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Ausgabe:

Mai/2010

Spalte:

534-535

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Rohe, Mathias

Titel/Untertitel:

Das islamische Recht. Geschichte und Gegenwart.

Verlag:

München: Beck 2009. XV, 606 S. 8° = Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung. Geb. EUR 39,90. ISBN 978-3-406-57955-4.

Rezensent:

Hartmut Kreß

In der Bundesrepublik Deutschland leben ca. 4,3 Millionen Menschen mit muslimischem Hintergrund. Gesellschafts- und rechtspolitisch ist es zum Schlüsselthema geworden, die Konvivenz von Bevölkerungsmehrheit und muslimisch geprägter Minderheit zu stabilisieren. Ein Kernproblem besteht freilich darin, dass im Islam das Recht, der Staat und die Religion miteinander verschränkt werden, wohingegen sich für die westliche säkularisierte Sicht spätes­tens seit den Konfessionskriegen, der Aufklärung und dem Konstitutionalismus des 19. Jh.s der Staat und die Rechtsordnung aus der Umklammerung durch die (christliche) Religion befreit haben. Daher ist es von hohem Interesse, welchen Spielraum islamische Rechtstheorien dafür eröffnen, gegenüber den westlichen säkularen Staats- und Rechtsordnungen anschlussfähig zu werden.
Der Erlanger Rechtswissenschaftler und ausgewiesene Islamkenner Mathias Rohe hat nun ein materialreiches Buch vorgelegt, welches das islamische Recht historisch darstellt und sich mit zentralen Gegenwartsproblemen befasst. Das Buch ist in vier Teile gegliedert. Der 1. Teil behandelt die ältere Geschichte des islamischen Rechts, der 2. Teil Entwicklungen seit dem 19. Jh. Im 3. Teil geht es darum, inwieweit sich islamisches Denken aktuell auf nichtislamische weltliche Rechtsordnungen einzustellen vermag. Der Um­stand, als Minorität in fremden Kulturen zu leben, stellt für Muslime ein Novum dar, auf das sie geschichtlich nicht vorbereitet sind. Der 3. Buchteil beleuchtet das Verhältnis des Islam zum staatlichen Recht in Indien, Kanada und Deutschland als Beispielländern. Im 4. Teil erfolgt ein Resümee zu Perspektiven sowie Aporien des islamischen Rechts. Dieses muss einen Standort zwischen den Polen der Säkularisierung und der Re-Islamisierung finden.
R.s Buch vermittelt durchgängig einen instruktiven Eindruck vom Binnenpluralismus und von der Dynamik in den verschiedenen islamischen Rechtsschulen. Sogar die Scharia selbst lässt sich unterschiedlich deuten – als unmittelbar auf Gott zurückgehend, aber auch als menschliches Konstrukt (12) und als nie zu Ende kommender Interpretationsprozess (17). Schon der frühe Islam kannte in der Rechtsauslegung ein breites Methodenspektrum, zu dem etwa der Analogieschluss gehört (62). Im Zuge ihrer Rechtsfindung ori­entierten sich islamische Autoritäten an übergeordneten Rechts­zwecken: Das Recht soll den fünf Gütern Religion, Leben, Verstand, Nachwuchs und Eigentum nutzen (16.66). Vor diesem geschichtlichen Hintergrund, der für Rechtsfortbildungen offen ist, lassen sich in der Gegenwart innerislamisch manche Anpassungen an moderne ethische und gesellschaftliche Standards bewerkstelligen. So lässt sich z. B. die Polygamie problematisieren (71.214) oder das Verbot, Zins zu nehmen, im islamic banking umgehen (116 f.238). Ganz zu Recht erwähnt R. ferner die »säkulare Ausrichtung vieler Muslime« (338), durch die in westlichen Ländern innerislamische Modernisierungsprozesse zum Ausdruck gelangen.
