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Ausgabe:

Mai/2010

Spalte:

574-576

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Wenz, Gunther

Titel/Untertitel:

Friedrich Immanuel Niethammer (1766–1848). Theologe, Religionsphilosoph, Schulreformer und Kirchenorganisator. Vorgetragen in der Sitzung vom 14. Dezember 2007.

Verlag:

München: Verlag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in Kommission bei Beck 2008. 114 S. m. 1 Porträt. 8° = Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse. Sitzungsberichte Jahrgang 2008, 1. Kart. EUR 12,00. ISBN 978-3-7696-1645-3.

Rezensent:

Martin Ohst

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Wenz, Gunther: Hegels Freund und Schillers Beistand. Fried­rich Immanuel Niethammer (1766–1848). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. 235 S. m. 1 Abb. gr.8° = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 120. Geb. EUR 75,90. ISBN 978-3-525-56348-9.


Seit einigen Jahren legt Gunther Wenz seine eigene systematisch-theologische Position sukzessive in einer auf zehn Bände angelegten Gesamtdarstellung vor. Nun hat er mitten in der Arbeit an diesem­ ehrgeizigen Projekt Zeit und Kraft für eine ausführliche historische Studie gefunden. Sie liegt in zwei Versionen vor. Die kürzere ist lediglich ein Auszug aus der längeren, auf welche ich mich im Folgenden ausschließlich beziehen werde. Es ist für W. charakteristisch, dass er als »Großökumeniker« (Jan Rohls) den ins Weite sich erstreckenden wissenschaftlich-theologischen An­spruch mit unermüdlichem Einsatz für seine bayerische Heimatkirche verbindet. So schätzt und ehrt er in Niethammer auch einen von deren Gründervätern: Die große Monographie ist der »Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern aus Anlass ihrer zweiten Säkularfeier« gewidmet. Dieses stolze Geburtstagsgeschenk erinnert die moderne Lutherische Kirche – nicht nur in Bayern! – dankenswerterweise daran, dass ihr geistiges Erbgut eben nicht bloß aus der Bibel und der heutigentags gern so genannte »Be­kenntnistradition« besteht, sondern auch aus Aufklärung, Deutschem Idealismus und Romantik. Nur um den Preis des Selbstverlustes könnte sie sich von den Spuren dieser Faktoren befreien, die ihre neuzeitliche Gestalt entscheidend im Für und Wider mitgeprägt haben.
W. bezieht sich immer wieder auf die großen philosophiegeschichtlichen Arbeiten zur Genese des Deutschen Idealismus von Manfred Frank und Dieter Henrich, in welchen Niethammer schon relativ eingehend gewürdigt worden ist. Aber der Theologe sieht natürlich in vielen Kontexten die Phänomene noch einmal von einer besonderen Warte, und insofern bietet W.s Studie einen ganz eigenen Zugang zu ihrem Gegenstand. Außerdem bettet W. in sehr überzeugender Weise seine Darstellung Niethammers immer wieder in weit ausgreifende problemgeschichtliche Erzählzusammenhänge ein. Fortgeschrittenen, interessierten Studenten kann das Buch also sehr gut auch als anspruchsvolle, aber durchaus gut lesbare kluge Einführung in die Metaphysik-Kritik und Religionsphilosophie Kants und deren frühidealistische Weiterbildungen dienen.
Der gebürtige Württemberger Niethammer durchlief die üb­lichen Stationen der Theologenausbildung seiner Heimat. Im Tü­binger Stift lernte er die Philosophie Kants kennen – und gleichzeitig den Versuch Christian Gottlob Storrs, Kants Nachweis der lediglich problematischen Geltung der metaphysischen Begriffe von Gott, Welt und Seele zum Freibrief für offenbarungstheologisch legitimierte dogmatische Setzungen umzudeuten. Hiermit sind die beiden Pole bestimmt, zwischen denen sich sein religionsphilosophisches Denken entfaltete. Die von Storr postulierte bzw. in der Bibel identifizierte göttliche Offenbarung, die sich als Faktum in Raum und Zeit eben als letztlich erratische Manifestation des Übernatürlichen ausweisen sollte, blieb ihm eine illegitime Er­schleichung. Aber vehement wehrte er sich auch gegen Tendenzen, im Gefolge einer bestimmten Auslegung der Kantischen Pos­tulatenlehre den Gottesbegriff und die Rede von der Offenbarung zu eliminieren oder als bloße subjektiv-bedürfnisgeleitete Fiktionen gelten zu lassen.
