letztbegründungsansprüche zu erheben weder notwendig noch wünschenswert ist. Denn das mysterium fidei sei nur via negationis und eminentiae zu begreifen und zu sagen (281 f.). »Wer die Geschichtlichkeit des Offenbarungsgeschehens betont, muß auch die Geschichtlichkeit der Vernunft akzeptieren. Letzte Begriffe fallen dann aus« (283).
Nach dieser (selbst sc. faktizitären, nicht-notwendigen und da­her kontingenten, aber nicht beliebigen) Klärung der lehramtlichen Entscheidungen wendet sich L. den »Perspektiven biblischer Gottesrede« zu (285–338). Statt Offenbarung auf ihren kognitiven Gehalt und dessen Begründung zu reduzieren, gehe Offenbarung nicht restlos in Vernunft auf, sondern als Ereignis der Nähe Gottes trage sie Züge der Appräsentation und Fremdheit (286). Daher erörtert L. den »Vorüberzug des barmherzigen und gerechten Gottes am Sinai« (285 ff.), »Bleibende Ambivalenzen« der Rezeptionen der Gnadenrede (302 ff.), den »Rest Israels und das Geheimnis Gottes im Römerbrief« (316 ff.), um im »Nachträglichen Erkennen im Johannesevangelium« (327 ff.) zu enden: »Wenn man also von einer ›Phänomenalität‹ der Offenbarung sprechen will, so wird man im Johannesevangelium wie auch in Ex 33–34 auf das phänomenologische ›als‹ und die erkenntnistheoretische Verspätung zurückgeworfen« (338) – eine Verspätung, die uneinholbar »diachron« zu nennen ist und auch von einer transzendentaltheoretischen Re­flexion nicht einzuholen sein wird. Diese konstitutive Verspätung noch zu begreifen vermag L. in einer Weise, die den Letztbegründungstheoretikern unzugänglich zu bleiben scheint.
»Statt einer Zusammenfassung« bietet der Schlussteil Reflexionen auf »Grenzen und Bedingungen theologischer Rede in verdichteter Form« (339–393). Hier tritt L. nochmals in die Auseinandersetzung mit seinen katholischen Gegnern ein, näherhin mit Magnus Striet (Offenbares Geheimnis. Zur Kritik der negativen Theologie, 2003), der analoge Rede für philosophisch unzureichend, biblisch unangemessen und gegenwärtig für den Glauben bedrohlich hält. Stattdessen sei von einem Gott und Mensch univok prädizierbaren Freiheitsbegriff aus zu denken (339 f., statt »Geheimnis«; E. Jüngel oder G. Bader und die folgenden Diskussionen werden hier leider nicht thematisch). Gegen Striets Reduktion des Gottesgedankens auf das ens necessarium rehabilitiert L. (in seiner Tradition zu erwarten) mit Przywara den Analogiebegriff (363 ff., auch hier wären protestantische Diskussionen weiterführend), um schließlich mit Rahner »Das Geheimnis der Geheimnisse« (366 ff.) als Horizont ungegenständlicher Erfahrung (368) zu verstehen, als nicht im Begriff aufzuhebendes Geheimnis. Hier tritt der »Name (über alle Namen)« (368 ff.) in die Position der Alternative zum Begriffsdenken (Bader, Askani, Assel et al. wären hier hilfreich). Levinas und Derrida behalten das (vor)letzte Wort, um schließlich auf Dionysius’ Sprache des Gebets zu verweisen (389 ff.).
Damit sind noch viele Fragen offen. Aber L. hat auf die Ansprü­­che valabler Letztbegründungstheologien plausibel und prägnant Antwort gegeben – um eine andere Möglichkeit von Theo­logie zu zeigen, die sonst nur zu leicht als »unmöglich« negiert würde. In dieser Unmöglichkeit eine neue Möglichkeiten eröffnende Form des Sprachdenkens zu gewärtigen, ist ein erhebliches Verdienst. Dass dabei der Seitenblick auf die Nachbarkonfession zu kurz kommt, ist bedauerlich. Hätte er doch das Gespräch sicher weitergeführt. Gleichwohl zeigt sich hier eine gravierende Differenz im Diskurs der römisch-katholischen Theologie der Gegenwart, der protestantischerseits mit Gewinn zur Kenntnis zu nehmen ist.