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Ausgabe:

Mai/2010

Spalte:

547-548

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Frankemölle, Hubert

Titel/Untertitel:

Frühjudentum und Urchristentum. Vorgeschichte – Verlauf – Auswirkungen (4. Jahrhundert v. Chr. bis 4. Jahrhundert n. Chr.).

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2006. 446 S. gr.8° = Kohlhammer Studienbücher Theologie, 5. Kart. EUR 32,00. ISBN 978-3-17-019528-8.

Rezensent:

François Vouga

Die Form der Darstellung, einschließlich des Gesamtaufbaus und der Reihe, in der das Buch erscheint, gehört zur Gattung des Handbuchs. Sein Inhalt ist ein Manifest. Der Titel kündigt einen Überblick an, aber das Vorwort korrigiert dies sofort. Thema ist die In­terpretation des Trennungsprozesses des Christentums vom Judentum und die Aufwertung der Brücken, die den christlichen Kanon mit den jüdischen Schriften verbinden. Gezeigt werden sollen die Kontinuität des Urchristentums mit der jüdischen Schrift und dementsprechend, dass die Ursachen der Trennung in innerjüdischen Auseinandersetzungen zu suchen seien. Der Gattung des Handbuchs entsprechen der Umfang der Stoffe, ihre thematische Gliederung und die ausführlichen, auf die deutschen Veröffentlichungen konzentrierten Literaturhinweise, die jeden Paragraph einführen. Im Stil des Manifestes wird aber nur die Sekundärliteratur genannt, die die zu beweisende These unterstützt. Die umstrittenen Fragen der Interpretation bleiben unerwähnt. Alternative Auslegungen und Rekonstruktionen werden nur dann berücksichtigt, wenn es darum geht, die Positionen der intellektuellen Gesprächspartner zu rehabilitieren (Adolf Loisy, L’Évangile et l’Église) oder als überholt zu erklären (Rudolf Bultmann und das Problem des historischen Jesu, Martin Luther und seine Interpretation der paulinischen Theologie – obwohl die Gegenüberstellung Tora als Heilsweg – Glaube als Heilsweg, die im Schaubild [279] aufgestellt wird, dem Luthertum näherliegt als dem paulinischen Denken). Zitate der Quellen, die als Beweismittel großzügig wie­dergegeben sind, werden gegebenenfalls auch so abgegrenzt, dass sie in die Beweisführung passen. So bestehen die drei Kapitel Röm 9–11 nur noch aus drei Versen: Röm 11,25–27 (282).
Das Buch stellt sich als das Ergebnis eines Lebenswerkes und von 25 Jahren Teamarbeit in Münster und Paderborn dar. Die lange Entstehungszeit erklärt die Fülle des gesammelten Materials, aber gelegentlich auch Wiederholungen, deren didaktische Funktion nicht immer evident ist, sowie den manchmal unterschiedlichen Stand der Interpretation und der Forschung. Nach einer Einleitung, die u. a. zu begrifflichen Definitionen und zur Klärung methodischer Fragen beiträgt (23–41), ist das erste Kapitel (»Die geschichtlichen Voraussetzungen des Christentums«, 42–127) einer geographischen und historischen Beschreibung der Expansion der Griechen und der Entstehung der jüdischen Diaspora in der hellenistischen Zeit und danach der Darstellung der religiösen und literarischen Wechselwirkung zwischen Hellenismus und Judentum bis zum 1. Jh. n. Chr. gewidmet. Das zweite Kapitel bietet eine Interpretation der »theologischen Implikationen«, d. h. im logisch strengen Sinne des Wortes der Voraussetzungen des Trennungsprozesses: »Innerjüdisch-theologische Themen als Ursachen der späteren Trennung von Judentum und Christentum« (128–221), eine Auslegung der Aussagen der hebräischen und hellenistischen Schriften des Judentums über das Verhältnis zwischen Gott und Mensch, über das Handeln Gottes in der Schöpfung und über die Auferstehung der Toten zeigt die Schriftgemäßheit der christlichen Theologie und den jüdischen Charakter der urchristlichen Christologie und aller ihrer Bestandteile (221). Das dritte Kapitel setzt diese Perspektive fort. Die Überschrift ist programmatisch: »Vom Reformjudentum zum (Früh-)Christentum« (222–370). Das Wesen des Christentums wird als Spielart des Reformjudentums definiert. Hervorgehoben werden die Kontinuität des historischen mit dem erhöhten Jesus, die Parallelität der Konflikte zwischen Aramäisch und Griechisch sprechenden christlichen Juden mit den Auseinandersetzungen zwischen hebräischem und hellenistischem Judentum überhaupt und die Treue der paulinischen Theologie zur jüdischen Tradition. Die Belegstellen der Paulusbriefe werden aus ihrem argumentativen Kontext herausgezogen und in eine Darstellung, die der Apg folgt, eingebettet. Das vierte Kapitel sieht in den heiligen Schriften der frühen christlichen Ge­meinden »Einheitsbande in den Trennungsprozessen von Judentum und Christentum« (371–424). Die Kürze und der Zugabecharakter des »Ausblicks« (425–437) über die Entwicklung des Christentums »Von einer jüdischen Reformbewegung zu einer staatlich anerkannten (Welt-)Religion« zeigen die Grenzen des Entwurfs. Zum einen wird die konfliktvolle Geschichte des Verhältnisses zwischen Kirche und Synagoge im römischen Reich ausgespart, zum anderen müsste die Frage der Akzeptanz von Judentum und Christentum in der römischen Gesellschaft als ein Bestandteil der Problematik Judentum – Christentum – Hellenismus betrachtet werden.
Das Unternehmen beeindruckt durch seine Kohärenz und seinen Umfang. Es wirft aber viele Fragen auf. Ich beschränke mich auf drei. Ist die Entscheidung sachgemäß, das hebräische Wort Tora als Begriff der Kontinuität des (auch hellenisierten) Frühjudentums und des »Urchristentums« zu verwenden? Zu fragen wäre, inwiefern die griechisch-hellenistische Vorstellung von nomos zu den Voraussetzungen der Gesetzestheologie des hellenistischen Judentums und des paulinischen Denkens gehört und ob Calvin völlig Unrecht hat, wenn er in seinem Kommentar der evangelischen Harmonie den Gesetzesbegriff des Matthäusevangeliums als Äquivalent des Evangeliums versteht. Auf jeden Fall scheint mir das fast fundamentalistische Festhalten am Tora-Begriff dem Anliegen, über die Bedeutung von innerjüdischen Auseinandersetzungen zu reflektieren, unangemessen. Zweitens: Müsste sich nicht die These, nach welcher die Paulusbriefe der Theologie des Reformjudentums nichts grundsätzlich Neues gebracht haben, mit der Wiederentdeckung des paulinischen Denkens durch die postmarxistische politische Philosophie auseinandersetzen, die Paulus als den Entdecker der individuellen Subjektivität und des Universalismus für die Gründungsfigur des abendländischen Bewusstseins hält (Alain Badiou, aber auch Giorgio Agamben in seinem jüdischen Kommentar des Römerbriefes)? Damit stellen sich drittens die Einheitsbande von Judentum und Christentum in einer anderen Perspektive dar: nicht in der parallelen und hermeneutisch sehr unterschiedlichen Bezug­nahme auf einen zum Teil gemeinsamen Kanon, sondern in der Freude des Dialogs als respektvolle und deswegen klare Auseinandersetzung um der Wahrheit willen.