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Ausgabe:

Mai/2010

Spalte:

528-532

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Haeffner, Gerd [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religiöse Erfahrung II. Interkulturelle Perspektiven.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2007. 272 S. gr.8° = Münchener Philosophische Studien. Neue Folge, 26. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-17-019417-5.

Rezensent:

Gesche Linde

Wie schon sein 2004 erschienener Vorgänger (Religiöse Erfahrung. Ein interdisziplinärer Klärungsversuch, vgl. ThLZ 131 [2006], 912 f.) ist auch dieser Band aus der Arbeit des von 1999 bis 2005 durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft geförderten Graduiertenkollegs »Der Erfahrungsbegriff in der europäischen Religion und Religions­theorie und sein Einfluss auf das Selbstverständnis außereuropäischer Religionen« an der Hochschule für Philosophie München in Verbindung mit der Ludwig-Maximilians-Universität München hervorgegangen. Er verdankt sich einem im Ok­tober 2005 veranstalteten Symposion zum Abschluss der zweiten und letzten Förderperiode und enthält 16 Texte unterschiedlichs­ten Inhalts und unterschiedlichster Methodik. Vorangestellt sind vier Aufsätze, die auf Vorträge auswärtiger Gastprofessoren zu­rück­gehen; danach folgen in sechs thematisch sortierten Zweierblöcken Beiträge der Graduierten.
Angesichts des breiten Spektrums lässt sich ein roter Faden am ehesten in der von dem Herausgeber Gerd Haeffner in seiner Einführung formulierten Feststellung erkennen, dass die »Zeit klar abgegrenzter Kulturräume vorbei« sei und stattdessen vielfältige »osmotische Prozesse« (10) stattfänden. Solche osmotischen Prozesse werden gleich in dem ersten Beitrag von der Frankfurter Japanologin Lisette Gebhardt nachgezeichnet, die darauf aufmerksam macht, dass nicht nur die westliche Religionswissenschaft mit ihrem seit ca. 1900 dominierenden Erfahrungsbegriff ein verzerrtes Bild der asiatischen Religionen produziert habe, das erst seit Jüngerem einer Korrektur unterzogen werde, sondern dass heute umgekehrt die asiatischen, insonderheit japanischen Literaten sich des solchermaßen eingewanderten Erfahrungsbegriffs bedienten, um mittels des Kunstgriffs einer »Selbstorientalisierung« asiatische Spiritualität zu thematisieren: zumeist in gesellschaftskritischer Absicht bzw. als Angebot zur Lebensbewältigung.
Nach Japan und in das Dickicht der wechselseitigen Transformation von Konzeptionen und Begrifflichkeiten führen auch die Aufsätze von Maximiliane Demmel und Ralf Müller. Demmel beschreibt anhand von Enzyklopädien und Wörterbüchern des 19. Jh.s die Rezeptionsgeschichte der deutschen bzw. angelsächsischen Begriffe »Erfahrung«, »Erlebnis« und »Empirismus«. Müller widmet sich der Rezeption des Zen-Buddhisten Dōgen Kigen bei verschiedenen Autoren zu Beginn des 20. Jh.s, angebahnt durch den Buddhologen Suzuki Daisetsu Teitaru, der seinerseits etliche Jahre bei dem Open Court-Herausgeber Paul Carus in den USA verbrachte, dabei mit den Varieties von William James Bekanntschaft machte und schließlich einen dicht an diesen angelehnten Erfahrungsbegriff entwickelte.
Die japanische Perspektive ist schließlich auch bei dem Religionsphilosophen James W. Heisig präsent, der darauf hinweist, dass das Verhältnis von »doctrine« und »religious experience« bzw. »objective certitude« und »personal certitude« im Buddhismus und im Christentum je unterschiedlich bestimmt werde: Aus östlicher Sicht werde die Wahrheit religiöser Aussagen primär an (subjektiver) Erfahrung gemessen anstatt an der Übereinstimmung mit überlieferten Texten bzw. mit (objektiven) Tatbeständen, und zwar (anders als im Christentum) nicht an einer eschatologisch zu erwartenden Erfahrung, sondern an der je ge­genwärtigen; der Buddhismus sei insofern als »performative philosophy« (45) zu betrachten. Das Christentum, das dieser Auffassung historisch in der Mystik am nächsten gekommen sei, wie Heisig am Beispiel Meister Eckharts zeigt, könne heute von der Kyoto-Schule lernen, sich »a sense of humility towards doctrine« wieder neu anzueignen, »that has long suffocated under the weight of traditional theology« (53).