Stipendien ermöglichten Niethammer 1790 einen Aufenthalt in Jena, wo er seine Bekanntschaft mit der Kantischen Philosophie zu vertiefen gedachte. Schiller und andere vermittelten ihm literarische Lohnarbeiten, und so konnte er dort länger bleiben als ur­sprünglich vorgesehen. Er nutzte seine Zeit und erwarb alsbald die Lehrbefugnis in der Philosophischen Fakultät. Mit den Qualifikationsschriften begann die eigentlich wissenschaftlich-produktive Periode seines Lebens, die dann allerdings schon wenige Jahre darauf mit dem Atheismusstreit wieder abbrechen sollte.
In Büchern und Aufsätzen vertrat er ein im Grunde recht einfaches Gerüst von Thesen in mehreren Variationen: Er bemühte sich um den Nachweis, dass die Annahmen der Existenz Gottes und einer göttlichen Offenbarung als »Gewissensgewissheiten«, wie W. einprägsam formuliert, im vernünftig sich verstehenden sittlichen Selbstbewusstsein des Menschen konstitutiv mitgesetzt seien. Die so verstandene Religion, in deren Zentrum die Gottesvorstellung steht, erbringe unentbehrliche konstruktive Vermittlungsleistungen in der spannungsreichen Dialektik zwischen dem intelligiblen, freien Ich und dem empirischen, im allumfassenden Gefüge der Notwendigkeit sich vorfindenden Menschen. Feinfühlig no­tiert W. hier eine Differenz zu Kant, bei dem, anders als bei Niethammer, nicht die Existenz Gottes bzw. die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Rede von seiner Offenbarung im Zentrum der religions­philosophischen Theoriebildung stehe, sondern das »radikale Böse«. Gerade diese Konfiguration eröffne systematisch die Möglichkeit, die Religionsphilosophie Kants in einen produktiven Dialog mit den Leitimpulsen reformatorischen Chris­tentumsverständnisses zu bringen (luzide Zusammenfassung, 219–228).
1797 nahm Niethammer die Witwe des jung verstorbenen Je­naer Startheologen Johann Christoph Döderlein zur Frau (118). Die Vermutung dürfte nicht abwegig sein, dass mit dieser Heirat Niethammers materielle Existenz gesichert war. Die war zuvor nicht unproblematisch, denn er hatte schlichtweg keinen Lehrerfolg – dennoch wurde er schon 1793 zum philosophischen Extraordinarius ernannt und trat im selben Rang 1798 in die Theologische Fakultät ein. Seine Hoffnung, nach dem Weggang von H. E. G. Paulus 1803 als dessen Nachfolger Ordinarius zu werden, zerschlug sich, was ihn erbitterte (119). Eine Spätwirkung seiner Verwicklung in den Atheismusstreit (s. u.) wird man darin kaum erblicken müssen, vielmehr erscheint Niethammers eigene Aspiration von Anfang an wirklichkeitsfremd gewesen zu sein: In einer Zeit, in der es als begründungsbedürftig galt, dass ein Ordentlicher Professor der Theo­logie ein Hauptfach nicht in den Umfang seiner Lehrveranstaltungen einbezog, konnte jemand, der nur in einer Disziplin und zu einem Thema publiziert hatte, für einen theologischen Lehrstuhl wohl nicht ernstlich in Betracht kommen! Dass Niethammer dann zwar nicht in Jena, aber in Würzburg doch Ordinarius wurde, lag an Paulus, und es lag daran, dass andere Kandidaten nicht geneigt waren, sich auf die unsicheren Verhältnisse der neu gegründeten Universität einzulassen. Die erwies sich dann ja auch als extrem kurzlebig, und Niethammer, zudem Oberpfarrer der Würzburger Evangelischen Kirchengemeinde, wechselte in den bayerischen Schul- und Kirchendienst, wo er eine beachtliche Karriere machte und maßgeblich am Aufbau der bayerischen Landeskirche sowie an der Reorganisation des Höheren Schulwesens beteiligt war.
