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Ausgabe:

Mai/2010

Spalte:

580-582

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Demut, André

Titel/Untertitel:

Evangelium und Gesetz. Eine systematisch-theo­logische Reflexion zu Karl Barths Predigtwerk.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2008. XIII, 382 S. gr.8° = Theologische Bibliothek Töpelmann, 145. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-11-020446-9.

Rezensent:

Stefan Holtmann

Karl Barths nahezu vollständig ediertes Predigtwerk umfasst in der Gesamtausgabe seiner Werke mittlerweile 12 Bände mit insgesamt weit mehr als 5000 Seiten. In der vorliegenden Dissertationsschrift, die im Wintersemester 2005/2006 von der Universität Jena angenommen und mit dem Dissertationspreis ausgezeichnet wurde, nimmt André Demut 476 Predigten aus den Jahren 1913 bis 1964 unter einer systematisch-theologischen Fragestellung in den Blick.
D. macht deutlich, dass seiner Untersuchung von Barths Predigten eine dessen Denken »fremde, nämlich lutherische Perspektive« (VII) zugrunde liegt. Barths Zuordnung von Evangelium und Gesetz traf, wie D. mit Verweis auf Hans-Joachim Iwand und Gerhard Ebeling skizziert, von Anfang an auf scharfe Kritik vonseiten lutherischer Theologen. Fraglich schien ihnen insbesondere, ob Barth die für eine Theologie in der Nachfolge der Reformation unhintergehbare klare Unterscheidung zwischen beiden Größen wahre. Mit der Themenstellung ist für D. jedoch darüber hinaus ein weiterer Fragehorizont geöffnet, der nicht nur die Frage nach der Berechtigung der lutherischen Kritik einschließt. Es soll vor dem Hintergrund der Fragestellung, »wie Barths Figur einer Einheit von Evangelium und Gesetz präzis beschrieben werden kann« (11), auch ein Beitrag zur Klärung der Frage geleistet werden, ob in Barths Entwicklung eine Kongruenz zwischen dogmatischer Reflexion und Predigtpraxis wahrzunehmen sei, und inwiefern die Wandlungen seines dogmatischen Denkens auch in der Predigtpraxis verfolgt werden könnten.
In seinem einleitenden Kapitel (1–50) gibt D. nur knappe Hinweise auf das methodische Vorgehen seiner Predigtanalysen (15–19). Es wird deutlich, dass eine genuin systematisch-theologische Predigtanalyse vorgelegt wird, die mit einer »grammatisch-formalen Analyse« einhergehen soll. Im Mittelpunkt stehen dabei das spezifische Gefälle einer Predigt bzw. deren Grundton – die Leitfrage lautet, »wer den Gestus der jeweiligen Ansprache regiert: ein Zuspruch? ein Anspruch? eine Mischung aus beidem? und wenn gemischt: in welcher Weise aufeinander bezogen?« (18). Eine me­thodisch-reflektierende Bezugnahme auf die in der Homiletik entwickelten Analyseverfahren findet sich in D.s Studie nicht.
Die Untersuchung der Predigten führt D. im Ergebnis zur Un­terscheidung von sechs Grundtypen. Die zugrunde liegende Materialfülle birgt freilich eine Herausforderung für die Darstellung der Ergebnisse. D. entscheidet sich, die Grundtypen jeweils anhand einiger Beispiele vorzustellen. Die Zuordnung weiterer Predigten aus dem Gesamtwerk wird summarisch vermerkt und statistisch ausgewertet, d. h. der jeweilige prozentuale Anteil an der Gesamtzahl der Predigten eines bestimmten Zeitraums wird ermittelt und im Blick auf die theologische Entwicklung Barths gedeutet. Das Hauptaugenmerk bleibt dabei auf den Sachgehalt der Predigten gerichtet. Die konkrete historische Situation, in der die Predigt zur Sprache kommt, tritt demgegenüber weitgehend in den Hintergrund.
Im zweiten Kapitel stellt D. zunächst drei Grundtypen dar, de­ren Analyse den Blick auf »Brüche im Predigtwerk im Blick auf Evangelium und Gesetz« freigibt. Zunächst sind dies Predigten mit »rein promissionalem« Charakter (51–109), die sich nach Barths »Anselm-Wende« im Jahr 1931 deutlich häufiger im Vergleich zur vorangegangenen Zeit nachweisen ließen (vgl. 109). Den zweiten Grundtyp bilden Predigten, in denen das »Gesetz« den Grundton auf implizite Weise (110–143) dominiere. Entsprechende Predigten liegen insbesondere dann vor, wenn der Prediger Barth vom Evangelium im Modus von Postulaten und Konjunktiven spreche oder Verheißungen konditional verklammere. Dieser Predigttypus sei vor allem in der Safenwiler Zeit anzutreffen, demgegenüber ließen sich vom Jahr 1931 an nur noch vereinzelte, vom Jahr 1936 schließlich keine Predigten mehr diesem Typ zuordnen. Die hier erkennbare »signifikante Diskontinuität« (173) im Predigtwerk Barths wird am Beispiel des dritten Grundtyps, welcher die Predigten mit expliziter Gesetzesdominanz (144–173) umfasst, noch deutlicher. Nach dem Ende des Jahres 1921 kann D. nur noch zwei Predigten dieses Grundtyps ermitteln.
