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Ausgabe:

Mai/2010

Spalte:

554-557

Kategorie:

Neues Testament

Titel/Untertitel:

Neues Testament und Antike Kultur. 5 Bde.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag. Bd. 1: Prolegomena – Quellen – Geschichte. Hrsg. v. K. Erlemann, K. L. Noethlichs, K. Scherberich u. J. Zangenberg. 2. Aufl. 2004. VIII, 268 S. 8°. ISBN 978-3-7887-2036-0. Bd. 2: Familie – Gesellschaft – Wirtschaft. Hrsg. v. K. Erlemann, K. L. Noethlichs, K. Scherberich u. J. Zangenberg. 2005. IX, 263 S. 8°. ISBN 978-3-7887-2037-7. Bd. 3: Weltauffassung – Kult – Ethos. Hrsg. v. K. Erlemann, K. L. Noethlichs, K. Scherberich u. J. Zangenberg. 2005. VIII, 253 S. 8°. ISBN 978-3-7887-2038-4. Bd. 4: Karten – Abbildungen – Register. Hrsg. v. K. Erlemann, K. L. Noethlichs, K. Scherberich u. J. Zangenberg. 2006. VIII, 207 S. m. Abb. 8°. ISBN 978-3-7887-2039-1. Bd. 5: Texte und Urkunden. Hrsg. v. K. Erlemann, K. L. Noethlichs, K. Scherberich, J. Zangenberg u. Th. Wagner. 2008. IX, 262 S. 8°. ISBN 978-3-7887-2228-9. Kart. Je EUR 29,90.

Rezensent:

Udo Schnelle

In den letzten Jahrzehnten hat die Frage nach den kulturellen Kontexten des Neuen Testaments kontinuierlich zugenommen. Das Neue Testament ist ein Produkt der östlichen antiken Mittelmeerwelt und damit unauflöslich in die politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und religiösen Strukturen des 1. Jh.s im Imperium Romanum eingebunden. Allein diese Aufzählung veranschaulicht die Komplexität des Gegenstandes und macht deutlich, dass ein Einzelner gar nicht mehr in der Lage ist, die Aufgabe einer umfassenden Darstellung dieser Bezüge zu leis­ten. Deshalb ist es sehr zu begrüßen, dass die Herausgeber ein Team aus ca. 80 Wissenschaftlern/Wissenschaftlerinnen bilden konnten, um die kulturellen Kontexte des Neuen Testaments umfassend aus interdisziplinärer Perspektive darzustellen. Das dabei zugrunde liegende methodische Konzept stellen die Herausgeber in einem einleitenden Kapitel dar. Nicht mehr die vielfach geübte Abgrenzung und Differenzierung von Wissenschaftsbereichen ist der Ausgangspunkt, sondern deren konsequente Vernetzung, womit vor allem Anregungen der Kulturanthropologie und Ethnologie aufgenommen werden. Mit der konsequenten interdisziplinären Verzahnung verbinden die Verfasser auch begriffliche und methodologische Neubestimmungen. Religion wird nicht mehr als eine Sonderentwicklung verstanden, sondern als ein Teil von Kultur insgesamt. Die Basis dieses Ansatzes ist ein umfassender Religionsbegriff, der sowohl die Unterscheidung zwischen »jüdisch-christlich« einerseits und »pagan« andererseits aufgibt als auch die Trennung zwischen privater und öffentlicher Religion. Auch auf eine strikte Trennung zwischen Philosophie und Religion wird verzichtet, weil sich antike Philosophie als »Lebensform« und Religion bzw. Ethik ständig überschnitten.
Das Gesamtwerk soll als ein Studienbuch verstanden werden, das weder Lexikoncharakter hat noch eine reine Textsammlung ist. Vielmehr bearbeiten die einzelnen Autoren/Autorinnen eine Vielzahl von unterschiedlichen Themen mit ihren Methoden und tragen so der Vielfalt des Gegenstandes Rechnung. Dabei bilden neutestamentliche Texte und Themen den jeweiligen Bezugspunkt der Artikel, die durchschnittlich ca. fünf Seiten umfassen. Jeder Artikel ermöglicht durch unfangreiche Literaturangaben eine vertiefte Eigenarbeit. Der Aufbau des Gesamtwerkes setzt in Band 1 zunächst mit einer Erläuterung der Leitbegriffe Kultur, Religion und Gesellschaft ein. Es folgt eine Einführung in die wichtigsten, nicht nur textlichen Quellen, dann wird das historische Umfeld des Neuen Testaments dargestellt, vor allem die für das Neue Testament wichtigen Regionen des Imperium Romanum (Palästina, Syrien, Kleinasien, Ägypten und die jüdische Diaspora). Damit verbindet sich eine Darstellung der römischen Verwaltung, des Finanzwesens, des Militärs sowie schließlich eine Darstellung der Grundlagen des römischen, griechischen und jüdischen Rechts. Band 2 beschäftigt sich mit den vielfältigen Fragen des Alltagslebens in neutestamentlicher Zeit, im Mittelpunkt stehen dabei die Familie, die Städte als Lebenswelt, gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen. Band 3 widmet sich den weltanschaulichen Systemen der Zeit, speziell den philosophischen Strömungen der hellenistisch-römischen Antike, den religiösen Gruppen Palästinas sowie der Gnosis. Es schließt sich eine Darstellung weltanschaulicher Themen an, vor allem Weltbilder, Gott und göttliche Wesen, Tod und Auferstehung, Wunder, Orakel. Den Abschluss des 3. Bandes bildet eine Darstellung von Ethik und Tugendlehre sowohl im jüdischen als auch im griechisch-römischen Bereich. Band 4 bietet Karten, Abbildungen und ein umfangreiches Register, Band 5 liefert als Textband eine materiale Basis für das Eigenstudium.
Aus der Fülle der Beiträge können hier nur einzelne Aspekte aufgegriffen und einige Beiträge kurz vorgestellt werden.
Im einleitenden Abschnitt von Band 1 wird zunächst der mo­derne und antike Kulturbegriff besprochen (K. Neumann/W. Stegemann), wobei sich die Autoren für einen ethnologischen Kulturbegriff aussprechen, der Kulturen im Plural voraussetzt und ein bewusst deskriptives und wertneutrales Kulturkonzept ermöglicht. U. Berner vergleicht den modernen und antiken Religionsbegriff, wobei er insbe­sondere Cicero und Plutarch heranzieht. Aus römischer Pers­pektive wurde das Christentum als »Aberglaube« be­zeichnet, was sich nicht auf die Glaubensinhalte, sondern auf die mangelnde Loyalität der Christen gegenüber dem Kaiser und dem römischen Staat bezieht. W. Chr. Schneider stellt in seinem Beitrag zum Verhältnis von Politik und Religion dar, dass schon in der griechischen Antike, vor allem aber im römischen Reich Politik und Religion immer von vornherein verbunden waren, so dass Religion im neuzeitlichen Sinn gar nicht Mittel oder Ziel des Politischen sein konnte. H. Rosenau bestimmt das Verhältnis von Philosophie, Ethik und Religion in der Antike und betont deren vielfältige innere Verflochtenheit. Alle drei Bereiche liegen in ihren Fragen nach gelingendem Leben, nach Sinn und Orientierung sehr nah beieinander. Eine Abstraktion von den vielfachen Überschneidungen wäre Ausdruck eines künstlich dogmatisch befangenen Standpunktes. Im Hinblick auf das Neue Testament wird allerdings auch die Grenze zwischen Philosophie und christlichem Glauben betont, denn in dem gemeinsamen Fragen nach Wahrheit erblickt sie der christliche Glaube in der Person Jesu Christi. Dem Verhältnis von Individuum, Familie und Gesellschaft widmet sich M. Sigismund. Er zeigt auf, dass auch in der Antike die Familie und die Gesellschaft die wichtigsten Bezugspunkte des Individuums darstellen. Vor allem die Familie bietet dem Individuum Halt, die Gesellschaft wiederum besteht aus Familien. Auch das frühe Christentum bleibt im Rahmen dieses Denkens, sieht sich aber selbst als neue Familie Gottes. W. Chr. Schneider behandelt das Thema Gesellschaft und Ritus. Er hebt hervor, dass Riten im gesellschaftlichen Leben der Antike einen überaus breiten Raum einnehmen. Sie bestimmen spezifische Identitäten und soziale Zugehörigkeiten und strukturieren das Leben des Einzelnen ebenso wie das der Familie. Schließlich stiften sie Gemeinschaft und errichten eine Ordnung in Raum und Zeit. Zugleich setzt ab dem 6. Jh. v. Chr. eine philosophische Kritik an Kult und Ritus ein, die vor allen Dingen die blutigen Tieropfer infrage stellt. Im frühen Christentum setzt sich eine neue Definition von Reinheit und Ritus durch, die auf eine Transzendierung Gottes und einen inneren Gottesbezug zielt.
