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Ausgabe:

Mai/2010

Spalte:

532-533

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Murken, Sebastian

Titel/Untertitel:

Neue religiöse Bewegungen aus religionspsychologischer Perspektive.

Verlag:

Marburg: Diagonal-Verlag 2009. 316 S. m. Abb. u. Tab. gr.8°. Kart. EUR 35,00. ISBN 978-3-939346-11-1.

Rezensent:

Michael Utsch

Der Band ist die leicht überarbeitete Fassung der kumulativen Habilitation, die Sebastian Murken auf Anregung von Hubert Seiwert im Fachgebiet Religionswissenschaft an der Universität Leipzig im Jahr 2005 abgeschlossen hat. M., der als Diplom-Psychologe und Psychotherapeut in einer psychosomatischen Klinik beschäftigt ist und als Religionswissenschaftler u. a. den Religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienst in Marburg mit begründete, hat in den letzten Jahren auf diesem Gebiet geforscht. Er war als Gutachter für die Enquete-Kommission »Sogenannte Sekten und Psychogruppen« (1996–1998) tätig, und von 2002 bis 2007 hat er das von der Volkswagen-Stiftung geförderte Forschungsprojekt »Selbst gewählte Mitgliedschaft in neuen religiösen Bewegungen« geleitet. Das Buch enthält sieben Beiträge aus diesem Themenfeld, die bereits in Zeitschriften und Büchern zwischen 1997 und 2004 veröffentlicht worden sind (und seit geraumer Zeit als PDF-Dokumente im Internet verfügbar sind). Erweitert wurden die Beiträge um eine religionswissenschaftliche Einordnung des Themas in der Einleitung und abschließende Reflexionen zu Möglichkeiten und Grenzen der Feldforschung.
Das Einleitungskapitel beschreibt den Anspruch, den bislang vernachlässigten Forschungsbereich neuer religiöser Bewegungen mittels psychologischer Theoriebildung und Methodik neu zu er­schließen und besser verstehen zu können. M. geht dabei davon aus, dass »Deutschland quantitativ gesehen ein religiös sehr homogenes Land [ist]. Die Evangelische und Römisch-Katholische Kirche zählen je ca. 26,5 Millionen Mitglieder und damit zusammen ca. 90 % derjenigen, die überhaupt einer religiösen Gemeinschaft [inkl. Islam] zuzurechnen sind« (21). Eine solche nominelle Zuordnung übersieht allerdings die weitreichenden Pluralisierungsprozesse und Milieubildungen innerhalb der traditionellen Strukturen, die seit einigen Jahren genauer analysiert werden. Gerade aus psychologischer Sicht verwundert es, wenn für die Erforschung religiöser Bindungen derart allgemeine und oberflächliche Kategorien zu­grunde gelegt werden.
Seit Pfarrer Haack 1974 vor den »Neuen Jugendreligionen« ge­warnt habe, sei eine Flut von kritischer Literatur entstanden. Seitdem hätten die Kirchen das Monopol über die Information zu sog. Sekten übernommen. Als Religionswissenschaftler möchte M. wertneutral mit dem Sektenthema umgehen und grenzt sich dafür explizit zur Theologie ab, die er als voreingenommen wahrnimmt. Durch die Einführung psychologischer Kriterien »als Referenzpunkte einer Kosten-Nutzen-Analyse religiösen Verhaltens« eröffne sich die Möglichkeit, »Aussagen über die Adaptivität oder Dysfunktionalität bestimmter religiöser Phänomene zu treffen, ohne dabei die eigene subjektive Wertung zum Maßstab zu ma­chen« (17). M. nimmt nicht zur Kenntnis, dass der Großteil kirchlich-apologetischer Arbeit nicht an subjektiven Bewertungen oder dem christlichen Wahrheitsanspruch orientiert ist, sondern das Wohlbefinden der Sektenmitglieder im Auge hat. Ein Schwerpunkt der kirchlichen Weltanschauungsarbeit besteht darin, auf religiöse Fehlentwicklungen hinzuweisen und deutlich zu machen, wie sich religiöse Autorität von ihrem Missbrauch unterscheidet. Diese Unterscheidung hat die Würde und Freiheit des Einzelnen im Blick. Bedauerlicherweise hat M. diesbezügliche Erfahrungen und Einsichten zum Umgang mit fremder Religiosität, wie sie etwa in der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen seit 50 Jahren vorliegen, aufgrund ihrer theologischen Provenienz nicht berücksichtigt.
