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Ausgabe:

Februar/1999

Spalte:

219–221

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Ruff, Gerhard

Titel/Untertitel:

Am Ursprung der Zeit. Studie zu Martin Heideggers phänomenologischem Zugang zur christlichen Religion in den ersten "Freiburger Vorlesungen".

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 1997. 162 S. gr.8 = Philosophische Schriften, 23. Kart. DM 96,-. ISBN 3-428-09040-3.

Rezensent:

Daniela Neu

Gerhard Ruffs Studie Am Ursprung der Zeit bezieht sich vor allem auf den 1995 erschienenen Bd 60 der Gesamtausgabe von Heideggers Schriften, welcher erstmals eine vollständigere Einsicht in die Entwicklung religionsphilosophischer Gedanken Heideggers vor der Verfassung von Sein und Zeit erlaubt. R. konzentriert sich dabei auf die Entfaltung der phänomenologisch-hermeneutischen Methode im Hinblick auf ihre Bedeutung "für den Nachvollzug der zentralen Einsicht Heideggers in die Zeitlichkeit christlichen Daseinsvollzuges" (13).

Im ersten Kapitel seines Buches zeigt R., wie Heideggers Weg zu einer phänomenologischen Methode der Auseinandersetzung mit dem Neukantianismus entwächst und Einflüsse von Rickert, Lask und vor allem Husserl erfährt. Von Husserl unterscheidet sich Heidegger vor allem dahingehend, daß "nicht eine theoretische Einstellung", sondern eine "dem Leben entsprechende ’Ur-haltung’ des Erlebens" (38) die phänomenologische Auslegung bestimmt. Ausgangspunkt der Phänomenologie ist also die "faktische Lebenserfahrung" (zweites Kapitel). Dabei muß unterschieden werden zwischen dem Gehaltssinn (Was) und dem im phänomenologischen Zugang gesuchten Vollzugssinn (Wie) des mit der faktischen Lebenserfahrung eröffneten Daseins in seinem Weltbezug. Im Vollzugssinn liegt der Verweis auf die Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit des Daseins (drittes und viertes Kapitel). Im Durchgang durch Heideggers Auseinandersetzung mit Dilthey wird gezeigt, wie die Geschichtlichkeit des Daseins so lange verborgen bleibt, als Geschichte in einer "objektgeschichtlichen Einstellung" vergegenständlicht wird. In dieser Einstellung entzieht sich das historische Bewußtsein der Beunruhigung des Daseins. Demgegenüber soll die phänomenologische Methode den Geschichtsvollzug freilegen, der den Selbstvollzug des Daseins charakterisiert. Geschichtlichkeit und Verstehen bedeuten im Selbstvollzug des Daseins "ein ursprüngliches freies Verhalten des Daseins zu sich selbst, in welchem es als Frage nach dem Grundsinn des eigenen Existenzvollzuges sich in seiner Welt des eigenen Gewordenseins für die eigene Zukunft zu übernehmen vermag" (79). R. beendet das vierte Kapitel mit einer Ausarbeitung der Grundzüge der hermeneutischen Explikation mit Berufung auf die "formale Anzeige". Diese zeigt den Bezugssinn der Phänomene an, ohne dabei etwas über deren Gehalt zu präjudizieren, und ermöglicht so schließlich auch die Explikation des Vollzugssinns in der faktischen Lebenserfahrung. Im fünften Kapitel wird die Religionsphilosophie im Umfeld des Neukantianismus (Windelbrand) sowie in der frühen phänomenologischen Bewegung (Husserl, Gründler, Reinach) dargelegt, um diese dann im sechsten Kapitel gegen den phänomenologischen Ansatz Heideggers, wie dieser in der Vorlesung vom Wintersemester 1920/21 zur Sprache kommt, abzusetzen. Hier wird nach einer Abgrenzung von einer objektgeschichtlichen Einstellung zur christlichen Religiosität ein Verständnis christlichen Selbstvollzuges des Daseins erarbeitet, dem sich Heidegger durch die Auslegung der Selbstdarstellung des Paulus im Galaterbrief nähert. Ausgangspunkt der phänomenologischen Explikation ist dabei die Entscheidungssituation des Apostels zwischen zwei grundsätzlichen Möglichkeiten der Lebensführung: der Zugewandheit zur Welt oder zu Gott. Diese zwei Möglichkeiten werden weiter entfaltet als eine objektgeschichtliche Haltung einerseits und "eine vollzugsgeschichtliche Aneignung der Welt im Rückgang in die größere Fülle des Lebens" andererseits (121 f.). In der Annahme der Verkündigung des Apostels erschließt sich für die Thessaloniker vollzugshaft das Leben, "auf das sich die Hoffnung des Glaubens in der Erwartung der Wiederkunft des Herrn (parousia) richtet", und dies ist die Zeitlichkeit des Selbstvollzuges im Glauben, "ohne welche Zukunft sich nicht eröffnen würde" (125).