Der Westen wird zunächst von dem katholischen Sozialwissenschaftler Karl Gabriel in den Blick genommen. Gabriel bietet, an­setzend mit dem europäischen Mittelalter, eine breit angelegte Beschreibung derjenigen Prozesse, die das Verhältnis zwischen der christlichen Religion (als einer bestimmten Form der – sodann kommunizierten und sozial stabilisierten – individuellen Transzendenzerfahrung) einerseits und ihrer Organisationsgestalt, der Kirche, andererseits immer wieder umgestaltet hätten. Nachdem es in der Moderne zu einer Verkirchlichung des Christentums und gleichzeitigen Entkirchlichung anderer Gesellschaftsbereiche ge­kommen sei, hätten die Bindungen an die Institution sich heute aufgelöst und einer radikalen, bedürfnis- und erlebnisorientierten Individualisierung der religiösen Erfahrung Platz gemacht. Ab­schließend kontrastiert Gabriel, vor dem Hintergrund der jüngs­ten Rückkehr der Religionen in die Öffentlichkeit, das Konzept einer globalen Zivilreligion (Roland Robertson) mit dem von ihm selbst favorisierten Modell einer globalen Zivilgesellschaft, zu der die Religionen jeweils beizutragen hätten (José Casanova). – Mario Fischer befasst sich mit dem »Wandel des Erlebnisbegriffs« (Untertitel) in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jh.s: Das Erlebnis, das den gemeinsamen Referenzpunkt ganz unterschiedlicher Bewegungen im ausgehenden Kaiserreich und der Weimarer Republik, etwa der Wandervogelbewegung, des Freikörperkults oder auch der Kriegsbegeisterung vieler Jugendlicher, gebildet und dabei einer »Legitimation des Neuen« (154) gedient habe, sei dem Begriff nach zum Schluss so inflationär aufgetreten, dass dieser zum Gegenstand philosophisch-theologischer Kritik (Husserl, Heidegger; Johannes Müller) werden konnte.
In dieselbe Zeit führt der Aufsatz von David Käbisch (neben Schwöbel der einzige evange­lische Theologe unter den Autoren), der die psychologischen Studien des Religionspädagogen Gerhard Bohne zwischen 1920 und 1926 beleuchtet und dabei die damalige, sowohl durch die empirische Religionspsychologie (James, Starbuck) als auch durch die geisteswissenschaftliche Psychologie (Spranger, Dilthey) geprägte Diskussionslage einbezieht: Bohne sei der letzteren Richtung zu­zuordnen, indem er den Religionsunterricht als »Erlebnisunterricht« (169) verstanden, »Erlebnis« jedoch in erster Linie als »Werterlebnis« definiert habe, so dass er es als Aufgabe des Religionsunterrichts betrachtet habe, den Schüler auf die religiöse Entscheidung vorzubereiten, nämlich darauf, den religiösen Wertmaßstab als den allumfassenden zu akzep­tieren.
Nicht der theoretischen Funktion des Erlebnisbegriffs, sondern der Erlebenspraxis sind die religionsästhetischen Beiträge von Eva-Maria Glasbrenner und Olga Havenetidis gewidmet. Havenetidis analysiert, auf welche Weise die Videoinstallation Bill Violas The Greeting beim Betrachter eine bestimmte Art der Zeiterfahrung zu kreieren suche und so eine biblisch erzählte Geschichte neu überforme: nämlich indem sie konkrete »Bezüge« (91) miteinander vermittele (d. h.: ein Gemälde des Malers Jacopo Carrucci, das wiederum eine Szene zwischen Maria und Elisabeth nach Lk 1,39–56 abbilde, sowie eine von Viola selbst beobachtete Straßenszene zwischen zwei sich grüßenden Frauen) und indem sie zugleich das dargestellte Geschehen aufs Äußerste verlangsame und so »eine künstliche Zeitlichkeit« (100) schaffe. Glasbrenner untersucht zeitgenössische Bildplakate des südindischen Virasaivismus, mit denen der Betrachter an die Omnipräsenz des alles durchwirkenden Shiva-Prinzips erinnert werden solle und die ihn so zur Meditation anzuleiten suchten.
Das Normativitätsproblem schließlich thematisiert der Systematische Theologe Christoph Schwöbel, indem er als Kriterium der Erfahrung deren Wahrheitsbezug einführt: Die Wahrheitsfähigkeit der Erfahrung liege »in der Differenz zwischen dem, was für Erfahrung konstituiert ist, und dem, was durch Erfahrung konstituiert wird« (64), also in der Differenz zwischen einer (aktiven) Deutungsleistung und dem, was dieser Deutung vorgegeben sei. Spezifisch religiöse Erfahrung sei dadurch charakterisiert, »dass sie die Erfahrbarkeit der Wirklichkeit als Aspekt ihres Von-außerhalb-ihrer-selbst-konstituiert-Seins versteht« (65), d. h. keine besondere Erfahrungsklasse darstelle, sondern als »die Tiefendimension aller Erfahrung« (66) die Erfahrungspraxis eines Menschen in Gänze qualifiziere. Daraus folgt, dass die Wahrheit religiöser Erfahrung darin besteht, dass sie den Bezug der »Erfahrungswirklichkeit zu Grund und Ziel der Wirklichkeit« (ebd.) aufdeckt. Schwöbel führt dies am Beispiel des Christentums vor, in dem die religiöse Erfahrungspraxis als geschöpflich, gefallen und ihrer eigenen Vervollkommnung entzogen bestimmt sei.
