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Ausgabe:

Mai/2010

Spalte:

585-586

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Neugebauer-Wölk, Monika [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Konfrontation. Hrsg. unter Mitarbeit v. A. Rudolph.

Verlag:

Tübingen: Niemeyer (de Gruyter Imprint) 2008. VI, 518 S. m. Abb. gr.8° = Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 37. Kart. EUR 124,95. ISBN 978-3-484-81037-2.

Rezensent:

Werner Thiede

Der umfangreiche Band dokumentiert ein Symposion an der Universität Halle vom März 2006. Zugleich schließt er an die Resultate einer analogen Jahrestagung von 1997 an, deren Beiträge von derselben Herausgeberin unter demselben Haupttitel 1999 in einem anderen Verlag präsentiert worden waren.
Dass erst der letzte der insgesamt 17 Aufsätze den Titelbegriff »Esoterik« überhaupt zu definieren sucht (Michael Bergunder: »Was ist Esoterik? Religionswissenschaftliche Überlegungen zum Ge­genstand der Esoterikforschung«, 477–507), ist allenfalls unter der Prämisse verständlich, dass es sich bei all diesen Beiträgen um rein religionswissenschaftliche Bemühungen unter fast völligem Ausschluss von theologischer Wahrnehmung und Diskussion handelt. »Esoterikforschung« hat sich insofern als »eigene Disziplin« (490) in einem doch zu wenig interdisziplinären Sinn »etabliert«! So ist es bezeichnend, dass neuere und neueste wissenschaftliche Arbeiten von Theologen zum selben Forschungsgegenstand (namentlich einstiger oder gegenwärtiger Experten aus der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen [EZW] wie Hans-Jürgen Rup­pert, Matthias Pöhlmann und der Rezensent) fast durchweg ignoriert wurden. Das betrifft nicht zuletzt die Studie »Theologie und Esoterik« (ThLZ Forum Bd. 20), die – im Frühjahr 2007 erschienen – im Rahmen der Bearbeitung der Beiträge für den Druck, von der das Vorwort spricht, noch allemal hätte berücksichtigt werden können.
Bergunder definiert denn auch bezeichnenderweise auf der letzten Seite seines Aufsatzes »Esoterik« lediglich als »identifikatorischen Allgemeinbegriff in Form eines leeren Signifikanten« – um jedweden Verdacht irgendwelcher religiöser Implikationen fernzuhalten. Auf dieser verbreiteten religionswissenschaftlichen Linie hatte schon 1998 Christoph Bochinger gewarnt, der Versuch einer wissenschaftlichen Definition von »Esoterik« auf inhaltlichem Wege bewirke zwangsläufig die Festlegung auf einen bestimmten Aspekt aus der Bandbreite der möglichen Bedeutungen; von daher hatte er Esoterik rein formal »als einen eigenen soziologischen Typus moderner Religion« beschrieben (Informationes Theologiae Europae 7, 271–281). Angesichts solch merkwürdig blutleerer Bestimmungen, die der lebendigen Theorie und Praxis des Esoterischen in Vergangenheit und Gegenwart schwerlich gerecht werden, kann man es nur bedauern, dass Bergunder den einzig respektablen Definitionsversuch eines Religionswissenschaftlers, nämlich den Kocku von Stuckrads, in seinem Beitrag vorschnell verwirft. Von Stuckrad hatte die Bestimmungsmerkmale des »An­spruchs auf geheime oder höhere Weisheit« und des Vorhandenseins eines Weges dorthin verknüpft mit der Beobachtung, dass dieser Anspruch meist auf einem »ontologischen Monismus« be­ruht. Diese ins Schwarze treffende Beobachtung wird von Bergunder lediglich erwähnt, aber weder diskutiert noch in ihrem Ge­wicht gewürdigt. Warum wohl? Sie würde ja doch geradezu zwangsläufig einen (kritischen) Dialog mit der Theologie einschließen, denn »Monismus« impliziert bestimmte religiöse oder religionsphilosophische Grundannahmen, die Paradigmenkonflikte unvermeidlich und ebendeshalb auch theologisch zum Thema machen (sollten)! Der religionswissenschaftlich beliebte Weg, den Esoterik-Begriff möglichst inhaltlich unbestimmt zu lassen, ist indessen – es muss so deutlich gesagt werden – ein Irrweg.
