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Ausgabe:

Mai/2010

Spalte:

542-544

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Claußen, Carsten, u. Jörg Frey [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Jesus und die Archäologie Galiläas. M. Beiträgen v. M. Aviam, J. J. Charlesworth, C. Claußen, R. Deines, S. Freyne, M. H. Jensen, H.-W. Kuhn, K.-H. Ostmeyer, J. Schröter, M. Tilly u. J. Zangenberg.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2008. VIII, 327 S. m. Abb. 8° = Biblisch-Theologische Studien, 87. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-7887-2205-0.

Rezensent:

Christoph Markschies

Seit einiger Zeit widmen sich auch die deutschen Neutestamentler der Frage, ob durch die in den letzten Jahren nochmals gesteigerte Ausgrabungstätigkeit in Galiläa – längst wird nicht mehr nur von Franziskanern an den klassischen Orten Nazareth, Kapernaum und Magdala gegraben – ein neues Licht auf Jesus und seine Bewegung fällt. Jörg Frey hat im Jahre 2005 zwei Tagungen mit den einschlägigen Neutestamentlern durchgeführt und angelsächsische Protagonisten wie Sean Freyne und James H. Charlesworth mit ihren deutschen Kollegen zusammengebracht.
Freilich vermisst man im vorliegenden Band, der die Tagungen dokumentiert, im eigentlichen Sinne archäologische Beiträge, und der, der noch am archäologischsten daherkommt, vermag nicht zu befriedigen. – Heinz-Wolfgang Kuhn illustriert seinen Beitrag, in dem erneut die Identität der Ortslage von et-Tell mit dem biblischen Betsaida/Iulias behauptet wird, mit 17 Abbildungen, Skizzen und Grundrissen (149–183). Kuhn marginalisiert gleich zu Beginn seine Kritiker (»die Identifizierung von et-Tell mit Betsaida, die von einigen wenigen Forschern außerhalb des Grabungsteams in Frage gestellt wird« [156] – angesichts der Finanzierung der Ausgrabung durch Universitäten aus dem sog . bible belt ist auch eher unwahrscheinlich, dass die Kritiker innerhalb des Ausgrabungsteams zu suchen sind); freilich muss Kuhn zugeben, dass der nach literarischen Quellen für die namensgebende Gattin des Augustus, Iulia-Livia, durch Philippus errichtete Tempel nicht gefunden wurde (obwohl praktisch die ganze Hügeloberfläche freigelegt wurde) und auch keines der Gebäude, die uns spätantike und mittelalterliche Pilgerberichte bezeugen. Auf S. 179 erfährt man, dass Jürgen Zangenberg, der den Band mit einer instruktiven Übersicht »Jesus – Galiläa – Archäologie. Neue Forschungen zu einer Region im Wandel« (7–38) eröffnet, zu den »Skeptikern« gehört (er begründet dies auch: 20 f.). Im Beitrag von Charlesworth steht dann zu lesen, dass »zahlreiche Archäologen« nicht davon überzeugt seien, dass et-Tell mit Bethsaida identifiziert werden dürfe; schließlich fehle ein Palast des Philippus (123). Wie nun? Wichtig bleibt an den Ausgrabungen von Kuhn und Kollegen, dass eine andere, traditionell gern vertretene Lokalisierung von Bethsaida (nämlich die verlassene Militärstation el-Aradsch am See) wegen des Fehlens einer größeren Zahl von antiken Überresten nun wohl ausscheidet, wenn entsprechende Sondagen am See sorgfältig durchgeführt wurden. Zangenberg behandelt dagegen auch weniger bekannte Orte wie Philoteria (Beth Jerach/ Khirbet Kerak an der Einmündung der Jordantalstraße in die Uferstraße des Sees Genezareth gelegen: 18–20) und macht in umsichtiger Argumentation deutlich, worin die Fallstricke bei der Auswertung archäologischer Befunde liegen. Wenn sich viele im Neuen Testament erwähnte Örtlichkeiten nicht präzise in Ausgrabungsbefunden identifizieren oder gar (wie Bethsaida oder Kana) nicht wirklich lokalisieren lassen, dann tragen die Ausgrabungen immerhin zur Schärfung des Bildes bei, das die »historische Einbildungskraft« (248) aus den Quellen und Überresten malt.
