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Ausgabe:

April/2010

Spalte:

492-494

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Rothen, Paul Bernhard

Titel/Untertitel:

Das Pfarramt. Ein gefährdeter Pfeiler der europäischen Kultur.

Verlag:

Wien-Zürich-Berlin-Münster: LIT 2009. 4, X, 442 S. gr.8° = Swiss: Forschung und Wissenschaft, 5. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-643-80026-8.

Rezensent:

Eberhard Winkler

Der Untertitel könnte vermuten lassen, hier werde das Pfarramt kulturprotestantisch interpretiert. Der Pfarrer am Baseler Münster Paul Bernhard Rothen zeigt aber schon in der Einführung, dass der Wind aus anderer Richtung weht. Er setzt bei Kierkegaards Kleruskritik ein und sieht das Pfarramt in einer Krise, die den Pfarrer »[v]om verfemten zum bedeutungslosen Wesen« macht und Teil einer kulturellen Krise in Europa ist, dessen Intelligenz sich von der Aufgabe dispensiert, die grundlegenden Schriften der eigenen Kultur zu kennen. Die wissenschaftliche Theologie ist für die Krise mitverantwortlich, sofern sie es nicht schaffte, »ihre Erkenntnisse zu bündeln, auf eine gegenwärtige Praxis auszurichten und damit überprüfbar zu machen« (7). Es gelang nicht, aus den Ergebnissen der verschiedenen theologischen Disziplinen ein stimmiges, breit akzeptiertes Bild des Pfarramtes zu formen. Im katholischen Amtsverständnis findet R. zwar das historisch erfolgreichste, in sich stimmige Konzept, doch fehlt ihm die biblische Legitimation. Die dem Schriftprinzip verpflichtete evangelische Kirche kann keine Amtslehre als offenbarte Wahrheit postulieren, wohl aber konstatieren, dass die Bibel kirchliche Ordnungen und Ämter beschreibt. »Die Klarheit der Schrift«, der R. eine zweibändige Monographie widmete (1990; vgl. ThLZ 116 [1991], 746–748), gewährt die Hoffnung, »dass die Bibelworte dem Erkennen auch Wege über das bereits etablierte Wissen hinaus bereiten« (23).
Dieses »bereits etablierte Wissen« fasst R. im Teil 1 exemplarisch zusammen, indem er die pastoraltheologischen Konzepte von Ernst Lange, Manfred Josuttis, Fritz und Christian Schwarz, Pierre-Luigi Dubied und Isolde Karle kritisch würdigt. Der umfangreichere 2. Teil behandelt empirische, geschichtliche und biblische Zusam­menhänge, um das Pfarramt als »eine Ordnungsmacht im Dienst des Evangeliums« zu interpretieren. Für evangelisches Empfinden ungewohnt spricht R. von der sakramentalen Bestimmung des Amtes. In den EKD-Mitgliederbefragungen sieht er die Behauptung widerlegt, die Person müsse heute im Unterschied zu früheren Zeiten das Amt tragen. Theologisch unterscheidet R. ein »kongregationalistisches«, funktionales Amtsverständnis beim frühen Luther vom »hochkirchlichen« beim späteren. Ersteres beherrsche in der deutschsprachigen evangelischen Theologie seit einigen Jahren das Feld. In der Lebensrealität sieht R. mit manchen Pastoraltheologen einen »Amtsnimbus«, eine pastorale »Gravitas«, die vor allem aus dem Recht der Sakramentsverwaltung erwachsen. Für die Volksfrömmigkeit ist das Monopol der Kasualien noch wichtiger. Warum hielt die evangelische Kirche an diesem Privileg fest? R. sieht einen inneren Grund dafür darin, dass das Neue Testament den Dienst am Wort besonderer Ehre wert findet. Die Ehrenstellung der Pfarrer betont R. nachdrücklich. Hinzu kommt der »äußere« Grund, für die Einheit der Gemeinde einzustehen.
Wie lässt sich das Pfarramt biblisch legitimieren, wenn es nicht direkt aus der Bibel ableitbar ist? R. findet in Röm 13 den adäquaten Referenzrahmen, um das Amt theologisch als »religiöse Ordnungsmacht« zu deuten, provozierend zugespitzt als »Beamtenmacht«. Das schon für Luther wichtige Motiv notwendiger Ordnung des Amtes wird durch die Erwartungen der Gemeinden be­stätigt. »Der Pfarrer wird akzeptiert als eine ›gottgegebene‹ Autorität«, sofern er die geltende religiöse Ordnung als gottgegeben zu vertreten hat (185 f.). Es ergibt sich die Frage, ob hier nicht gegen den erklärten Willen R.s eine metabasis eis allo genos erfolgt. Geistliche Vollmacht und die Macht der Obrigkeit sind deutlich zu unterscheiden. Das zeigt R. selber, indem er die Bedeutung der Ordination und den Zusammenhang von kirchlicher Ordnung und persönlicher Hingabe hervorhebt.
