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Ausgabe:

Mai/2010

Spalte:

568-570

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Bengel, Johann Albrecht

Titel/Untertitel:

Briefwechsel. Briefe 1707–1722. Hrsg. v. D. Ising.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. 874 S. gr.8° = Texte zur Geschichte des Pietismus. Abt. VI: Johann Albrecht Bengel, Werke und Briefwechsel, 1. Lw. EUR 154,00. ISBN 978-3-525-55852-2.

Rezensent:

Michael Kannenberg

Um es gleich vorweg mit den Worten des Herausgebers zu sagen: Die Rezension »dieses Bandes war auf weite Strecken eine Entde­ckungsreise, die Neues oder bisher wenig Beachtetes zu Johann Albrecht Bengel zutage förderte« (15) – und damit eine wahre Freude! Der Pietismus war zu allen Zeiten ein korrespondierender. Oder pointiert formuliert: Pietismus ist Frömmigkeit in Kommunikation, nicht zuletzt in seiner württembergischen Variante, deren prominenteste Gestalt der Theologe Johann Albrecht Bengel (1687–1752) war. Dieter Ising, Mitarbeiter am Landeskirchlichen Archiv in Stuttgart, legt mit diesem Band Bengels Korrespondenz der Studienzeit (1707–1713), der wissenschaftlichen Reise 1713 sowie der ersten Denkendorfer Jahre (1714–1722) vor: 326 Briefe von und an Bengel, die teils als eigenhändige oder diktierte Ausfertigungen erhalten sind, teils im Entwurf oder in Abschrift, teils nur im Auszug. Eine erste Vorstellung von der immensen Aufgabe, die sich Ising vorgenommen hat, vermittelt die Zahl von über 3100 Briefen, die aus Bengels Korrespondenz erhalten sind. Der vorliegende voluminöse Band enthält also erst gut ein Zehntel des Ganzen. Er eröffnet die Bengel gewidmete Abteilung VI der Texte zur Geschichte des Pietismus, die im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus herausgegeben werden.
Dass mit einer solchen Edition der von Martin Gierl inkriminierten, an Theologenbiographien ausgerichteten »protestantischen Identitätsgeschichte« erneut Vorschub geleistet wird, ist wohl nicht abzustreiten (vgl. Martin Gierl, Im Netz der Theologen – die Wiedergeburt der Geschichte findet nicht statt, in: ZHF 32 [2005], 463–487). Letztlich aber kommt es doch darauf an, welche Impulse die weitere Forschung aus der Edition zieht. Hier kann der Herausgeber nur ermuntert werden, Anknüpfungspunkte nicht nur auf biographischem und theologischem Gelände zu schaffen.
Damit zurück zu dem vorliegenden Band. In einem ausführlichen Vorwort (7–15) beschreibt Ising die wesentlichen Entscheidungen, die seiner Arbeit zugrunde liegen. Dass bei einer solchen Edition nicht alle Stücke im vollen Wortlaut geboten werden können, leuchtet ein. Ising hat sich dafür entschieden, nur diejenigen Briefe im Volltext zu bieten, »die für Bengels Biographie, Theologie, Pädagogik oder Seelsorge relevant sind« (11). Alle anderen Briefe sind als Regest aufgenommen; eine Inhaltsangabe nennt »die wesentlichen im Brief vorkommenden Personen, Orte und Sachbezüge« (12). Der Herausgeber konzediert, dass sich bei der Frage nach der Relevanz eines Briefes gewisse Unschärfen einstellen, und bittet die Benutzer der Edition, »das eigene Verständnis von Relevanz und Irrelevanz nicht absolut zu setzen« (12). Im Ganzen wird man Isings Entscheidungen folgen können. Gerade im Hinblick auf die folgenden Bände sei aber der Wunsch festgehalten, dass neben dem biographischen und dem theologischen Aspekt das kultur- und mentalitätsgeschichtliche Interesse nicht zu kurz kommen möge. Erfreulich benutzerfreundlich: Lateinische Briefe oder Briefstellen werden in Übersetzung geboten, wobei Ising durchgehend auf überlieferte Übersetzungen zurückgreift und dabei Kürzungen und Bearbeitungen der Übersetzer kenntlich macht – ein willkommenes Additum, das die Prägungen der Überlieferung erhellt und Einblicke in die frühe Modellierung des Bengel-Bildes gewährt.
