Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2010

Spalte:

582-584

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Dreesman, Ulrich

Titel/Untertitel:

Aufklärung der Religion. Die Religionstheologie Johann Joachim Spaldings.

Verlag:

Stuttgart: Kreuz 2008. 248 S. 8° = Praktische Theologie und Kultur, 20. Kart. EUR 36,95. ISBN 978-3-7831-3210-6.

Rezensent:

Christian Weidemann

Die geistesgeschichtliche Schlüsselstellung des Berliner Oberkonsistorialrats und Autors der »Bestimmung des Menschen« Johann Joachim Spalding (1714–1804) wird von älterer (K. Aner, E. Hirsch, W. Philipp) wie jüngerer Forschung (R. Brandt, N. Hinske u. viele andere) seit Langem anerkannt. Das Interesse an Spalding hat in den letzten Jahren, begünstigt durch die 2001 begonnene, von A. Beutel heraus­gegebene kritische Werkausgabe (SpKA), merklich zugenommen. Gleichwohl fehlte seit J. Schollmeiers Studie (Jo­hann Joachim Spalding. Ein Beitrag zur Theologie der Aufklärung) aus dem Jahre 1967 eine den gewachsenen Forschungsstand berück­sichtigende, Leben und wesentliche Positionen Spaldings kompakt zusammenfassende Einführung in das Denken des »Königs der Neologen«. Diese Lücke wird nun durch die klar und informativ geschriebene Dissertationsschrift von Ulrich Dreesman geschlossen.
Das Buch beginnt mit einer ausführlichen Einleitung, die zu­nächst unter den Überschriften »Aufklärung«, »Neologie« und »Religion« den aktuellen Forschungsstand rekapituliert und anschließend einen verlässlichen Überblick über Leben und Schriften Spaldings gibt. Zum Widerspruch mag hier – neben der allzu negativ (und recht kurz) ausgefallenen Würdigung des Vorgängerwerks von Schollmeier (27 f.) – reizen, dass D. die Neologie als eine »religiös-theologische Spielart der Empfindsamkeit« (19) versteht. Im weiteren Verlauf der Arbeit weiß D. jedoch die »Verflochtenheit in die Kultur der Empfindsamkeit« Spaldings – zumindest was die frühen Veröffentlichungen angeht – überzeugend zu untermauern.
Als »thematische Mitte« des Werks Spaldings hat D. dessen »Ar­beit am Religionsbegriff« ausgemacht. Ziel des Hauptteils der Mo­nographie sei es, Spaldings Beitrag zum aufklärerischen Dis­kurs über Religion »historisch auszuloten« und »systematisch zu rekonstruieren« (51–53). Dieses Vorhaben wird in drei Schritten angegangen.
Im ersten Teil (»Die individuelle Religion«) rekonstruiert D. die anthropologischen Voraussetzungen der Theologie Spaldings, insbesondere die Bestimmung des Menschen zu Moral und Religion und das Verhältnis beider zueinander. Dabei wird in instruktiver Weise der starke Einfluss des Freundschaftskults um Gleim sowie der britischen Moral-Sense-Theoretiker Shaftesbury und Hutcheson nachgezeichnet. Weitere Schwerpunkte der Darstellung sind Spaldings »Erfahrungsbeweis« für die Wahrheit des Glaubens sowie die Rolle des Gefühls innerhalb der Religion, hinsichtlich derer sich Spaldings Auffassung von Rationalismus wie Pietismus markant unterscheidet. Sehr nützlich ist auch der kompakte Überblick über Spaldings Behandlung klassischer Theologoumena (Sünde, Erlösung, Rechtfertigung u. a., 124–128).
Im zweiten Teil (»Die gesellschaftliche Religion«) steht Spaldings Konzeption des Verhältnisses von Staat, Kirche und bürgerlicher Gesellschaft im Mittelpunkt sowie sein homiletischer und pädagogischer Ansatz.
Der dritte Teil behandelt »Die Krise der Religion« Ende des 18. Jh.s, die D. vor allem mit dem Aufkommen der kantischen Transzendentalphilosophie verknüpft sieht. Das Buch bleibt hier leider deutlich hinter seinem ansonsten guten Niveau zurück. Dass die kri­tische Philosophie Kants für D. unsicheres Terrain darstellt, wird schnell augenfällig. So bemerkt D. nicht (199.202), dass, wenn Spalding sich in einem Brief an Kant aus dem Jahre 1788 für die Zu­sendung der »Metaphysik der Sitten« bedankt, er nicht die gleich­namige Schrift aus dem Jahre 1797 meinen kann, sondern nur die » Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« (1785) – ein Werk, das erst ein paar Seiten später als »Grundlegung der Metaphysik der Sitten« in einer Fußnote auftaucht (204). Die »Träume eines Geistersehers« und ihre Versendung an Spalding (über Mendelssohn) werden falsch datiert (1768 statt 1766; vgl. 198), der Unterschied zwischen regulativen Ideen und Postulaten scheint D. unbekannt zu sein (110 f.). Wirklich ärgerlich wird es, wenn die wechselseitige Wirkung der beiden Denker aufeinander im Sinne einer einseitigen Abhängigkeit Spaldings verzeichnet wird. Dass Spaldings Einfluss vor allem in Kants Religionsschrift mit Händen greifbar zu sein scheint, thematisiert D. nicht, Kants Lob des Predigers Spalding (»ist allen vorzuziehen«) bleibt unerwähnt. Selbst einen knappen Hinweis darauf, dass viele Grundüberzeugungen Kants – Religion als die »Erkenntniß all unserer Pflichten als göttlicher Gebote«, moralische Besserung als das einzige Mittel, Gott wohlgefällig zu werden, die Ablehnung von Erbsündentheorie und reformatorischer Gnadenlehre, die Bestimmung des Menschen zur Moralität und seine ihm daraus erwachsende Würde u. a. – sich lange zuvor bei Spalding finden, sucht man vergebens.