Die anderen Aufsätze beschäftigen sich eher mit historischen Fragen oder analysieren Quellen: Morten Hørning Jensen behandelt Herodes Antipas in Galiläa (39–73; das Monumentaltor am Südeingang von Tiberias wurde jüngst erneut freigelegt, so dass man die kontroversen Datierungen nun prüfen könnte: 54), Sean Freyne setzt sich mit einem Kritiker über den Quellenwert des Historikers Flavius Josephus für die Rekonstruktion der sozialen Welt Galiläas auseinander (75–92). Michael Tilly interpretiert »Tosefta Moed k.at.an als Zeugnis jüdischen Lebens in Galiläa nach 70 n. Chr.« (129–147), Karl-Heinrich Ostmeyer die synoptischen Gleichnisse (185–208).
Auch informative Sammelbände lassen Lücken. So sehr man die neuere angelsächsische Forschung einbezogen hat, so wenig hat man anregende Impulse der eigenen Tradition aufgegriffen: So spielt beispielsweise der schon vor Urzeiten von Albrecht Alt (gegen u. a. von Nationalsozialisten unternommene Versuche, einen un­jüdischen Galiläer Jesus zu konstruieren; dazu Roland Deines, Galiläa und Jesus, [271–320] 272–277) erhobene Einwand, dass Jesus von Nazareth jedenfalls nach dem Zeugnis der Evangelien offenkundig die hellenisierten Städte Galiläas wie Sepphoris, das »Juwel Galiläas« (Josephus, ant. XVIII 27), Magdala und Tiberias mied, in den Beiträgen nahezu keine Rolle (im Gegenteil: Charlesworth stellt die Frage, als ob sie Alt nie aufgebracht hätte: 110); ob sich Alts These angesichts der neuen Ausgrabungen halten lassen wird, wäre interessant zu diskutieren. Auch Alts Vorgänger in Jerusalem, Gustav Dalman mit seinen herrlichen Bänden über »Arbeit und Sitte in Palästina«, spielt keine Rolle, auch nicht, wenn es um den Fischfang am See Genezareth geht, zu dem er auch für die Antike gültige Beobachtungen beigetragen hat (260). Gelegentlich wäre auch facharchäologischer Rat nützlich gewesen: Die von den italienischen Ausgräbern als »Minisynagoge« bezeichnete Struktur in Mag­dala ist eindeutig ein (spätantikes) Brunnenhaus (Charlesworth, 111: »Aber worum handelt es sich genau?«), aber in den jüngst ergrabenen, nördlich der bisherigen Ausgrabung gelegenen kaiserzeitlichen Vierteln liegt eine bislang noch nicht publizierte Synagoge, die von Struktur und Details stark an die eindeutig datierte Synagoge von Gamla im Golan erinnert.
Längst könnte man zu den zwei hier dokumentierten eine dritte Tagung veranstalten, vielleicht mit etwas mehr facharchäolo­gischer Beteiligung: Das herodianische Magdala wird beispielsweise nun nicht mehr nur von den Franziskanern, sondern vom israelischen Antikendepartement großflächig ergraben, und in Tiberias ist mitten im modernen städtischen Müllplatz jüngst ein ehemals prachtvolles Theater freigelegt worden. Aber das alles konnte man natürlich 2005 noch nicht wissen. Den Herausgebern ist zu danken, dass sie mit ihrem Band ungeachtet aller noch unerfüllt gebliebenen Wünsche wichtiges Material für die Diskussion bereitgestellt und erschlossen haben.