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Ausgabe:

Mai/2010

Spalte:

563-565

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Reinhardt, Volker

Titel/Untertitel:

Die Tyrannei der Tugend. Calvin und die Reformation in Genf.

Verlag:

München: Beck 2009. 271 S. m. 14 Abb. u. 3 Ktn. 8°. Lw. EUR 24,90. ISBN 978-3-406-57556-3.

Rezensent:

Peter Opitz

Das Jahr 2009 hat eine ganze Reihe unterschiedlicher Calvinbiographien hervorgebracht. So auch die Monographie des in Freiburg (Schweiz) lehrenden Historikers Volker Reinhardt. Sie konzentriert sich auf eine Darstellung von Calvins Wirken in Genf, wobei die Themen der »Sittenzucht« und der »Prädestination« die beiden leitenden Gesichtspunkte bilden. Der Interpretationsrahmen, mit dem die Monographie arbeitet, wird in einem einleitenden Kapitel (7–18) festgelegt: Der Prediger Calvin, von einem göttlichen Sendungsbewusstsein und der stets alles infrage stellenden Prädes­tinationslehre beseelt, agierte in Genf in Machiavellischer Ma­nier: Mit allen manipulativen und hinterhältigen »Manövern« – »Ge­winn von Einfluss durch Patronage«, »Prägung von Überzeugungen und Glaubenswelten durch ausgefeilte Techniken der Kommunikation, Gefolgschaftsbildung durch Interessen verklammernde Programme« – versuchte er, die Genfer, die sich in »permanentem Selbstbetrug« weigerten, sich als »Abgrund der Verworfenheit« zu erkennen, »unter das Joch einer gottgefälligen Ordnung zu zwingen« und sie dergestalt »mit ihren eigenen Waffen zu schlagen«. Ein aus »Angst, dass am Ende alles vergeblich gewesen sein könnte«, getriebener, von seiner »Klientel« als »Sprachrohr Gottes« verehrter Reformator, der alle »Herrschaftstechniken« einsetzte, »mittels derer man die wi­derspenstige Welt aufnahmebereit für die wahre Lehre machen konnte« (10–11).
Die hier exemplarisch referierte Passage aus dem Einleitungskapitel vermittelt einen Eindruck vom Ton, der die gesamte Mo­nographie durchzieht, und zugleich von dem Bild, das dabei vom Genfer Reformator gezeichnet wird. Belege für diese Gesamtinterpretation des Phänomens Calvin sucht man dabei vergebens. Weder auf Quellen noch auf Forschungsliteratur wird in dem die Werturteile grundlegenden Einleitungskapitel Bezug genommen, und auch später halten sich die Referenzen auf Quellen in sehr engen Grenzen. Kompensiert wird diese Lücke durch eine von Zy­nismus durchtränkte literarische Sprachkraft. Calvin – und die Genfer Behörde – wird dabei derart konsequent in malam partem interpretiert, dass sogar gelegentlich der historische Kontext als mildernder Umstand erwähnt werden kann, ohne dass das intendierte Calvinbild damit gefährdet würde. Einen inhaltlichen Einfluss auf dieses wird dem Kontext aber nicht zugestanden: Unbekümmert um die zahlreichen Forschungsarbeiten zum Thema der frühneuzeitlichen städtischen Maßnahmen der »Sozialdiszi­plinierung« und »Vergemeinschaftung«, die bekanntlich tief ins 15. Jh. hinein zurückreichen, und ohne vergleichenden Blick auf Genfs Nachbarorte wird durchgehend behauptet, dass Calvin »die strengs­te aller Reformationen« verwirklichte, in einer Stadt, die »durch nichts auf diesen Rigorismus der Lebensführung und Mo­ralkontrolle vorbereitet war« (17); ein »Menschheits-Experiment« (Klappentext). Die Tatsache des täglichen intensiven freien Per­sonen- und Warenverkehrs zwischen Genfer, Savoyer und Berner Ge­biet (eine halbe Stunde zu Fuß) ohne Massenauswanderung aus der Rhonestadt wäre angesichts der in Genf durchgeführten beispiellosen »Zwangsmaßnahmen«, welche die Pastoren »mit der Zucht­rute in der Hand« (14) durchführten, noch zu erklären.
