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Ausgabe:

Mai/2010

Spalte:

572-574

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Schrenk, Viola

Titel/Untertitel:

»Seelen Christo zuführen«. Die Anfänge der preußischen Judenmission.

Verlag:

Berlin: Institut Kirche und Judentum 2007. X, 420 S. m. Abb. 8° = Studien zu Kirche und Israel, 24. Kart. EUR 19,80. ISBN 978-3-923095-36-0.

Rezensent:

Hans-Martin Kirn

Die Arbeit, eine an der Berliner Humboldt-Universität angenommene Promotionsschrift (K.-V. Selge, P. von der Osten-Sacken), zeichnet die Geschichte der 1822 in Berlin gegründeten Juden­missions­gesellschaft (»Gesellschaft zur Beförderung des Christenthums unter den Juden«) von ihren Anfängen bis zur Jahrhundertmitte erstmals ausführlich nach. Neben der Schilderung der Vor­geschichte, der organisatorischen Entwicklung und der publizistischen Aktivitäten der Gesellschaft auf dem Feld der Bibel- und Schriftenmission widmet sich die Darstellung der Rekrutierung der Missionare (zwischen 1822 und 1848 neun an der Zahl) und vor allem deren praktischer Tätigkeit, die u. a. anhand von Tagebuchaufzeichnungen lebensnah vor Augen geführt wird. Dieser letzte Hauptteil kann zu Recht als »Herzstück der Arbeit« gelten (27). Die »drei historischen Annäherungen« (29–80) haben dagegen eher den Charakter einer bei Dissertationen leider nicht seltenen Pflichtübung, die der Rezensent lieber – soweit nötig – in die anderen Teile­ eingearbeitet gesehen hätte. Die Beschränkung des Untersuchungszeitraums auf die Zeit bis zur Krise der Gesellschaft im Ge­folge der Märzrevolution von 1848 erscheint angesichts des er­halten gebliebenen umfänglichen Archivmaterials als sinnvolle Entscheidung. Immerhin werden einzelne wichtige Ausblicke ergänzt, etwa im Blick auf die erst 1863 gelungene Gründung einer längerfristig erscheinenden Missionszeitschrift (182 f.).
Eingehend wird herausgearbeitet, wie die Gesellschaft in den 1820er Jahren mit ihrer biblisch orientierten »Israelliebe« an der Aufbruchsstimmung der Erweckungsbewegung und ihren breiteren missionarischen Anliegen partizipierte und sich dank der königlichen Unterstützung im politischen Interesse eines »christlichen Staats« entfalten konnte. Institutionell bemühte sie sich nach­drücklich um Selbständigkeit gegenüber der tatkräftigen Lon­doner Society. Seit den 1830er Jahren hatte die Berliner Gesellschaft nicht zuletzt wegen ausbleibender Resonanz und Widerstand bei ihrer Zielgruppe mit Resignation und internen wie externen Konflikten zu kämpfen. 1831 verlagerte man die Schwerpunkte der Missionstätigkeit von der preußischen Provinz (Großherzogtum) Posen, wo mehr als 40 % aller preußischen Juden wohnten, nach Schlesien. Hier wurde Breslau feste Missionsstation bis 1848. Da einzelne Missionare den »Altlutheranern« beitraten, geriet die Ge­sellschaft in den Streit um die Union. In der Folgezeit wurde es schwieriger, Mitarbeiter zu finden. Zeitweise war die Gesellschaft ganz ohne Missionare. Höchstens drei waren gleichzeitig in ihrem Dienst. Von einem groß angelegten Missionswerk kann also keine Rede sein.
