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Ausgabe:

Mai/2010

Spalte:

536-538

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Taylor, Charles

Titel/Untertitel:

Ein säkulares Zeitalter. Aus d. Engl. v. J. Schulte.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2009. 1298 S. 8°. Geb. EUR 68,00. ISBN 978-3-518-58534-4.

Rezensent:

Christian Polke

»Was besagt die Behauptung, wir lebten in einem säkularen Zeitalter?« (11) – mit dieser scheinbar simplen Frage eröffnet der kanadische Philosoph Charles Taylor sein jüngstes Meisterwerk, ein Opus magnum von über 1200 Seiten. Dabei geht es nicht nur um die historische Nacherzählung dessen, was sich seit 1500 im transatlantischen Raum der westlichen Hemisphäre in kultureller Hinsicht auf dem Gebiet der Religion verändert hat. Wie stets bei T. dienen die geschichtlichen Tiefenbohrungen zumindest auch der Infragestellung einiger Selbstverständlichkeiten, mit denen wir es uns in unserem ach so säkularen Zeitalter gemütlich gemacht haben. Dazu unterscheidet T. drei Arten von Säkularität: die Trennung von Religion und (politischer) Öffentlichkeit, die Vorstellung vom Rückgang der Religion überhaupt und die für ihn eigentlich zentrale Frage, welche Bedingungen für den Glauben in einer säkularen Zeit bestehen. Säkulares Zeitalter, das meint Gesellschaften, in denen der Glaube an Gott nur noch "eine Option unter anderen" (14) darstellt und damit seine kulturelle Vormachtstellung endgültig verloren hat.
Der Aufstieg der säkularen Option als Konkurrenz zum (christlichen) Glauben ist mit einer radikal immanenten Sichtweise auf Kosmos, Gesellschaft und menschliche Existenz verbunden. Ihr kommt heute in vielen Ländern der westlichen Welt eine ähnlich starke Plausibilität zu, wie dies für den Glauben an die Existenz und das (erfahrbare) Wirken Gottes am Ende des Mittelalters galt. Denn inzwischen ist viel passiert, und genau diesen Wandel hin vom porösen zum buffered self, zum abgepufferten Selbst (79), wie Joachim Schulte einigermaßen glücklich ins schwerfällige Deutsch übersetzt, beschreibt T. in seiner überreichen Erzählung. Den einzelnen Stationen kann hier gar nicht weiter nachgegangen werden. Eines sollte allerdings nicht übersehen werden: Beide Formen, die des immanenten Humanismus wie die des Glaubens, sind keine monolithischen Gebilde. Vielmehr weisen sie eine große Bandbreite an möglichen Gestaltungen auf, für die dann einzelne Größen der Geistesgeschichte typbildend werden können. Dehalb widmet sich T. in seinem Buch sowohl ekstatischen Nihilisten (Nietzsche, Bataille) wie atheistischen Humanisten (Camus, Sartre) oder radikalen Materialisten (Holbach). Die Geschichte der Herausbildung des säkularen Zeitalters beginnt in der Epoche der Reformation, weil sowohl protestantische wie katholische REFORM-Bemühungen mit ihren Verinnerungs- und Individualisierungstendenzen den Aufstieg der säkularen Option in Aufklärung und Romantik überhaupt erst ermöglicht haben.
Eine gewisse Brückenfunktion nimmt dann das 17. Jh. mit seiner Ausbildung der unpersönlichen Ordnung als Hintergrundmatrix für Welt- und Gesellschaftsbilder ein. Doch der eigentliche Nova-Effekt, wie T. etwas unklar und nicht immer überzeugend darlegt, stellt das 19. Jh. dar. Erst jetzt »wird der Unglaube, wie man sagen könnte, erwachsen. Er entwi­ckelt Festigkeit und Tiefe, … kann für viele Menschen vieler Milieus« (628) attraktiv werden. Das Zeitalter der Mobilisierung tut sein Übriges. Mehr noch als in technologischer Hinsicht schreitet in ihm die Mobilisierung von Religion global voran. Die Geschichte der religiösen Globalisierung wird zur Missionsgeschichte. Bei alldem zeigt sich: In einem ist unser säkulares Zeitalter jedenfalls nicht säkular, nämlich hinsichtlich seiner kulturellen Herkunft. Ohne die vormalige Vormachtstellung der Religion und die nachfolgende Geschichte der »Enteignung« (Blumenberg) würde der