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Ausgabe:

Mai/2010

Spalte:

590-592

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Deuser, Hermann

Titel/Untertitel:

Religionsphilosophie.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2009. XVI, 557 S. 8° = de Gruyter Lehrbuch. Kart. EUR 29,95. ISBN 978-3-11-016189-2.

Rezensent:

Friedo Ricken

Ein Lehrbuch der Religionsphilosophie, so fordert Deuser, müsse in der gegenwärtigen Situation dem wachsenden Interesse an den Weltreligionen und an den wissenschaftlich motivierten Weltbildern gerecht werden. Er entscheidet sich deshalb für eine Verbindung von geschichtlicher und systematischer Darstellung. Die beiden geschichtlichen Teile behandeln die biblische, antike und scholastische Tradition vom Deuteronomium und von den Vorsokratikern bis zu Ockham (Teil I) und die reformatorische und neuzeitliche Tradition von Luther bis Jonathan Edwards (Teil II). Dagegen sollen in den Teilen III bis V »wissenschaftstheoretische, kosmologische und metaphysische Argumentationen vorherrschen« (XV). Der systematische Hintergrund des Werkes ist zusammengefasst in Teil V, der inspiriert ist von Ch. S. Peirce’s »Neglected Argument for the Reality of God«.
Religionen können zunächst »als Bearbeitungs- und Ausdrucksformen von elementaren menschlichen Lebenswirklichkeiten aufgefasst werden: von der Geburt über Leiblichkeit, Sozialität und Sprache bis zu den Grenzen des Lebens (1). Religionsphilosophie beruht auf der Fähigkeit zur kritischen Distanz gegenüber der etablierten Religion. Von der Religionswissenschaft unterscheidet sie sich durch die Perspektive. Die Religionswissenschaft beschreibt die Religion in methodischer Distanz und macht sich die Vergleichbarkeit der Religionen zum Prinzip; sie kann die Innenperspektive religiöser Erfahrung und der Absolutheit des religiösen Glaubens nur als subjektive und letztlich illusionäre Zutat einordnen. Genau diese Innenperspektive ist Gegenstand der Religionsphilosophie. Ihre Aufgabe ist es, die subjektive Leistungsfähigkeit der religiösen Überzeugung objektiv auszuwerten und nach deren Wahrheit zu fragen. Die Aufgabe der Religionsphilosophie heute sei es, einen Weg zu suchen, wie man die Absolutheit der eigenen Überzeugung wahren und zugleich diese Absolutheit in anderen Religionen anerkennen kann. D. sieht ihn im Vergleich der unterschiedlichen Religionen anhand von betont und systematisch vagen Grundbegriffen, z. B. »Human Condition, Ultimate Realities und Religious Truth« (12). Der Vergleich würde zeigen, wie die verschiedenen Religionen diese vagen Grundbegriffe differenzieren, und er würde auf diese Weise zu einem vertieften Verständnis der eigenen Religion beitragen.
Die Methode, mit der Teil I und II arbeiten, ist die Interpretation exemplarischer Texte. D. sieht keinen Grund, »die offensichtlichen Unterschiede zwischen Athen und Jerusalem zu einer prinzipiellen Trennung zu stilisieren« (67). Mit dem Humanismus und der Reformation steigert sich die Intensität der Suche nach der Gewissheit des religiösen Glaubens. Die Gewichte von Glauben und Vernunft werden neu verteilt: Es ist vernünftig zu glauben, aber der Glaube ist als solcher nicht für die Vernunft erschließbar. Die Autorität der Vernunft wird relativiert, und der Erfahrungsbegriff, den der Nominalismus zum entscheidenden Wahrheitskriterium er­hoben hatte, gewinnt eine zweifache Stoßrichtung. Erfahrung ist der Ausgangspunkt der induktiven Naturwissenschaften; zugleich übernimmt die existentielle Selbst-Erfahrung anstelle der überkommenen Autoritäten die Aufgabe der Lebensorientierung. Entsprechend verliert die philosophische Begründung der Existenz Gottes an Bedeutung, weil der neue Begriff der empirischen Erfahrung dafür nicht ausreicht und die existentielle Erfahrung den theo­retischen Beweis nicht braucht. Die epistemologische Folgerung aus Luthers Lehre von der Rechtfertigung, die alles ausschließlich der Gnade Gottes zuschreibt, ist das Verständnis des Glaubens als »rezeptive Gewissheit« (176). Im Gegensatz zu Descartes’ Cogito hat Luther die fundierende Erkenntnisgewissheit als »nicht-rationale Gegenstandsvertrautheit« entdeckt. Sie schließt rationale Erkenntnis keineswegs aus, fundiert aber Welt- und Selbsterfahrung »nicht primär im konstruktiven Denken, sondern im rezeptiven Vertrautsein – eben des religiösen Glaubens« (178). Teil II schließt mit einem Kapitel über den calvinistischen Theologen Jonathan Edwards, mit dem die Religionsphilosophie des amerikanischen Pragmatismus beginnt. Edwards sucht eine Lösung der Aporie, die sich aus Calvins Lehre von der doppelten Prädestination ergibt: Ich weiß nicht, ob ich zum Heil oder zur Verdammnis prädestiniert bin, und doch ist diese Frage für meine Lebensgestaltung von entscheidender Bedeutung. In seiner Analyse der »Religious Affections« fragt Edwards nach den « Zeichen« der wahren Religiosität; die von der Gnade Gottes geschenkte neue Disposition des Herzens und des Willens muss auch im Natürlichen erkennbar sein.
