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Ausgabe:

Mai/2010

Spalte:

549-551

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gelardini, Gabriella

Titel/Untertitel:

»Verhärtet eure Herzen nicht«. Der Hebräer, eine Synagogenhomilie zu Tischa be-Aw.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2006. XXIV, 470 S. gr.8° = Biblical Interpretation Series, 83. Geb. EUR 156,00. ISBN 978-90-04-15406-3.

Rezensent:

Claus-Peter März/Markus-Liborius Hermann

G. Gelardini hat mit der Beschreibung des Hebräerbriefs als synagogaler Predigt ernst gemacht und die geschichtliche Verortung des Schreibens konkretisiert. Für G. stellt der Hebr eine Synagogen­homilie dar, die am Tischa be-Aw, dem »wichtigsten ... Fasttag des jüdischen Kalenders« (3), gehalten worden ist und Ex 31,(17b)18–32,35 als Toralesung (Sidra) sowie Jer 31,31–34 als Prophetenlesung (Haftara) auslegt. An Tischa be-Aw wurden (und werden) der Schuld und Bundesbrüche Israels gedacht und die daraus resultierenden historischen Katastrophen, besonders die Tempelzerstörungen, betrauert. Der dadurch entstandene Schock erscheint für G. als heilsgeschichtliche Katastrophe, die durch einen von Gott gesandten Mittler und Hohenpriester, den Sohn, überwunden wird (240).
Die Dissertation gliedert sich in drei Teile. Teil I (11–84) gibt einen chronologischen Überblick über die Hebräerbriefforschung des 20. und 21. Jh.s und bietet im Anschluss einen kategorialen Überblick über die verschiedenen Gliederungsmodelle und theologischen Schwerpunktsetzungen des Hebräerbriefs. Von dort her wird der von G. entwickelte konzentrische Stufenrhythmus des Hebr begründet, der sich in einer stufenweise angeordneten und auf die Klimax ausgerichteten Gliederung in fünf Hauptteilen (A: 1,1–2,18; B: 3,1–6,20; C: 7,1–10,18; B‘: 10,19–12,3; A‘: 12,4–13,25) mit dem thematischen Zentrum der Bundeserneuerung (Jer 31,31–34 in Hebr 8,8–12) entfaltet.
Teil II (87–189) behandelt den synagogalen Sitz im Leben des Hebräerbriefs. Dafür werden Nomenklatur, Ursprungstheorien, Distribution, Rechtslage, Architektur, Funktion und die Organisation der antiken Synagoge und die Frage der Synagogenhomilie im Kontext der synagogalen Liturgie behandelt. In diesem Zusam­menhang werden die Funktion der Synagogenhomilie, ihre lesezyklische Basis, ihre sich ergänzenden Lesungen aus Tora und Propheten, ihre Form und ihre Relation zum Fest- und Fastenkalender untersucht. Nach G. legt der Hebr auf der Basis des palästinensischen Dreijahreszyklus der Schriftlesungen die in Hebr 8,8–12 zitierte Haftara (Jer 31,31–34) und die nur den Eingangsvers zitierende Sidra (Ex 31,[17b]18–32.35) in Hebr 4,4 aus. Dies geschieht entsprechend dem formalen Grundschema des Predigttyps der Peticha. Grundsätzlich geht G. davon aus, dass die Institutionalisierung der Leseordnung der Sidra im 5. Jh v. Chr. begann und spätestens im 3. Jh. abgeschlossen war (129). Auch in der Frage der Leseordnung der Haftara geht G. – im Anschluss an L. I. Levine – davon aus, dass diese spätestens im 1. Jh. n. Chr. institutionalisiert gewesen sei (131). Das genannte Lesepaar aus Jer 31 und Ex 31 fällt nach G.s Rekonstruktion auf den Fasttag Tischa be-Aw, an dem der Zerstörung der beiden Tempel gedacht wurde. Konstitutiv zu diesem Tag gehören auch das Thema der Sidra (Götzendienst mit dem goldenen Kalb) und das Einzugsverbot ins verheißene Land (Ps 95 in Hebr 3,7–11). Die dort zum Ausdruck gebrachte Sühnevorstellung wird aus narrativer Sicht durch den proleptischen Hohenpries­ter Mose und aus liturgischer Sicht am Jom Kippur