Drei weitere Grundtypen, die D. im dritten Kapitel seiner Studie vorstellt, lassen hingegen »Kontinuitäten im Predigtwerk hinsichtlich Evangelium und Gesetz« erkennen. D. stellt zunächst (177–298) Predigten dar, »in denen die jeweilige Forderung, das Ge­bot an die Gemeinde vom Evangeliumszuspruch fundiert, umgriffen und getragen wird« (298). Dogmatisch entspreche dies dem im Vortrag Evangelium und Gesetz aus dem Jahr 1935 beschrittenen Weg: »Nicht eine Vermischung, nicht eine Vergesetzlichung des Evangeliums und auch keine antinomistische Depotenzierung des Gesetzes werden sichtbar, sondern ein Ineinander von Evangelium und Gesetz in einer in sich höchst differenzierten Einheit mit einer klaren Rangordnung der in dieser Einheit unvermischt verbundenen Größen« (62). Diese Weise, beide Größen aufeinander zu beziehen – D. zufolge »allein sachgemäß ... für evangelische Theologie und Verkündigung« –, wird als »insubsistentiale Einheit von Evan­geli­um und Gesetz« beschrieben, deren Kennzeichen vor dem Hin­tergrund der Einheit des Wortes Gottes »ein klares Gefälle zwischen ... Evangelium und Gesetz« (342, vgl. 344–347) sei. Insgesamt sind es 143 Predigten, und damit knapp ein Drittel des untersuchten Predigtwerks, die D. diesem Grundtyp zuordnet. Predigten, in denen Barth als »gar nicht so übler – Lutheraner« homiletisch den Weg vom Gesetz zum Evangelium wähle, weist D. einem zweiten, zwar selten, gleichwohl kontinuierlich nachzuweisenden Grundtyp zu (299–314). An letzter Stelle stehen Predigten, in denen die Identität von Evangelium und Gesetz lediglich proklamiert werde (315–336). D. beurteilt diese relativ selten auftretenden Predigten als einen weithin missglückten Versuch, da die behauptete Identität meist entweder durch die einseitige Dominanz von Evangelium (317–326) oder Gesetz (326–332) aufgehoben werde, bzw. die »permanente Oszillation zweier gleichgewichtiger Größen ... die Gefahr eines gesetzlichen Fehlverständnisses des Wortes Gottes als ständige Begleiterin bei sich« habe (337).
Als Ergebnis hält D. neben den Stärken der skizzierten Zuordnung von Evangelium und Gesetz als insubsistentialer Einheit fest, dass der um das Jahr 1931 eingetretene Wandel in Barths Predigtwerk – erkennbar an den Grundtypen 1–3 – den Gedanken »an eine ›reformatorische Wende‹ Barths« (347) nahe lege. Mit Barth könnten vor diesem Hintergrund manche seiner früheren Predigten kritisiert werden, deren beständiges, unentschieden wirkendes Oszillieren zwischen Gericht und Gnade »nicht evangelisch« (350) sei. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass der von D. favorisierte Grundtyp gleichmäßig in allen Phasen des Barthschen Wirkens vertreten ist. Insofern sollte die Rede von einer »Wende« im Blick auf das Predigtwerk nicht überstrapaziert werden. Neben der Schwerpunktverlagerung im Predigtwerk vom Gesetz zum Evangelium, zeigt sich für D., dass deren Verständnis als »insubsistentiale Einheit« im Sinne einer »integrierenden Matrix« (350) geeignet sei, Kontinuitäten zwischen dem frühen und späten Werk Barths zu identifizieren.
Die Studie erreicht damit ihr Ziel. Im Blick auf die lutherische Kritik ergibt sich ein differenzierter Befund, denn manche Predigten kennzeichnet D. deutlich als »unevangelisch«, der weitaus größ­te Teil hingegen zeigt für ihn, dass Barths Zuordnung von Evangelium und Gesetz ihrer Kritik überlegen ist. Eine stärkere An­knüpfung an die homiletische Theoriebildung wäre wünschenswert gewesen und hätte im Blick auf die Einzeluntersuchungen vielleicht eine noch größere Tiefenschärfe ermöglicht, z. B. im Blick auf die Frage, ob eine Predigt wie jene vom 26. März 1948 über Mt 5,5 tatsächlich in »wunderbar indikativischer Sprache« (23) gehalten ist, wenn Barth gleich mehrfach das »Annehmen« bzw. »annehmen Dürfen« der Verheißung hervorhebt. Insgesamt stellt die vorliegende Untersuchung eine wertvolle Orientierungsleistung im umfangreichen Predigtwerk Barths dar, die zur weiteren Beschäftigung mit dem Prediger Barth – auch in stärker interdisziplinärer Perspektive – anregen sollte.