Die realitätsnahe Schilderung der Lebens- und Arbeitsumstände der neun Berliner Judenmissionare zwischen 1822 und 1848 (Hauptteil 4) macht deutlich, wie der anfängliche Optimismus bald nachließ und die konzeptionellen Schwächen des ganzen Unternehmens zunehmend deutlich hervortraten. Dies gilt etwa im Blick auf die Ausbildung der Missionare, die sich weithin am theologischen Konstrukt des »biblischen« Judentums orientierte und das zeitgenössische Judentum kaum wahrnahm, sowie hinsichtlich der auffällig geringen Bereitschaft, sich konstruktive Gedanken über die Zukunftsperspektiven von Konversionswilligen zu machen. Offenbar schien das Letztere angesichts der an­fänglich lebendigen Naherwartung einer jüdischen Massenbekehrung im Vorfeld des »Jüngsten Tages« auch gar nicht nötig. Später, nachdem diese Nah­erwartung verblasst war, blieb nur noch der Verweis, man wolle keine »Proselytenmacherei« betreiben. So trös­tete man sich und seine Unterstützer mit Metaphern wie der von der »Saat auf Hoffnung«, die sich nicht am unmittelbaren »Erfolg« oder »Misserfolg« messen lassen musste. Zwar gelang es in den Missionsgebieten immer wieder, Kinder jüdischer wie christlicher Herkunft zu religiöser Unterweisung zu versammeln. Auch dienten Berliner Missionare als Lehrer an Judenmissionsschulen, die als Freischulen von jüdischen Eltern zuweilen mehr oder weniger notgedrungen ak­zeptiert wurden. Die Versuche, gezielt Rabbiner und andere Funktionsträger der jüdischen Gemeinden in bibelorientierte Gespräche über den christlichen Glauben zu verwickeln, scheiterten freilich in aller Regel. Es wundert daher nicht, dass statt der Juden verstärkt die christliche Bevölkerung ins Blickfeld der Missionare geriet und diese sich mit innerchristlicher »Erwe­ckung« beschäftigten. Die ideologischen Grenzlinien werden klar erkennbar: Im Interesse christologischer Auslegung des Alten Testaments und der strikten Zuordnung der beiden Testamente zu »Verheißung« und »Erfüllung« widersetzte man sich der traditionellen jüdischen Bibelauslegung, im Geist der Erweckungsbewegung wies man die aufklärerisch inspirierte Bibelkritik ab. Auf analo­ge Weise wurden »Rabbinismus« und »Rationalismus« zu Feindbildern stilisiert, und entsprechend auch die Haskala, die jüdische Aufklärung, mit ihren Emanzipations- und Assimilationsbestrebungen als Zeugnis innerjüdischen Zerfalls denunziert. Zu Recht wird daher von der Vfn. abschließend konstatiert, dass die biblisch orientierte »Israelliebe« der Missionare die strikte Ablehnung des zeitgenössischen Judentums nicht aus-, sondern einschloss (364). Dass dies nicht gerade günstige Voraussetzungen waren, um dem zunehmenden Antisemitismus in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s wirkungsvoll entgegentreten zu können, wird man behaupten dürfen.
Freilich hätten die damit verbundenen Fragen auch für den Untersuchungszeitraum selbst systematischer behandelt werden können. Ob die am Ende aufgegriffene Frage nach »Erfolg oder Misserfolg« trotz guter Absichten historiographisch auf diese Weise sinnvoll zu beantworten ist, sei dahingestellt (eine »Vorgehensweise an sich« kann ebenso wenig ein »Misserfolg« sein wie das »ungeklärte Verhältnis zum zeitgenössischen Judentum«). Dies gilt im Übrigen auch für die eingangs formulierten allgemeinen Ur­teilskategorien, denen zufolge die Arbeit deutlich machen solle, ob die Judenmission unter den damaligen Bedingungen »zeitgemäß, verständlich und nachvollziehbar« war – auch unter den damaligen Bedingungen fragt es sich stets: für wen? Vermutlich geht es schlicht darum, das Phänomen der Judenmission im historischen Kontext kritisch zu würdigen, und dazu hat die Vfn. einen anschaulichen Beitrag geleistet.
Die Arbeit wird abgeschlossen mit einem dokumentarischen Anhang, u. a. mit dem reprographisch wiedergegebenen Gesetzes­text zur Bestätigung der Gesellschaft und ihrer Statuten (Anlage 2), einer Zusammenstellung der personellen Veränderungen des Komitees der Gesellschaft (Anlage 3) sowie einem Quellen- und Literaturverzeichnis. Namen- und Sachregister sucht man leider vergeblich, was die weitere Rezeption der Arbeit erschweren dürfte (man denke nur an die Wirksamkeit F. A. G. Tholucks).