Aus dem Ordinationsgelübde ergibt sich »der Anspruch auf die ganze Person, die Erwartung, dass ein Mensch ungeteilt, in allen seinen Lebensvollzügen, uneingeschränkt und dauerhaft für die gestellte Aufgabe zur Verfügung steht« (220). Dieser umfassende Anspruch ist kaum mit teilzeitlicher Anstellung vereinbar (vgl. 225). Christian Grethlein, Pfarrer – ein theologischer Beruf!, Frankfurt a. M. 2009, 81, sieht das ebenso, versteht aber das Pfarramt nicht sakramental, sondern funktional von der Aufgabe der Kommunikation des Evangeliums her. Damit ergeben sich mehr Möglichkeiten, den veränderten Rahmenbedingungen gerecht zu werden, die u. a. durch den finanziell bedingten Schwund von Pfarrstellen, den stark wachsenden Anteil von Frauen und die Notwendigkeit ehrenamtlicher Dienste im Pfarramt bestimmt sind.
Dass die Autorität des Amtes »eine rechtschaffene Person« erfordert, zeigt der Gang durch die Pastoraltheologie. Das Pastorat ist eine Macht besonderer Art, nach Foucault »absolut einzigartig in der Geschichte« (272). Biblisch sieht R. diese Macht in der Schlüsselgewalt begründet, die eng mit der Sakramentsverwaltung verflochten ist. Die dogmatische Intention von Mt 16 und der ethische Aspekt von Mt 18 wurden im Mittelalter so verbunden, dass das Dogma in den Dienst der Moral trat, und das Pastorat beanspruchte die Führung in den Lebensfragen. Die Reformation entdeckt dagegen wieder die Kraft der Lehre, und die herausgehobene Stellung des Pfarramtes ist schriftgemäß, sofern sie dieser Priorität dient. Das Schriftprinzip begrenzt die amtliche Macht, weil die biblischen Worte »dem disponierenden Zugriff von Theologen und Gemeindegliedern entzogen sind« (314). Andererseits bringt die amtliche Ordnung den biblischen Vorrang zur Geltung. Der tägliche Umgang mit dem Bibelwort schafft eine »ontologische« Qualität des Amtes, die dieses nicht rein funktional verstehen lässt.
Unter dem Aspekt der Dreiständelehre zeigt sich eine Relativierung der »Macht«: Der Lehrstand geriet unter die Dominanz der Ökonomie. Die Konkurrenz medialer Meinungsbildung verringert die Möglichkeiten des Pfarramtes, das unter Druck gesetzt wird, auf dem Markt der Freizeitangebote zu konkurrieren. Die liberale Gesellschaft verweist Frömmigkeit in den privaten Raum und erwartet Toleranz. Sie trifft sich darin mit dem protestantischen Motiv »sine vi humana, sed verbo«. Indem sie aber ihre Einsichten verabsolutiert, fördert sie selbstzerstörerische Entwicklungen. Die westeuropäische Zivilisation droht »in die Aporien einer pauschal individualistischen Gleichgültigkeit zu geraten« (333). Andererseits kritisiert R. staatliche Einflussnahme auf die Meinungsbildung. Staatliche Macht unterstützt die europäische Kulturintelligenz bei ihrem Bemühen, kirchliche Religion durch eine »Kunstreligion« zu verdrängen.
Einer geschichtslosen, sich selbst verabsolutierenden und zersetzenden Vernunft steht die im alten Athen und in Jerusalem verwurzelte Vernunft entgegen, die auch eine Gabe des Evangeliums ist. Indem die Pfarrer der Heiligen Schrift verpflichtet sind, dienen sie dieser vernünftigen Vernunft und damit der europäischen Kultur, obwohl ihr sozialer Stand schwach geworden ist. So wird Lübbes Aussage übernommen, das Christentum sei eine Schutzmacht der Aufklärung (351). Die Pfarrer bemühen sich methodisch geordnet um die Wahrheit, ohne das Glaubensgut rational zu verdünnen oder in Gefühlen aufgehen zu lassen. Der »dogmatische Subjektivismus« der Moderne unterläuft aber das Schriftprinzip und stößt sich an den Ansprüchen des Amtes. Das Pfarramt steht für die Gemeinsamkeit des Bekenntnisses und für die Gemeinschaft im Leben im Widerspruch zum neuzeitlichen Antinomismus. Damit dient es der bindenden Kraft des Wortes und trägt »dazu bei, dass die liberale, offene Gesellschaft ihre innerste Lebenskraft behält oder neu gewinnt« (375).
Ein Kapitel Pastoraltheologie im engeren Sinn, darunter Gedanken zum Pfarrhaus, schließt das gehaltvolle Buch ab. Ein Bibelstellen- und ein Autorenregister sind beigefügt. Dass ein amtierender Gemeindepfarrer so intensiv, umfassend und persönlich engagiert über seinen Beruf nachdenkt, verdient hohe Anerkennung. Pastorale Erfahrungen und theologisches Wissen verbinden sich mit Gespür für die Probleme unserer Zeit. Bei allem Krisenbewusstsein dominiert die Freude am pastoralen Dienst. Provozierende Formulierungen wie die von der Ordnungsmacht und Beamtenmacht mögen die Diskussion anregen, ebenso die Polemik gegen ein funktionales Amtsverständnis. Es ist zu wünschen, dass das Buch in der praktisch-theologischen Ausbildung sowie in Pfarrkonventen und Pastoralkollegs gebührende Beachtung findet.