Gegenstand von Teil III ist die Innenperspektive der Religion; es geht um das Verhältnis von Unmittelbarkeit und Unbedingtheit. Der erste Abschnitt (§ 10 »Gefühlsqualität«) kreist um das Problem von Unmittelbarkeit und Vermittlung: Ist die erste Evidenz des Wissens ein Glaube oder die Selbstgewissheit des Wissens? Ist ein unmittelbares Selbstbewusstein möglich, oder ist es ein innerer Widerspruch? Unmittelbarkeit und Vermittlung brauchen nicht als ausschließende Alternativen zu gelten, »sondern sie können perspektivisch als ständig miteinander korrespondierend verstanden werden« (264). § 11 »Wahrnehmungsaugenblick« fragt nach der Einheit von Wahrnehmen und Wahrgenommenen und von Rezeptivität und Aktivität in der Wahrnehmung. Mystik (§ 12) ist ein Wissen von dem, was vor der differenzierenden Vermittlungsleis­tung des Verstandes liegt und das die folgenden Darstellungen von diesem Vorausliegenden, Ersten abhängig sein lässt. Bei Meister Eckhart geht es um den unbestimmbaren Einheitsgrund, der allem vorausliegt; William James nimmt den Wahrheitsanspruch mystischer Erfahrungen ernst. Das Paradox der Negativen Theologie fasst Franz Rosenzweig in den Satz: »Von Gott wissen wir nichts. Aber dieses Nichtwissen ist Nichtwissen von Gott« (328). – Die Aufgabe der Religion, so lassen sich diese Analysen zusam­menfassen, besteht darin, »kreativ Unbedingtes zum Ausdruck zu bringen« (341).
Teil IV »Das Relative: Explikationen von Religiosität« befasst sich mit den Disziplinen, welche die Religion aus der Außenperspektive betrachten. Für die Religionspsychologie steht William James, »Die Vielfalt der religiösen Erfahrung«. Programmatisch für die Religionssoziologie ist die Aussage von Niklas Luhmann: »Über Moral und Religion schafft die Gesellschaft sich selbst als diejenige Transzendenz, die der in seiner Faktizität umstrittene Gott nicht mehr bieten kann« (364 f.). Die Religionsgeschichte relativiert den Anspruch der Religion, indem sie deren historische Genese zeigt.
Der abschließende Teil V orientiert sich an den drei Schritten des »Neglected Argument«. 1. Abduktion: In einem meditativen Pro­zess wird die Gotteshypothese durch eine religiöse Wahrnehmung erfasst. 2. Induktion: Sie wird verstärkt durch das kosmologische Staunen und die teleologischen Befunde. 3. Deduktion: An­selms ontologisches Argument dient dazu, die Erkenntnisse der beiden ersten Schritte in einen adäquaten Begriff zu fassen: Wenn Gott gedacht werden soll, dann kann er nur gedacht werden als das notwendige Seiende, dessen Nichtsein widersprüchlich ist.
Das Anliegen des Buches kommt in zwei Begriffen im Titel von Teil V zum Ausdruck: »Erfahrung« und »Symbolisierung«. D. versucht, Luthers Begriff des Glaubens als rezeptive Gewissheit mit der Epistemologie und Kategorienlehre von Peirce zu verbinden; im Mittelpunkt steht der Begriff der religiösen Erfahrung. – Zentrale Begriffe der jüdisch-christlichen Religion sind Wort und Offenbarung. Wo hätten sie in diesem Ansatz ihren Platz? Wird man ihrem Anspruch und ihrer Bedeutung gerecht, wenn man sie ausschließlich als Symbolisierung von Erfahrungen versteht? – Auf der hinteren Umschlagseite heißt es: »Dieses Lehrbuch orientiert die Studierenden durch eine präzise Darstellung der verschiedenen Ansätze«. Dem kann ich leider nur eingeschränkt zustimmen; es gilt allenfalls für die Teile I und II. Die Teile III bis V sind ein äußerst anspruchsvoller systematischer Entwurf auf der Grundlage der Philosophie von Ch. S. Peirce. Sie bringen eine Fülle von Theorien, Beobachtungen, Unterscheidungen und Zusammenhängen zum Begriff der religiösen Erfahrung. Das bedingt, dass vieles nur angedeutet ist. Mit dem systematischen Teil des Buches werden Studierende sich sehr schwertun.