Andererseits treten in dem Buch die formalen sowie materialen Anachronismen des islamischen Rechts zutage. Das Leitbild des demokratischen Staates, der auf der Volkssouveränität gründet, wird durch die Idee der alleinigen Souveränität Gottes konterkariert (244). Konkret stellen die Ungleichbehandlung der Frau (174), das Verbot des Glaubensabfalls (134 f.256), Desiderate im Umgang mit dem Kindeswohl (232) oder Regelungen des Erbrechts zulasten von Nichtmuslimen (102) bis heute harte Problempunkte dar. In der Bundesrepublik Deutschland brechen juristische Konflikte etwa bei Ehescheidungen, der Versorgung der geschiedenen Ehefrau oder bei der Bewertung von Zweitehen auf (351 ff.360). Das Buch konzentriert sich auf Themen des Ehe-, Vertrags-, Straf-, Wirtschafts- und Fremdenrechts. Daher gelangen sonstige Konfliktfelder – im Medizinrecht, zur Patientenautonomie oder zu einzelnen Menschenrechte n– nicht oder nur beiläufig zur Sprache. Aus gutem Grund betont R. immer wieder die Notwendigkeit der Grenzziehung gegenüber bestimmten islamischen Normen. Der Maßstab sei der nationale oder der internationale ordre public (351 ff. u. ö.). Aus Sicht des Rezensenten ist es allerdings fraglich, wie tragfähig diese Kategorie letztlich ist. Denn der ordre public lässt sich nicht präzis definieren; er ist historisch wandelbar, unter Umständen sogar instrumentalisierbar und seinerseits ideologieanfällig. Um unvertretbare islamisch-religiöse Vorstellungen ab­zuwehren und Betroffene zu schützen, ist vielmehr auf den indi­viduellen Grundrechtsschutz zu rekurrieren, auf den der Staat und die Rechtsordnung verpflichtet sind, und bieten Menschenrechtskonventionen, z. B. die UN-Kinderrechtskonvention, An­halts­punkte.
Aus der Lektüre des Buches gewinnt man den Eindruck, dass es völlig offen ist, in welchem Zeitraum und welchem Maß islamisches Denken zu den prozeduralen und materialen Standards des modernen Rechts aufschließen wird. Man sollte aber nicht verkennen, wie schwer dies auch den christlichen Kirchen fiel. Dem Islam steht in bestimmter Hinsicht die katholische Kirche nahe, da für sie – anders als für sonstige christliche Konfessionen oder andere Religionen – die Verrechtlichung der Glaubens- und der Sittenlehre charakteristisch ist. Die katholische Kirche hat erst 1965 Menschenrechte, Demokratie und die Gewissens- oder Religionsfreiheit als staatlich garantierte Grundrechte anerkannt. Innerkatholisch gilt der Austritt aus der katholischen Kirche bis heute als Apostasie und steht unter Kirchenstrafe. Schwangerschaftsabbruch, Ehescheidung, gleichgeschlechtliche Partnerschaften und anderes werden katholisch-kirchenrechtlich nicht geduldet. In­nerkatholisch sind bis heute also Restriktionen anzutreffen, die hinter dem modern-aufgeklärten Niveau säkularer Rechtsstaaten zurückbleiben. Die Problematik des Islam besteht jedoch zusätzlich darin, dass nicht nur der Binnenraum der Religion, sondern der Staat selbst unter das Vorzeichen des religiösen Rechts gestellt wird. Anhand von R.s Buch wird deutlich, dass das islamische Staats- und Rechtsverständnis zurzeit einen Traditionsbruch zu bewältigen hat, der das Zentrum der islamischen Identität be­rührt.
Wichtig sind die Hinweise darauf, dass die heutigen säkularen Staaten ihrerseits dazu herausgefordert sind, über neue Weichenstellungen nachzudenken. Hierzu gehört die Frage, ob ein Staat auf religiöse Pluralisierung rechtspolitisch in der Form reagieren sollte, ein »Outsourcing« vorzunehmen und bestimmte rechtliche Re­gelungen (z. B. Eheschließung) sowie Konfliktregulierungen (z. B. Ehescheidung) staatsexternen, d. h. konkret: islamischen Schiedsstellen zu überlassen. In dieser Hinsicht hat Kanada eine Vorreiterrolle übernommen (320; vgl. 381 zu Sharia Councils in Großbritannien). Insgesamt überwiegen – auch in der Darstellung R.s (325 ff. )– die Einwände. Denn es würden Parallelrechtsordnungen etabliert, neopatriarchale Strukturen stabilisiert, Grup­pendruck erzeugt und Segregation gefördert. Davon bleibt unberührt, dass in Zukunft darauf zu achten sein wird, kulturelle und religiöse Vorstellungen des Islam auch in Deutschland verstärkt bei Verfahren der Mediation zu berücksichtigen, die unter öffentlicher Kontrolle durchgeführt werden. – Insgesamt trägt R.s Buch sehr dazu bei, dass zur Kompatibilität des islamischen Rechts mit der westlichen Moderne ein differenziertes Bild zustande kommt.