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Ausgabe:

April/2010

Spalte:

489-490

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Engemann, Wilfried

Titel/Untertitel:

Aneignung der Freiheit. Essays zur christlichen Lebenskunst.

Verlag:

Stuttgart: Kreuz Verlag 2007. 200 S. 8°. Geb. EUR 16,95. ISBN 978-3-7831-3007-2.

Rezensent:

Jürgen Ziemer

Die 14 Essays dieses Bandes sind aus Predigten hervorgegangen, die der Vf. im Münsteraner Universitätsgottesdienst gehalten hat. Ihre Herkunft erkennt man an manchen Bezugnahmen auf die akademische Situation, aber ihre jetzige Gestalt ist ganz Lesegewohnheiten angepasst. Inhaltlich sind die Texte durchgängig auf das Buchthema ausgerichtet. Es geht um die »Frage, was christlicher Glaube für die Aneignung von Freiheit als Basis von Lebenskunst aus­trägt« (10).
Freiheit wird, so sieht es der Vf., durch den Gebrauch des eigenen, nicht fremdbestimmten Willens gewonnen und angeeignet. Ihn möchte er nicht durch eine freudlose theologische Antithetik von vornherein desavouiert sehen. Er ist vielmehr grundlegend für die Lebenskunst, die mit Peter Bieri als »Handwerk der Freiheit« verstanden wird. Man könnte das Kernanliegen aller Essays auch als Arbeit am eigenen Willen verstehen. Das Subjekt, also jeder Hörer bzw. jede Leserin, ist hier gemeint und zu einem Leben aus der Freiheit herausgefordert. Seine christliche Prägung empfängt dieses durch die Begegnung mit der »Lebenskunst des Evangeliums« (11). Darum geht es in den Predigtessays. Die starke Konzentration auf die Willensarbeit mag dazu geführt haben, dass den Texten relativ strenge Zielbewusstheit eignet. »Die Predigt muss etwas wollen«, hat der Vf. von Gottfried Voigt gelernt. Man merkt es, und es verwundert nicht, dass hinter dem Prediger gelegentlich ein Pädagoge hervorlugt. Aber der sorgt dann auch dafür, dass es nicht langweilig wird. In späteren Arbeiten hat der Vf. versucht, das Willensthema in dichterer Beziehung zur Gefühlswelt des Individuums zu behandeln (WzM 61, 2009, Heft 5). Das ist vermutlich weiterführend, diese Rezension mag unter einem solchen Aspekt etwas verspätet erscheinen.
Spannend ist zu sehen, wie der Vf. mit den Bibeltexten umgeht. Die Predigtperikopen fungieren als »biblische Bezugstexte«. Meist kommen sie erst im zweiten Teil direkt zu Worte, aber sie bestimmen von Anfang an die Wahl von Thema und Material. In manchen Essays gelingen dem Vf. originelle Konfrontationen. So wird die Betrachtung des Gleichnisses vom Verlorenen Sohn eingeleitet durch die Darstellung des Don Giovanni als eines ewigen Gastes, dem bei allem »Appetit auf Abwechslung« die »Neugier auf sich selbst« fehlt (58) und dem es im Gegensatz zu seinem biblischen Kontrastbild versagt bleibt, irgendwann im eigenen Leben anzukommen.
Ganz konsequent grenzt sich der Vf. von allen Versuchen ab, das rechte Leben gesetzlich regeln zu wollen. So interpretiert er Nachfolge (Lk 9, 57–62) als »Lebensart der Freiheit« (45), und das bedeutet: »nicht radikale Unabhängigkeit, nicht rigorose Frömmigkeit, nicht blinder Gehorsam, nicht Endzeitstimmung, sondern be­dingte Freiheit«, also eine Freiheit, die »bedingt ist von den Möglichkeiten«, die der Glaube »als gegeben erkennt« (47). Die Grenzen der Freiheit werden nicht hingenommen, sondern bewusst entdeckt und willentlich angenommen. Ab und zu lässt der Vf. erkennen, wie seine heutigen Einsichten aus der Selbstauseinandersetzung mit einer repressiven Religionspraxis erwachsen sind, die suchenden Menschen so schnell ein »schlechtes Gewissen macht« (176) und ihnen fertige Lebensmodelle (74) vorschreibt.
Auch wer an die Grundausrichtung dieser Essays die eine oder andere Frage haben mag, wird bei der Lektüre doch durch eine Fülle von hermeneutischen Entdeckungen und unvorhersehbaren Assoziationen überrascht und bereichert. Manchmal gelingen dem Vf. wundervolle Formulierungen, wenn er etwa zu Mt 5,13 »Ihr seid das Salz der Erde!« lapidar notiert: »Das ist keine Hypothek, sondern eine Mitgift.« (157) Und wenn es über die »Ankunft im eigenen Leben« heißt: »Jeder Gottesdienst, den wir feiern, ist eine Fortsetzung der Party für den verlorenen Sohn.« (65) – dann vergisst man so etwas nicht so leicht und verzeiht dem Vf. auch gern die modische Metapher. Insgesamt liegt ein anschaulicher Beitrag zur modernen Predigtpraxis und zugleich indirekt auch ein anregendes Stück Theorie christlicher Verkündigung heute vor.