In seinen Studien versucht M., die Kosten-Nutzen-Perspektive im Blick zu haben und differenzierte Ergebnisse zu erhalten. Aufgrund seiner Untersuchungen kann er manche Vorurteile zurück­weisen. So wird eine einheitliche »Sekten-Persönlichkeit« bestritten. Die Mitgliedschaft zu einer neuen religiösen Bewegung könne auch zu einer Verbesserung des psychosozialen Befindens beitragen, allerdings könnten die Gruppen auch wichtige Entwicklungsaufgaben verhindern. Im Rückgriff auf die Arbeiten der Enquete-Kommission wird nochmals ausführlich das Modell der Bedürfnis-Kult-Passung dargestellt, wonach ein bestimmtes Gruppenprofil einer neuen religiösen Bewegung genau den Bedürfnissen einer Person entspreche und deshalb hilfreich sein könne.
In eigenen Studien hat M. die psychosozialen Konflikte im Zu­sam­menhang von neuen religiösen Bewegungen untersucht, konkret durch Befragungen von Mitgliedern der Neuapostolischen Kirche, der Zeugen Jehovas und Pfingstkirchen. Unter Rückgriff auf die Bewältigungstheorie Pargaments analysiert M. die strukturierten Interviews, die mit 71 Mitgliedern der drei christlichen Sondergemeinschaften geführt wurden. Untersucht wurden allerdings nur Neumitglieder, die maximal seit zwei Jahren aus eigener Motivation Teil der Gruppe wurden, also getauft oder versiegelt worden waren. Es erstaunt nicht, dass bei einer solchen Stichprobenselektion herauskommt, dass eine neue religiöse Bewegung zur Lösung von Konflikten und zur Verbesserung des subjektiven Wohlbefindens beiträgt. Leider ist nicht untersucht worden, was viel häufiger der Fall ist und nicht selten zu massiven Konflikten führt: weshalb nämlich Menschen, die in eine solche Gruppe hineingeboren wurden und eine Zeitlang von ihren Angeboten profitierten, oft erst in späteren Jahren die massiven Einschränkungen und Kontrollen wahrnehmen, die ihre Entwicklung behindern und bis hin zu seelischen Störungen führen können.
Ohne Zweifel steuern psychologische Kategorien wichtige As­pekte bei, um religiöses Erleben und Verhalten besser zu verstehen und zu erklären. Der Arbeit ist es gelungen, manche Vorurteile gegenüber »Sekten« auszuräumen. Es wird darauf hingewiesen, dass Religionen nützliche und schädliche Auswirkungen haben können. Allerdings könne die empirische Forschung keine eindeutigen Ergebnisse vorlegen, wann und welche Religion als »gut« oder »schlecht« anzusehen sei. Erst eine Analyse der komplexen Person-Situation-Interaktion ermögliche hier genauere Aussagen. Auf anregende Weise hat M. aktuelle psychologische Beziehungsmodelle mit religiösen Fragestellungen verknüpft. Durch das Diktum einer »wertneutralen« Religionswissenschaft wurden die Fragestellungen und Hypothesen der empirischen Studien allerdings in eine Richtung gewiesen, die einen großen Teil der bestehenden Konflikte in und um diese Gemeinschaften schlicht ausgeblendet hat.
Aufgrund des früheren Abschlusses einzelner Beiträge konnten aktuelle Entwicklungen und Literatur keine Berücksichtigung finden, was be­sonders bei der ökumenischen Annäherung der Neuapostolischen Kirche und neuen Studien zu den Zeugen Jehovas ins Gewicht fällt (B. Deckert: All along the Watchtower. Eine psychoimmunologische Studie zu den Zeugen Jehovas, Göttingen 2007). Darüber hinaus stört die uneinheitliche Zitierweise: Bei zwei Kapiteln finden sich die Literaturangaben in den Fußnoten, ansonsten in den Endnoten.