Der 2. Band beginnt mit einem Beitrag zur rituellen Prägung des menschlichen Lebens in der Antike (U. Volp). Volp stellt die durchgängige rituelle Strukturierung des Lebens in allen Kulturen und Religionen heraus. Innerhalb der griechisch-römischen Antike sind mindestens vier religiöse Ritualsysteme zu unterscheiden: die öffentlichen Riten der olympischen Götter, die öf­fentlichen Riten der Herrscher- und Kaiserkulte, die nichtöffentlichen Riten der Familien und schließlich die (abgeschlossene) Kultpraxis der Mysterienkulte und der christlichen Gemeinden.
Die überwiegende Anzahl der Artikel in Band 2 beschäftigt sich mit dem Menschen in seinen sozialen Bezügen. Zunächst wird der Alltag in Haus und Familie dargestellt, dann die Lebensphasen des Menschen sowie die Bedrohungen seines Lebens. Es folgen Analysen des antiken Freundschaftsideals und des Vereinswesens sowie sozialer Schichten und Gruppen (Arme und Reiche, Ober- und Unterschicht, Sklaven und Freigelassene, Randgruppen: Banditen, Zöllner u. a.). Innerhalb der Lebenswelten wird zunächst das Dorf vorgestellt, eine Verhältnisbestimmung von Stadt und Land vorgenommen und schließlich ausführlich die Stadt als Lebensraum in den Blick genommen.
Dieser Abschnitt setzt mit einer Darstellung der Städte des Mittelmeergebietes ein (K. L. Noethlichs), an den sich kulturanthropologische Ausführungen zu Theater, Spiel und Sport anschließen (Chr. Strecker). Zwölf einzelne Städte werden im Profil gezeichnet: Alexandria (G. Schimanowski), Antiochia (R. Haensch/J. Zangenberg), Athen (Chr. vom Brocke), Damaskus (K. S. Freyberger), Dekapolis (R. Wenning), Ephesos (Th. Corsten/J. Zangenberg), Jerusalem (P. Söllner), Korinth (D.-A. Koch), Pergamon (Th. Corsten), Philippi (P. Pilhofer), Rom (P. Lampe), Thessaloniki (Chr. vom Brocke­); schließlich werden summarisch noch weitere kleinere Städte ergänzt (W. Orth). Es handelt sich dabei um knappe, aber zugleich durchweg aufschlussreiche Artikel, die kenntnisreich das kulturelle, religiöse und wirtschaftliche Profil der einzelnen Städte entfalten.
Es folgen Ausführungen zu den Wirtschafts- und Finanzstrukturen im römischen Reich (einschließlich der Arbeitswelt). Dann werden die technischen Fertigkeiten sowie die Wissenschaften er­örtert (einschließlich der Transport- und Verkehrswege). Ein um­fangreicher Artikel wendet sich dem antiken Bildungswesen zu, wobei der Schwerpunkt auf dem griechisch-römischen Bildungswesen liegt; aber auch die jüdische Schriftgelehrsamkeit wird ausführlich behandelt. Den Ab­schluss des 2. Bandes bilden zwei knappe Artikel zu den bildenden Künsten sowie zur Musik.
Im 3. Band stellt H. Rosenau zunächst die wichtigsten philosophischen Schulrichtungen griechisch-römischer Prägung vor: Stoa, Kynismus, Epikureismus, mittlerer Platonismus, Neu-Py­tha­goreismus, Aristotelismus und Skepsis. Zwar gibt es keine direkt literarischen Berührungen zwischen dem Neuen Testament und diesen Strömungen, gleichzeitig sind aber zahlreiche strukturelle und inhaltliche Bezüge und Ähnlichkeiten unübersehbar. Die antiken Mysterien und Mysterienkulte werden von H. Kloft beleuchtet. Es folgen knapp und präzis informierende Artikel zur religiösen Vielfalt Palästinas: Pharisäer/Zeloten/Sikarier (R. Heiligenthal), Sadduzäer (R. Heiligenthal), Essener/Schriftfunde von Qumran (G. Faßbeck), Propheten und Messiasse (K. Erlemann), Täufergruppen (K. Backhaus), Samaritaner (J. Zangenberg), Gottesfürchtige und Proselyten (B. Wander). Den Abschluss bildet ein kurzer Beitrag zu den Nichtjuden in Palästina von J. Zangenberg. Etwas unterbelichtet ist demgegenüber der Abschnitt über die religiöse Vielfalt Kleinasiens (E. Winter), der lediglich sieben Seiten umfasst. Die Gnosis und ihre Systeme werden von P. Schneemelcher und Chr. Markschies bearbeitet. Es schließt sich ein Abschnitt »Weltanschauliche Themen« an, in dem Phänomene wie Weltwahrnehmung und Weltbild, Gott und göttliche Wesen, Zeit- und Geschichtsschau, Anthropologie, Vorstellungen über Tod und Auferstehung sowie Wunder und Orakel besprochen werden. Der konkreten Lebenspraxis in Kult und Ethik wendet sich der letzte größere Abschnitt im 3. Band zu. Hier geht es um Ethik und Tugendlehren, den Tempelkult, die jüdische Synagoge, die Herr­scherverehrung und den Kaiserkult, das Gebet, um Formen nichtöffentlicher Frömmigkeit und schließlich um Mystik, Apologetik und Mission. – Im 4. Band finden sich zahlreiche illustrative Karten und Abbildungen sowie umfangreiche Abkürzungsverzeichnisse und Register. Band 5 bietet exemplarische Texte zu den jeweiligen Themenfeldern, die als Begleitlektüre ein vertieftes Verstehen ermöglichen.
Insgesamt überzeugt dieses Gemeinschaftswerk sowohl in der Konzeption als auch in der Durchführung. Die Levante wird – bei allen historischen und regionalen Unterschieden – als einheitlicher Kulturraum wahrgenommen und in seiner Vielschichtigkeit erschlossen. Durch das Zusammenspiel von Theologie, Religionswissenschaft, Geschichtswissenschaft, Philologie und Archäologie ergibt sich ein reiches Bild vom Leben in dieser fernen, uns durch die vorliegenden Bände aber ein wenig näher gebrachten Welt.