Ebenfalls normative Fragestellung und Konzentration auf das Christentum sind bei Bernadette-Gertrudis Schwarz und Katja Thörner erkennbar. Schwarz beleuchtet den von der modernen Individualisierung der Religion zeugenden deutschen Buchmarkt – Ratgeber zur Naturheilkunde, Meditationsanleitungen, Anempfehlungen von Wellness als Weg zu religiöser Selbsterfahrung (z. B. M. Heller, Erleuchtung in der Badewanne) – und warnt sodann vor einer kritiklosen Übernahme des Spiritualitätsbooms durch die Kirche(n) bzw. führt Maßstäbe an, um christliche Spiritualität von nichtchristlicher unterscheiden zu können: Christlich richte Spi­ritualität sich stets auf ein personal gedachtes Gegenüber, entziehe sich dem Nützlichkeitspragma und sei gemeinschaftsbezogen. Thörner untersucht die Reaktionen von Jonathan Edwards und Charles Chauncy auf das an­gelsächsische Great Awakening und die damit verbundenen Frömmigkeitsäußerungen in der ersten Hälfte des 18. Jh.s und zeigt so, dass die Frage nach der Wahrheitsfähigkeit der Erfahrung historisch weit in die Moderne zurückreicht: Während Chauncey als Korrektiv gegen allzu viel Enthusiasmus als anthropologische Größe den »Verstand« ins Feld geführt habe, habe Edwards, je nach ihrer Ausrichtung, zwischen »holy affections« und solchen unterschieden, die eben nicht als Signa von Umkehr gelten könnten.
Interesse am Erfahrungsbegriff und an dessen (normativer) Funktion für die christliche Theologie bzw. Religionsphilosophie leitet Andreas Koritensky und Sebastian Maly. Koritensky, der sich u. a. an John Henry Kardinal Newman orientiert, nimmt den Er­fahrungsbegriff in Anspruch, um »eine Vielzahl von Phänomenen, die in der Religion eine Rolle spielen, beschreiben« (186), um Gotteserkenntnis und Lebenspraxis aufeinander beziehen und um schließlich auf diese Weise in der Erfahrung eine Instanz für die praktische Rechtfertigung des christlichen Glaubens gewinnen zu können. Maly diskutiert die religionsphilosophische Verwendung des Erfahrungsbegriffs bei John E. Smith, der, in Auseinandersetzung mit dem Pragmatismus, eine »religiöse Dimension der Erfahrung« (193) behaupte: In seinen Einzelerfahrungen, insbesondere solchen krisenhafter Art, erfahre der Mensch ein unbestimmtes »Heiliges«, und erst dadurch entstehe die Frage nach Gott; Gottes­offenbarungen wiederum seien »direkte Erfahrungen«, verstanden als interpersonale Begegnungen, die aufseiten des »Empfänger[s]« (197) interpretatorische Arbeit verlangten und so zu Gemeinschaftsbildung führten.
Arbeit am Begriff leisten auch Sven Boenneke und Alexander Förster, deren Beiträge sich mit russischer Religionsphilosophie be­schäftigen. Boenneke befasst sich mit dem Konzept der »lebendigen Erfahrung« des sowohl von James als auch von Solovjov beeinflussten orthodoxen Priesters Pavel Florenskij, der die Schau des »Azurblau[s] der Ewigkeit« (Zitat Florenskij, 214) als »Selbstvollzug von Kirche« (215) und damit zugleich als »Selbstoffenbarung Gottes« (215) beschreibt. Förster stellt den 1912 dem orthodoxen Christentum beigetretenen Philosophen Simon Frank vor, der in Auseinandersetzung mit dem deutschen Idealismus einen ontologischen bzw. »ontologistischen« (vgl. 226) Begriff des Seins als einer coincidentia oppositorum und auf dieser Grundlage seine Erkenntnistheorie entwickelt: Das Selbst gewinne Anteil am Sein, indem es sich im nichtgegenständlichen »lebendigen Wissen« selbst transzendiere.
Zusammengefasst handelt es sich um einen Band, der dem In­terkulturalitäts-Laien vielfältige interessante Einblicke vermit­telt und dem -Spezialisten sicherlich die eine oder andere wertvolle Anregung bieten wird. Jeder Beitrag führt ein umfangreiches Literaturverzeichnis mit sich. Auch wenn man den Erfahrungsbegriff in religionsphilosophischer bzw. theologischer Hinsicht für un­tauglich halten möchte, beleuchtet der Band doch streiflichtartig die globale Karriere des Begriffs in der Moderne; dabei wird historisches Interesse eher bedient als systematisches. Christentum wird vorwiegend aus katholischer Perspektive in den Blick genommen. Auffällig viele Autoren thematisieren die James-Rezeption (dem Namenregister zufolge erfreut James sich mit Ab­stand der meisten Nennungen), die nicht nur in Ländern wie Japan und Russland, sondern auch im Deutschland der Jahre 1900–1930 doch um einiges breiter ausgefallen zu sein scheint als allgemein be­kannt.
Sprachliche Ungeschliffenheiten, Interpunktions- und Orthographiefehler einzelner Autorinnen und Autoren sollen nicht verschwiegen werden, fallen aber insgesamt kaum ins Ge­wicht.