Antagonismus von religiös und säkular, den man bei T. nicht gleichsetzen darf mit der Differenz von immanent und transzendent, gar nicht plausibel. Interessanter ist freilich, wie sehr sich die Dinge in unserer Gegenwart nochmals verschärft und zugleich verändert haben. Denn die Konditionen für beides, Glauben wie Unglauben, sind nicht leichter geworden. Beide stehen vor ähnlichen Herausforderungen an den »unruhigen Fronten der Moderne« (1179), so unterschiedlich ihre Zukunftschancen auch sonst zu bewerten sind. Das ist es, was einseitige Meistererzählungen, oftmals zugunsten der säkularen Option, allzu häufig übersehen. Es ist nun insbesondere der dritte Teil des Buches, der Fragen stellt, an denen die Theologie nicht vorübergehen sollte. Auf ihn will ich mich konzentrieren.
Mit der Durchsetzung der verinnerlichten und rationalisierten Lebensführung, derzufolge »Gott Adverbien liebt« (so T. schon in den Quellen des Selbst), entfernt sich das Christentum in vielen seiner Konfessionen von seinen inkarnatorischen Wurzeln. Diese von T. folglich als exkarnatorisch bezeichneten Tendenzen lassen sich an der Auflösung von rituellen Zeiten (sein Beispiel: der Karneval) ebenso ablesen wie an der Tendenz, Elemente der Leiblichkeit ganz aus dem Bereich der Religion zu verbannen. Der Glaube als ganzheitliche Öffnung des Menschen über dieses sein irdisches Leben hinaus verliert damit an Bodenhaftung mit der gelebten Existenz. Die supererogatische Macht der Agape meint jedenfalls mehr als Sozialstaat und Philanthropie (vgl. z. B. 1153 ff.1161 ff.), wenngleich T. diese ebenso wie die Durchsetzung von Menschenrechten und globalem Solidaritätsgefühl als Leistungen der Moderne würdigt; und zwar so, dass keine monokausalen Ableitungen entweder aus dem Geiste des Christentums oder geradezu gegen ihn postuliert werden. Darüber hinaus traut sich T. etwas zu, von dem heutige Theologen beider Konfessionen lieber schweigen: Er geht den Verbindungen von Religion und Sexualität nach, sieht klar den ambivalenten Stellenwert, den die sexuelle Revolution in den 68er Jahren in der Religionsgeschichte der Moderne einnimmt, und redet dennoch keiner restriktiven Sexualmoral das Wort. Auf diese Weise gelingt es T., selbst scheinbar überkommene Ideale von Askese und zölibatärer Abstinenz in ihrer spirituellen Dimension zu würdigen. Eine Glorifizierung der sexuellen Revolution überließe schließlich nur »Hugh Hefner und der Zeitschrift Playboy« (1025) die Diskurshoheit, wie T. ironisch kommentiert.
Auch das andere große Reizthema der Feuilletonisten unserer Zeit, der Zusammenhang von Religion und Gewalt, wird umfassend berücksichtigt. Dabei sind T.s Ausführungen nicht minder provokativ. Denn für ihn kann sich in Gewalterfahrungen ebenfalls der Versuch einer Transzendierung des Alltäglichen ausdrücken. Gewalt kann Bestandteil des Außer-Ordentlichen sein, in diesem Sinne dem Festlichen ähnlich. So wesentlich also ihre Bändigung und Zivilisierung sind, so zwingend erscheint die Einsicht, sie nicht endgültig zum Verschwinden bringen zu können. Dazu scheint Gewalt zu tief im Menschen verankert zu sein. Wenn der christliche Glaube demnach von der Macht der Sünde redet, wenn er sich in Kategorien von Sühne, Opfer und Schuld (vgl. etwa 1082 ff.) artikuliert, dann erweist er sich gerade dadurch realistischer als andere Positionen. Jedenfalls müssen auch die säkularen Optionen Auswege aus dem in den Dillemmata von Rausch und Gewalt gefangenen buffered self formulieren. Indem die Antwort des Glaubens weit über melancholische Sinnsuche hinausgeht, wird der Ernst der Religion, das Sperrige an ihr, nicht verabschiedet. Es liegt etwas Anspruchsvolles und zugleich Befreiendes darin, das Selbst auf den Anderen hin zu transformieren, auf den Anderen als Gott genauso wie auf den Anderen als Nächsten.