vollzogen. Insgesamt stellt der Hebr für G. das »möglicherweise ... älteste dieses erwähnte Lesepaar auslegende Textzeugnis« dar, jedoch in »messianisch-jüdisch« kodierter Form. Den Abschluss des zweiten Teils bildet eine Motivanalyse der in Zusammenhang mit Tischa be-Aw stehenden synagogalen Lesungen (Sedarim und Haftarot): Ex 31,18–34,35; Lev 26; Dtn 4,25–40; 9,7–10,5; 28; Klg; Jes 55,6–56,8; Jer 8,13–9,23; 31,31–40. Dabei konstatiert G., dass sich zentrale Motive dieser Texte, wie z. B. der Tempel und die Sühneleistung durch Fürbitte, auch im Hebr finden lassen (189).
Diese These bildet den hermeneutischen Ansatz der in Teil III (193–385) erfolgenden Auslegung des Hebr. Zunächst wird dabei das methodische Vorgehen erläutert. Der gesamte Hebr wird nach der herausgearbeiteten Gliederung in fünf Hauptabschnitte eingeteilt und unter sieben Gesichtspunkten betrachtet (Struktur und Semantik, Inhalt und Kontext, Intertext, Form und Argumentation, Theologie, Historie und Soziologie, kritische Hermeneutik), um abschließend jeweils den exegetischen Ertrag zu erheben. Erneut wird für G. deutlich, dass der Hebr im polaren Schema von »Bundesbruch durch Ungehorsam mit resultierendem Erbstatus- und Erbverlust« und der »Wiedergutmachung durch messianisch vermittelte Bundeserneuerung und resultierender Wiederherstellung des Erbstatus und Erbes« gelesen werden muss. Nach G. können vor diesem Hintergrund »sämtliche« Themen des Hebr harmonisch ins Gesamtkonzept eingefügt werden, so z. B. die Frage des Titels des Schreibens und der Vergleich des Sohnes mit den Engeln in Hebr 1–2, das Motiv der Ruhe und der verweigerten Bußerneuerung in Hebr 3–6, die Stellung des Sohnes als Hoherpriester und die Kultrelativierung im zentralen Hauptabschnitt Hebr 7,1–10,18, die Funktion der exempla fidei in Hebr 10,19–12,3 und der Ort »außerhalb des Lagers« in Hebr 12,4–13,25.
G.s Strukturierung des Hebr im Sinne eines konzentrischen Stufenrhythmus siedelt sich im Rahmen des Möglichen an. Nicht zuletzt zeigt der Durchgang durch die verschiedenen Gliederungsmöglichkeiten in Kapitel 2 die Spannbreite der in dieser Frage bisher erstellten Thesen. Im Hinblick auf die Hauptthese der Arbeit, der Hebr sei eine am Tischa be-Aw gehaltene Syngogenpredigt, geht G. jedoch von zahlreichen, zumindest anfragbaren Voraussetzungen aus. Erstens stellt sich grundsätzlich die Frage, warum der Verfasser des Hebr in einer Homilie, die nach Meinung G.s der Zerstörung des Tempels und der damit verbundenen Trauer gedenkt, kein einziges Mal eben diese Tempelzerstörung und Trauer er­wähnt.
Zweitens ist die Charakterisierung der Adressaten als »(mehrheitlich) jüdische und partikulare Ethnie (›Hebräer‹ eben)«, die »im Rahmen eines vielfältigen antiken Judentums ..., nicht ... in Diskontinuität zur eigenen Ethnie« steht (167 f.88 ff.348 f.), sehr zweifelhaft. In diesem Zusammenhang stellt der Titel des Schreibens »ΠΡΟΣ ΕΒΡΑΙΟΥΣ« für G. aber eine »adäquate Repräsentation des Inhalts« (202) dar. Die Bestimmung der Überschrift als »wertlos« für die geschichtliche Bestimmung der Adressaten (E. Gräßer, H.-F. Weiß etc.) erscheint G. jedoch als »reichlich künstlich und konstruiert« (201). Zu fragen wäre hier, ob dies nicht eher für G.s These gelten dürfte, denn der Titel »An die Hebräer« spiegelt ausschließlich Rezeptionsgeschichte wider und bietet keinerlei An­haltspunkte für wie auch immer geartete Entscheidungen über die Adressatenschaft.