Was die Beiträge des neuen Forschungsbandes dennoch inhaltlich zu einer respektablen Einheit verbindet, ist ihre Konzentration auf das Zeitalter der Aufklärung, also vor allem auf das 18. Jh. Diese Epoche ist schon deshalb von besonderem Interesse, weil hier die oft unterstellte Irrationalität esoterischen Denkens deutlich mit mündiger Vernunftbetontheit konfrontiert wird, ja in dialektische Beziehung zu ihr gesetzt werden muss. Als weiterer Grund kommt hinzu, dass bisherige Forschungsansätze just jenen Zeitraum vernachlässigt hatten.
In diesem Zusammenhang wird die überkommene, längst relativierte Säkularisierungsthese namentlich von der Herausgeberin dahingehend neu beleuchtet, dass sie nicht wie seit Max Weber auf das Gegenüber des Christentums, womöglich nur des Protestantismus Calvinscher Prägung bezogen wird, sondern in einem viel weiteren Ansatz auf Religion überhaupt. So hatte es zwar auch schon Thomas Luckmann angedacht, doch ihm wirft Neugebauer-Wölk vor, geschichtslos zu bleiben. Sie selbst macht – im Sinne des ganzen Bandes – deutlich, dass es just das Aufklärungszeitalter gewesen ist, das sich selber nur selten als areligiös erwiesen hat: Es setzte vielmehr »neue, erweiterte Grenzen der religiösen Selbstentfaltung« (26). Von daher wird erkennbar, dass »der Prozess der Säkularisierung in vielerlei Hinsicht einen gebrochenen Verlauf nimmt« (28). Solche differenzierte Interpretation ermöglicht die Zielperspektive des mit einem Personenregister versehenen Bandes: »Wir wollen wissen auf welcher Basis Esoterik sich zu einem Teilbereich moderner Kultur und Gesellschaft entwickeln konnte« (ebd.).
Unter den Einzeluntersuchungen – zwei sind in englischer Sprache abgefasst – ragen dank der Prominenz ihrer »Gegenstände« die von Martin Beetz über »Lessings vernünftige Palingenesie« und Friedemann Stengel über »Swedenborg als Rationalist« hervor. Beetz überrascht angenehm durch seine Eigenständigkeit angesichts einer bereits ausgiebig erfolgten Forschung zu Lessings Re­inkarnationsverständnis. Er arbeitet vor allem die Bezüge zu Leibniz überzeugend heraus. Stengel gelingt es, seinerseits deutlich zu machen, in welch beachtlichem Maße auch Swedenborg von Leibniz herkommt – um sich zum »Empiriker und Mystiker zugleich« (198) zu entwickeln: Der Beweis für seine »ganzheitliche universale Weltsicht war für ihn nur empirisch zu erbringen, durch den Eintritt in jene Welt ...« (199). So lassen sich Swedenborg und sein Antipode Kant beide geradezu als »Variante einer empiristisch akzentuierten Rationalismuskritik« betrachten. Dies umso mehr, als Swedenborg die esoterische Tradition vom Corpus Hermeticum bis hin zu Paracelsus und Böhme erstaunlich wenig rezipiert hatte!
Der Hermetik widmen sich in unterschiedlichen Ansätzen Hans-Georg Kemper, Kristine Hannak und Peter Hanns Reill, py­thagoreischen Einflüssen Hanns-Peter Neumann und Karin Hartbecke. Dass das Gewicht der Kabbalah nur in einem Beitrag von Allison Coudert näher beleuchtet wird, deutet auf eine gewisse Un­terbelichtung hin. Einige Aufsätze glänzen mit Fündlein, die lediglich hochgradige Spezialisten interessieren dürften. Insgesamt aber beeindruckt der Band durch die geschlossene Bemühung um Erhellung eines Aspekts von Aufklärung, dessen Exis­tenz bisher zwar meist unbestritten, aber doch in vieler Hinsicht im Abseits gründlicher Forschung liegen geblieben war. Ein dritter Forschungsgang unter demselben Titel wäre insofern begrüßenswert.