Ein letzter Gesichtspunkt, der für die evangelische Theologie durchaus von Interesse sein könnte, soll wenigstens noch kurz Erwähnung finden. Gegen Ende des Buches, unter der nicht ganz passenden Kapitelüberschritt »Bekehrungen« (vgl. 1205–1279), skizziert T. seine Ekklesiologie. Kirche bildet sich nach seiner Vorstellung – unter Rückgriff auf so unterschiedliche Denker wie Ch. Péguy, J. Maritain und I. Il­lich– in Netzwerken der Agape, in denen exemplarische Individuen und Gruppen ihren Glauben miteinander teilen und leben, und in denen vor allem durch rituelle Praktiken versucht wird, Tradition und Zeitgenossenschaft miteinander zu verbinden. Zeit und Raum bilden dabei keine Grenzen. So porös das eigene Selbst im Glauben als Öffnung zum Transzendenten wird, so durchlässig werden die von ihm bestimmten Gemeinschaften. Die katholischen Elemente dieser mystisch inspirierten Vorstellung sind deutlich. Zugleich spricht hier aber ein Anwalt des II. Vatikanum. Und ebenso klar sind die vielfältigen Anknüpfungsmöglichkeiten, die sich daraus für eine oftmals ritus- wie traditionsvergessene protestantische Ekklesiologie ergeben könnten. Ich breche hier ab, wohlwissend, dass das bislang Erörtere fragmentarisch bleibt.
Bei allem Lob, das T.s Untersuchung ohne jeden Zweifel ge­bührt, bleiben Fragen offen. Zu Recht wurde moniert, dass der argumentative Stellenwert, den das von T. selbst angeführte Achsenzeittheorem einnimmt, unbestimmt bleibt: Welche Rolle spielt die Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz beispielsweise beim Ausgangspunkt seiner Darlegungen im Spätmittelalter? Und: Was trägt es zur Analyse neureligiöser Bewegungen in unserer mehrheitlich »postdurkheimianischen« Gegenwart bei? Nur kurz wird auf die Arbeiten von S. Eisenstadt oder R. Bellah verwiesen. Unbefriedigend bleibt zudem der dürre Schluss, in dem der T. versucht, zwei große Erzählweisen der Säkularisierung zusam­menzubinden. Wie sich dabei allerdings genau die vom Christentum selbst ausgehende »Reform«-Erzählung mit der »Geschichte des theoretischen Abfalls« als Entzauberung der Welt zueinander verhalten, bleibt offen (vgl. 1280 ff.). Auch die Bedeutung der Reformation und der aus ihr entsprungenen, in sich sehr disparaten Protestantismen für die Entstehung der modernen Geisteslage stellt T. wohl zu sehr in seinen, die weiteren, vor allem katholischen Re­formbewegungen integrierenden Kontext. Zu wenig wird zwischen den verschiedenen Konfessionskulturen ab dem 16. Jh. differenziert. Hinzu kommt, dass die institutionellen Seiten des Aufstiegs der säkularen Option gegenüber anderen Aspekten in den Hintergrund zu geraten drohen. Die hierfür einschläge Rechtsgeschichte zeigt aber, dass es beispielsweise im 17. Jh. harte Auseinandersetzungen zwischen römischer Kanonistik und reformiert-neustoischer Jurisprudenz gab, und die Geburt des öffentlichen wie zivilen Rechts maßgeblich von Letzterer vorangebracht wurde. Warum? Dies zu klären, läge innerhalb des Untersuchungsansatzes von T., bleibt aber unerwähnt. Schließlich lässt sich zumindest fragen, so sympathisch das offene Bekenntnis T.s zur eigenen konfessionellen Identität auch ist, ob ihm damit immer die notwendige Portion Standortreflexivität gelingt, die seine Arbeit erfordert. An manchen Stellen scheinen mir seine eigenen Vorstellungen von einem zeitgenössischen Christentum allzu leicht als normative Kriterien zu fungieren.
Diese und ähnliche Anfragen sind nicht neu, und lassen sich auch an T.s Vorgänger im Bemühen um eine soziologisch aufgeklärte Ideengeschichte des Christentums stellen. Allen voran vielleicht an Ernst Troeltsch, dessen diesbezügliche Arbeiten – wie ich meine – den Arbeiten des späten T. mit am nächsten stehen dürften. Doch schon dieser Vergleich zeigt, mit welch intellektueller Spannweite wir es hierbei zu tun bekommen. Das lässt die Vermutung zu, dass A Secular Age schon bald seinen Platz unter den Klassikern der Geistesgeschichte einnehmen wird.

Hamburg/Uppsala Christian Polke