Die im Durchgang durch Heideggers Paulusinterpretation gewonnene Einsicht in die christliche Lebenserfahrung erfährt eine weitere Explikation in Heideggers Augustinusinterpretation. Das abschließende Kapitel erörtert das Verhältnis von Phänomenologie und Theologie zunächst in bezug auf die ursprünglichere Möglichkeit der Sprache, die Heidegger in der Freilegung der Zeitlichkeit des Daseins anzeigt. Wenn Heidegger von einem "prinzipiellen Atheismus" der eigentlichen phänomenologischen Grundhaltung spricht, so sei dies durchaus mit dem christlichen Glaubensvollzug vereinbar, insofern im zeitlichen Sinn von Gnade nicht vergegenständlichend "über" Gott gesprochen werden kann. Heideggers phänomenologische Freilegung der Zeitlichkeit des Daseins eröffnet laut R. also sowohl gegenüber der traditionellen Philosophie als auch gegenüber der traditionellen Theologie ursprünglichere Möglichkeiten des Sprechens. Daß Heidegger dies gerade auch in seiner Auslegung von Paulus und Augustinus vollzieht, ist laut R. ein Zeugnis dafür, daß die von Heidegger dennoch behauptete ursprünglichere Stellung der Philosophie gegenüber der Theologie unhaltbar wird.

R.s erfrischend knapp gehaltene Studie hält sich gedanklich stringent an ihre zentrale Fragestellung und ermöglicht zugleich- dank des Einbezugs verschiedener Denker, mit denen Heidegger sich auseinandersetzte - von verschiedenen Blickrichtungen her einen Einstieg in den Werdegang von Heideggers religionsphilosophischem Denken. Die Knappheit bringt es freilich mit sich, daß der Leser oft aufgefordert ist, den Hinweisen in den Fußnoten zu folgen, um sich den vollen Gehalt des Textes zu erschließen. Besonders knapp erscheint dabei der zentrale Abschnitt, in dem die Zeitlichkeit des christlichen Daseinsvollzuges zur Sprache kommt. Vielleicht hätten an dieser Stelle Hinweise auf das Denken der Zeitlichkeit in "Sein und Zeit" sowie späterer Texte zum Verständnis etwas beitragen können. Provozierend ist R.s Gleichstellung von Philosophie und Theologie in Heideggers ursprünglicherem Zugang zur Zeitlichkeit des Daseins, und es fragt sich, ob hier nicht Differenzen unterschlagen werden. Heidegger eröffnet, so R., "die Möglichkeit für ein theologisches Sprechen, das in hingebendem Vertrauen sich zugleich in letzter Fragwürdigkeit zu halten vermag" (144). Zu dieser letzten Fragwürdigkeit gehört für Heidegger die Möglichkeit, daß gerade in dem eigentlichsten Selbstvollzug "die Möglichkeit des abgründigsten Sturzes und des eigentlichen Sichselbstverlierens" lauert (134). Lauert in dieser Möglichkeit nicht auch eine unhintergehbare Differenz zwischen einem vertrauenden Glauben und einer unerlösbaren Fragwürdigkeit philosophischen Denkens, das in einer Entscheidungsnot verbleibt?