Drittens sieht G. den Anlass des Hebr nicht in einer »Rückfallsgefahr« der Adressaten vom Christentum ins Judentum oder in einer »Glaubensmüdigkeit der zweiten Generation« (168), sondern in der Liturgie selbst und in der aus der Perspektive des Tischa be-Aw betrauerten politisch-theologischen Katastrophe des Jüdischen Krieges. Daher wären die »innertextliche Spannungen« für G. »weniger eine Grenzziehung von (Juden-)Christen gegenüber Juden als vielmehr eine zwischen Juden und Rom« (168). Der Hebr erscheint so insgesamt mehr jüdisch als christlich, auch wenn G. die christliche Adressatengemeinde eben als »messianisch kodierte religiöse Ausprägung« des Judentums definiert (167). Eine solche Einordnung der Adressatenschaft kollidiert allerdings mit der den ganzen Hebr prägenden Christologie (2,5–18; 4,14–5,10; 7,25–28; 8,1–13; 9,11–28; 10,1–18). Auch wenn G. zugesteht, dass der Hebr »nicht de[n] erste[n] Kontakt der AdressatInnen mit einer christlichen Botschaft« (91) darstellt, ist nicht zu erklären, wie eine solch außergewöhnlich elaborierte Hohepriester-Christologie mit Adressaten in Beziehung zu bringen ist, die als lediglich »messianisch angehauchte« Juden nicht in Diskontinuität zur eigenen Ethnie stehen.
Viertens sei die Problematik der zugrunde gelegten Leseordnung genannt. Für G. ist der Hebr eine Homilie, die zwei alttestament­liche Texte auslegt, die an einem bestimmten Festtag, eben dem Tischa be-Aw, im Gottesdienst gelesen wurden. Dass diese Lesungen an diesem Festtag gelesen wurden, schlussfolgert G. aus der Existenz zweier unterschiedlichen Lesezyklen, dem palästinensischen Dreijahreszyklus und dem babylonischen Einjahreszyklus. Die Institutionalisierung der Toralesung begann für G. bereits im 5. Jh. v. Chr. und war spätestens im 3. Jh. abgeschlossen (129). Die Leseordnung der Propheten kann für G. spätestens im 1. Jh. n. Chr. als fixiert gelten (131). Die Erwähnung einer Leseordnung der Tora in lectio continua findet sich aber frühestens um 200 n. Chr. in der Mischna (mMegilla). G. konstatiert jedoch, dass beide Lesezyklen »als fester Bestandteil synagogaler Praxis längst [d. h. zur Abfassungszeit des Hebr] fixiert sein mussten« (126). Woher sie diese Gewissheit nimmt, wird nicht erklärt. Als weiteres Argument führt G. die Segmentierung der Tora und der Propheten in Sedarim (Wochenlesungen) an, die »oft mit den lange vor der Tempelzerstörung etablierten Paragraphen in den biblischen Schriftrollen« zusammenfielen. Eine solche Kennzeichnung war, wie G. selbst einräumt, vor der Zeit der Mischna (frühestens Ende des 2. Jh.s n. Chr.) nicht vorgeschrieben (127, Anm. 10). Die Sedarim selbst weist G. im masoretischen Text des Pentateuchs nach (129). Ob von diesem wohl ab dem 6. Jh. n. Chr. entstanden Text aber Rückschlüsse auf die Segmentierung des hebräischen Textes am Ende des 1. Jh.s/Anfang des 2. Jh.s n. Chr. gezogen werden dürfen, ist mehr als fraglich. G.s Annahme, dass die »Etablierung der Lesetraditionen ... viel früher stattgefunden haben muss« und der »palästinensische Dreijahreszyklus bereits vor 70 d. Z. in Kraft war« (127 f.), wird nicht begründet, nur (mehrfach) behauptet. Gleiches gilt für die Prophetenlesung. Für den Fall, dass eine feste Ordnung existiert haben soll, wissen wir kaum etwas über deren konkretes Erscheinungsbild. Bei all dem ist die Frage des alttestamentlichen Kanons, die bei G. überhaupt nicht verhandelt wird, noch gar nicht gestellt, ge­schweige denn beantwortet.
Auch wenn G.s Versuch, den Hebr im synagogalen Liturgiegeschehen zu verorten, bemerkenswert ist, bleibt die Arbeit doch den Nachweis schuldig, warum die von G. favorisierten Voraussetzungen auf den Hebr anwendbar sein sollten.