In den knapp eineinhalb Jahrzehnten, die Niethammer in Jena verbrachte, waren die kleine Universitätsstadt und die nahe gelegene Residenz Weimar Schauplatz einer geschichtlich wohl einmaligen Konzentration (s. die Aufzählung, 220 f.) wissenschaftlich und künstlerisch hervorragender Männer (und natürlich auch Frauen!) auf heute kaum noch vorstellbar engem Raum. Zumal die ehrgeizigen Fortbildner der kantischen Philosophie wirkten neben- und nacheinander, verbunden durch gemeinsame Sachinteressen und literarische Projekte, getrennt aber auch durch positionelle Differenzen sowie Rivalitäten bis in den erotischen Bereich hinein. Kurzum: Das kleine Jena war eben auch eine Schlangengrube, in der dauerhaft lebenskräftige Feindschaften begründet wurden, deren Eruptionen noch Jahrzehnte später Geistesgeschichte ma­chen sollten (Schelling – Paulus!). Und mitten in alledem lebte und webte Niethammer. Als er veröffentlichte, was er zu sagen hatte, stand er für kurze Zeit Seite an Seite mit Fichtes Offenbarungskritik. Aber dessen Weg in die Ich-Philosophie ging er nicht mit, wie er sich überhaupt allen seit Reinhold angestellten Versuchen verweigerte, die Kantische Philosophie mit einem apriorisch-konstruktiven Unterbau zu versehen. So schied er aus den weiterführenden philosophischen Debatten gleich wieder aus, nachdem er eben erst in sie eingetreten war. Gleichwohl oder gerade deswegen erfreute er sich als Person weiterhin hoher Schätzung. Auch Männer, die einander sonst mit Misstrauen gegenüberstanden, zählten ihn zu ihren Freunden, zu ihren Gesprächs- und Briefpartnern. Fichte und Paulus, Schelling und Hegel, Goethe und Schiller, Hölderlin und die Schlegels – zu ihnen allen und vielen anderen hatte Niethammer gute Kontakte, und offenbar hat er es vermocht, sich trotzdem aus all den Streitigkeiten und Verwerfungen zwischen ihnen herauszuhalten.
Niethammers religionsphilosophische Po­sition, die einen Vermittlungsversuch zwischen Offenbarungspositivismus und Fiktionalismus darstellt, ist offenbar typisch für die Art seines Denkens: Als Bildungsreformer im Staatsdienst versuchte er später in vergleichbarer Weise, einen Mittelkurs zwischen altsprachlichem Humanismus – offenkundig hat Niethammer selbst diesen bildungstheoretischen bzw. -politischen Terminus ge­prägt (193–198) – und realienkundlich fundiertem Philanthropinismus zu steuern. In den Atheismusstreit wurde er verwickelt, weil er mit Fichte gemeinsam die Zeitschrift herausgab, in welcher Forbergs Aufsatz erschien, welcher die Kontroverse auslöste. Bemerkenswert ist Niethammers literarische Verteidigungsstrategie: Während Fichte in seiner »Appellation an das Publikum« beherzt in die Offensive ging und ein ganz großes Glanzstück konstruktiv-polemischer Literatur schuf, versuchte Niethammer klarzumachen, dass akademische Philosophie letztlich doch nur eine intellektuelle Spielwiese sei, die so weit von der politisch-sozialen Realität entfernt liege, dass man von den auf ihr sich Ergehenden eigentlich gar nichts zu befürchten habe (165). So wird man letztlich sagen müssen, dass der Abbruch von Niethammers akademischer Karriere ein Glücksfall war – sowohl für ihn selbst als auch für das bayerische Kirchen- und Schulwesen, das ihm bis in die Gegenwart hinein wichtige positive Wegweisungen verdankt.
Gunther Wenz ist am 18. August 2009 60 Jahre alt geworden. Darum sei es dem Rezensenten gestattet, mit seinem Dank für die wertvollen Niethammer-Studien, in denen auch viel von W.s eigener heiterer und freundlicher, ausgleichender Wesensart steckt, den Wunsch zu verbinden, dass ihm seine staunenswerte Schaffenskraft und Schaffensfreude noch lange erhalten bleiben möge.