Zutreffend ist, dass Spalding durch das Aufkommen der kantischen Transzendentalphilosophie verunsichert war – insbesondere die Bestreitung des moralischen Gefühls als adäquater Grundlage der Ethik sowie die Kritik der theoretischen Gottesbeweise muss­ten ihm als Bedrohung der eigenen Position erscheinen. Leider jedoch vermag D. Spaldings Reaktion auf diese Herausforderung nur unzureichend zu erhellen. Die These etwa, Spalding habe in der letzten Auflage der »Bestimmung« (1794) bestimmte empfindsam-enthusiastische Abschnitte als »Konzession an die Vernunftkritik« gestrichen (202 f.), kann nicht überzeugen, fügt Spalding doch auch eine Passage ein (worauf D. selbst aufmerksam macht), in der das reflektierende Ich die von Kant kritisierten kosmologischen und physikotheologischen Argumente verteidigt. Gewagt ist auch D.s Behauptung, der Religion in Spaldings Alterswerk »Religion, eine Angelegenheit des Menschen« (1797) komme nur noch ein »rein funktionales Recht« zu; sie sei nunmehr bloße »Funktion menschlicher Tugendpraxis und Unterpfand humaner Glückseligkeit« (203). Daraus, dass Spalding in seinem letzten Buch die Frage nach Gründen für die Wahrheit des Glaubens ausdrücklich ausklammert, lässt sich jedoch keineswegs folgern, er glaube nicht (mehr) an das Vorhandensein solcher Gründe, geschweige denn, dass er ihr Nichtvorhandensein oder gar die etwaige Nicht-Exis­tenz Gottes für religiös belanglos hielte. Daher gibt es in dieser Hinsicht auch, anders als D. meint, keine Spannung zwischen Be­stimmungs- und Religionsschrift. Spalding fragt nicht nach dem Nutzen der Religion schlechthin, sondern nach dem Nutzen der Religion »auf den Fall ihrer Wahrheit« (von D. in Anm. 1064 selbst zitiert) – das unterscheidet ihn von modernen Funktionalis­ten wie H. Lübbe. Spaldings Alterswerk will das moralische Interesse vor Augen stellen, das wir an der Religion nehmen sollten, und wirbt bei den Skeptikern dafür, der Religion aufgrund ihrer praktischen Bedeutung einen größeren Kredit einzuräumen, als sie es tatsächlich tun. Es ist im Übrigen bezeichnend, dass D. das stärkste Argument für seine Funktionalismusthese gar nicht erwähnt: Spaldings (für einen Aufklärer in der Tat wenig rühmliche) Forderung nämlich, gewissenhafte Atheisten sollten darauf verzichten, ihren Unglauben öffentlich zu verbreiten, denn nur so könnten sie es vermeiden, zum »Verderber [der] höchsten Angelegenheiten« anderer Menschen (SpKA I/5, 107) zu werden.
Das Buch krankt aber noch an einem gewichtigeren, weil allgemeineren, Mangel: D. trägt der Tatsache, dass es sich bei Spalding nachgerade um das Paradebeispiel eines eklektischen Autors handelt, zu wenig Rechnung. »Alles zu prüfen und nur das Gute zu behalten, muß uns eine heilige unverletzliche Vorschrift bleiben«, lautet ein Leitspruch Spaldings, den D. ironischerweise auf den letzten Seiten seines Buches selbst zitiert (211). Trotzdem be­schränkt sich die Darstellung der für Spalding wichtigen Einflüsse im Wesentlichen auf die Freundschaft mit Gleim, die britischen Moralphilosophen Shaftesbury und Hutcheson sowie (in misslungener Weise) Kant. Ein Vergleich mit anderen Neologen (Sack, Jerusalem, Semler) unterbleibt weitgehend, die von Spalding rezipierten Schriften Rousseaus und Lockes werden nur höchst punktuell berücksichtigt, der merkliche Einfluss der Stoa, Pascals oder Mendelssohns wird gar nicht untersucht. Der von Spalding gepriesene Butler wird nur in einer einzigen Fußnote behandelt, die von ihm übersetzten Autoren Foster und Gastrell erscheinen gar lediglich dem Namen nach (im Falle James Fosters, den D. nur als »Joseph« (220) kennt, nicht einmal das). Den Spuren der Autoren, denen Spalding ablehnend gegenüberstand (Bayle, Hume, de La Mettrie, Voltaire u. a.), geht D. ebenso wenig nach. Lediglich Humes eher marginale Schrift »Of National Characters« findet Beachtung, da Spalding sie entgegen seiner sonstigen Gewohnheit explizit zitiert.
Natürlich ist eine gewisse Selbstbescheidung in der Darstellung legitim, ja nahezu unvermeidlich, das Ausmaß, in dem D. auf eine Kontextualisierung verzichtet, erstaunt gleichwohl – angesichts des selbstgesteckten Ziels einer »historischen Auslotung« der Position Spaldings. Dem Leser wird so nicht nur ein Verständnis der eklektischen Arbeitsweise Spaldings erschwert, er wird allzu oft auch hinsichtlich der Frage im Dunkeln gelassen, inwieweit die Position des berühmten Neologen Anspruch auf Originalität erheben kann oder einfach nur Traditionsstoff fortschreibt.
Als neuere systematische Einführung in das Denken Spaldings ist das Buch allerdings konkurrenzlos und sei dem interessierten Leser (eingedenk der genannten Vorbehalte) zur Anschaffung empfohlen.