Der Vf. versucht zudem, Calvins Handeln in Genf in seiner Theo­logie zu verankern: Der Schluss aus Calvins extrem negativem Menschenbild auf die Notwendigkeit und Legitimität zur Anwendung von Gewalt und List zur moralischen Bändigung und Vorbereitung zur Aufnahme der wahren Lehre (11) erscheint weder lo­gisch zwingend noch der theologischen Intention Calvins oder eines anderen Reformators gemäß. Aber auch hier hält es der Vf. nicht für nötig, Calvins theologische Intention anhand einer gründlichen Lektüre der Quellen zu erarbeiten.
Es liegt auf der Hand, dass eine so perspektivierte Arbeit dem Servetprozess viel Raum gewährt. Wie auch sonst, erfährt man hier manches Richtige, auch über den Kontext, in welchem Calvin hier seine Rolle spielte. Thematisch zugespitzt wird der Servetprozess dann aber doch auf die Alternative zwischen Calvin, nach welchem »es nur eine wahre Lehre gibt … und dass Abweichler daher kein Recht zu Leben haben« (171), und Servet, der »für ein einfaches, von allen Spitzfindigkeiten gereinigtes Christentum der praktischen Nächstenliebe« (169 f.) eintritt. Das geltende Reichsrecht wie auch die zeitgenössischen Differenzierungen des »Abweichlertums« werden vom Vf. nicht weiter berücksichtigt, ebenso wenig wie Servets Thesen. Letztere begegnen lediglich im Spiegel des Berichtes des sich ereifernden Calvinanhängers Roset, und damit als Vorwürfe (167). Ein geschickter Schachzug des Vf.s, um eine von ihm geliebte Redewendung aufzunehmen, wird so doch der ganze Fall Servet auf die Zweigsche Alternative von religiöser Gewalt versus Gewissen reduziert. Servet wird denn auch zitiert mit einem Diktum, das Lessing alle Ehre macht – allerdings nur, wenn man es, wie es hier geschieht, ohne Einbettung in Servets Gesamttheologie anführt: »Ich glaube, dass in uns allen etwas Wahrheit und etwas Irrtum ruht … möge uns Gott mit seinem grenzenlosen Mitleid in aller Gelassenheit auch unsere eigenen Irrtümer erkennen lassen« (169). Wer Servets zur Debatte stehenden Schriften, seine Polemik und sein Sendungsbewusstsein kennt, reibt sich bei dieser Darstellung des Konflikts die Augen.
Der Versuch, das angeführte Diktum Servets im Zusammenhang nachzulesen, wird allerdings nur Servetkennern gelingen: Verfolgt man den Nachweis des Zitates, wird man nicht auf eine Quelle, sondern auf einen spanischen Aufsatz des katholischen Kirchengeschichtskollegen des Vf.s verwiesen. Dieser wiederum zitiert den Satz aus einem Buch eines französischsprachigen Schriftstellers, der über sein Drehbuchprojekt Auskunft gibt, in welchem er die Hinrichtung Servets als »meutre judiciaire«, »quasi stalinen par avance« inszenieren will (George Haldas, Passion et Mort de Michel Servet, Lausanne 1975, 10) und das verständlicherweise nicht sonderlich um Nachweise der Zitate be­müht ist.
»So war Calvins Wirken für seine Gegner die Tyrannei der Tu­gend« (17) – der Titel des hier besprochenen Werkes gibt über den Ort, an den sich der Vf. selbst hinstellt, deutlich Auskunft. Warum sollte dieser Blickwinkel, der bekanntlich an eine lange, mit Bolsec beginnende, polemische Tradition anknüpft, von vorneherein illegitim sein? Wer empfände beim Studium der Ratsakten nicht zumindest gelegentlich ein gewisses Verständnis für Calvins Genfer Gegnerschaft? Allerdings: Ein verantwortlicher Rückbezug der Darstellung und ihrer massiven Werturteile auf die Quellen, und allgemein deren seriöse, methodisch verantwortliche Auswertung, hätte der Studie und ihrer Perspektive sicherlich mehr Plausibilität verliehen. Ob sich diese Perspektive des Zynismus dann noch so aufrechterhalten ließe, wäre zu prüfen: an den Quellen eben. Ein Beitrag zur Forschung ist das vorliegende Buch nicht.