Auf das Vorwort folgt eine längere Einführung (17–47), die den biographischen, familiengeschichtlichen, schriftstellerischen und theologischen Hintergrund der Korrespondenz näher beleuchtet. Kundig weist Ising auf wichtige Zusammenhänge, theologische Bezüge, nachhaltige Begegnungen, die Briefe begleitende schriftstellerische Arbeiten und Bengels gleichzeitige Lektüren hin. Ins Auge fallen dabei die zahlreichen Kontakte Bengels zum Radikalen Pietismus, auf die der Herausgeber schon anderenorts hingewiesen hat (Dieter Ising, Radikaler Pietismus in der frühen Korrespondenz Johann Albrecht Bengels, in: PuN 31 [2005], 152–195).
Auf die sich anschließenden Editionsrichtlinien (49–59) lässt man sich gerne ein: Sie führen zu einem gut lesbaren Editionstext, der durch alle notwendigen und darüber hinaus viele wünschenswerte Informationen ergänzt wird. Die eigentlichen Brieftexte werden von einem doppelten Apparat begleitet, einem textkritischen sowie einem inhaltlich erläuternden, der auch biographische Angaben zu Bengels Briefpartnerinnen und -partnern enthält. Ein Verzeichnis der Fundorte (845–848) sowie diverse umfängliche Register beschließen den Band.
Schließlich sei die inhaltliche Seite dieser frühen Korrespondenz Bengels beleuchtet: Sie bietet durchweg mehr als erwartet, bisweilen weniger als erhofft. Letzteres ist der familiären und pietistischen Überlieferungsgeschichte geschuldet. So sind zum Beispiel die Briefe Bengels an seine Verlobte und spätere Ehefrau Johanna Regina Seeger (Nr. 66–74) nur als auszugsweise Abschriften des Schwiegersohns Christian Gottlieb Williardts erhalten. Dass dieser »nur einig-folgend-weniges« (315, Anm. 2) exzerpiert hat, die ihm vorliegenden Ausfertigungen aber im Weiteren »verloren« gingen, war der erste Schritt familiärer Eigengeschichtsschreibung, mit der pietistische Lebensläufe modelliert werden sollten (vgl. Ulrike Gleixner, Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit, Göttingen 2005). An manchen Stellen kann auch die vorliegende Edition den ersten Bearbeitungsschritt nicht hintergehen. Das ist bedauerlich, aber nicht zu ändern und in jedem Fall nicht dem Herausgeber anzulasten.
Darüber hinaus bietet schon dieser erste Band mehr als erwartet Vorverweise auf Späteres. Bengels apokalyptische und chiliastische Interessen deuten sich wiederholt an (191 f.389 u. ö.). Ising erkennt darin im Gegensatz zu Martin Brecht »mehr als nur Teilhabe an einem ›allgemeinen apokalyptischen Klima‹« (27). Allerdings ist schon in dieser frühen Phase deutlich, dass Bengels endzeit­liche Überlegungen den biblischen Anhalt suchen und verlangen. Gegenüber reiner Spekulation bleibt er zurückhaltend. Seine­ biblizistische Grundhaltung ist damit von Anfang an gegenwärtig, auch schon in Bengels später sprichwörtlich gewordenem Motto: »Te totum applica ad rem: rem totam applica ad te« (710). Der Biblizismus hat nun aber bei Bengel keinen fundamentalistischen Unterton, sondern ist eher aus der Verwandtschaft mit aufklärerischen Impulsen zu verstehen (vgl. dazu Jonathan Sheehan, The Enlightenment Bible, Princeton 2005). Daher beschäftigt sich schon der junge Bengel mit neutestamentlicher Textkritik (674. 834). Aus dem Briefwechsel mit dem Frankfurter Bücher- und Handschriftensammler Zacharias Conrad von Uffenbach wird erkennbar, dass Bengel 1722 mit der Arbeit an der Herausgabe des neutestamentlichen Bibeltextes beginnt (761.808). Was hier angelegt ist, wird in den Folgebänden des Briefwechsels ausführlich entfaltet werden.
Man darf dem Herausgeber für diese weiteren Bände einen langen Atem wünschen und ihm im Voraus danken. Mit Bengel gesprochen: Nur »wenige seyn um die brunnenstub[en] bekümmert; und diesen hats die ganze societät zu dank[en]« (348). Ad multos tomos!