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Ausgabe:

April/2010

Spalte:

487-488

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Lehmkühler, Karsten

Titel/Untertitel:

Inhabitatio. Die Einwohnung Gottes im Menschen.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004. 365 S. gr.8° = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 104. Geb. EUR 49,90. ISBN 978-3-525-56331-1.

Rezensent:

Matti Repo

Karsten Lehmkühlers Werk über die Einwohnung Gottes im Menschen beschäftigt sich mit Themen von theologischem Gewicht und ökumenischer Aktualität: Wie ist die Rechtfertigung des Sünders zu verstehen? Was ist die Identität der Lutheraner in einem ökumenischen Dialog?
Es fällt der evangelischen Theologie heute schwer, die Lehre von der Rechtfertigung mithilfe ontologischer Kategorien zu schildern. Im Gegenteil, Redeweisen, die eine »seinshafte« Veränderung im gläubigen Menschen betonen, werden nicht nur vermieden, sondern auch explizit abgewiesen. Es wird z. B. in dem neulich erschienenen Bericht der Bayrischen Lutherisch-Baptistischen Ar­beitsgruppe (2009) Folgendes festgestellt: »Die lutherische Seite … lehnt aber jede ontologische Veränderung durch den Glauben ab, um das bleibende Angewiesensein auch des gerechtfertigten Menschen auf die Gnade zu betonen.« (Kapitel 3.3) Knapp zehn Jahre früher hatten die Lutheraner eine Erklärung zur Rechtfertigungslehre zusammen mit Repräsentanten der Katholischen Kirche festlich in Augsburg unterschrieben (1999). Die Gemeinsame Erklärung hatte die Rechtfertigung gerade in seinshaften Redewendungen ausgedrückt und die Veränderung des Menschen durch den Glauben hervorgehoben: »Sie gehören in der Weise zusammen, daß der Mensch im Glauben mit Christus vereinigt wird, der in seiner Person unsere Gerechtigkeit ist (1Kor 1,30): sowohl die Vergebung der Sünden, als auch die heiligende Gegenwart Gottes.« (§ 22)
Laut L. habe die neuere evangelische Dogmatik sich von der gemeinchristlichen Lehre der Einwohnung Gottes entfernt und diesen »Grund und organisierende[n] Zentrum christlicher Lehre« (15) vergessen. In seiner Kritik der Metaphysik hat schon Albrecht Ritschl einen Kampf gegen die Lehre von der unio mystica initiiert und Luther gegen die lutherische Orthodoxie auszuspielen versucht. In der Nachfolge der Ritschlschule versteht die heutige evangelische Theologie die Rechtfertigung als eine Gemeinschaft, die eher im »Wortgeschehen« als in der Teilhabe an Gott stattfindet. Das Gottesverhältnis ist eine Relation ohne Gemeinschaft der Substanzen.
L. eröffnet sein Werk mit demselben Gebet wie Augustin seine Bekenntnisse: »Ich bitte Dich in mich hinein.« Die Gegenwart Gottes war für Augustin nicht nur ein zentrales Lehrstück, sondern die Grundlage der theologischen Erkenntnis und des christlichen Lebens überhaupt. Heute ist die Lehre von der Einwohnung aus der evangelischen Theologie fast verschwunden. Sie war Gemeingut sowohl der Kirchenväter und Scholastiker als auch der Reformatoren und der Lutherischen Orthodoxie bis zu Schleiermacher hin. Seit Ritschl hat eine Verschiebung stattgefunden, die eine Umdeutung und schließlich eine Verwerfung der Einwohnungslehre wegen ihrer »Substanzontologie« verursacht hat.
L. bietet dem Leser einen Querschnitt durch die Theologiegeschichte. Weil er die Tradition von nahezu 2000 Jahren gründlich erörtern will, ist er gezwungen, nur gewisse Textzeugen und Theo­logen auszuwählen, die er mit aller Sorgfalt analysiert. Die Reihenfolge der dargestellten Theologen ist jedoch etwas kompliziert. Es wird natürlich mit dem Neuen Testament und Kirchenvätern angefangen, aber gerade nach Thomas von Aquin gibt es einen Sprung bis zur Neuscholastik des 19. und 20. Jh.s – und insbesondere zur Theologie Karl Rahners. Danach kehrt die Forschung wieder zurück und bietet eine kurze Darstellung der Unio-Lehre in der Lutherischen Orthodoxie dar. Dieser Abschnitt ist nötig wegen seiner exakten begrifflichen Ausarbeitung, die die spätere Analyse der Theologie von Schleiermacher und Ritschl ermöglicht.
Nach diesen zeitlichen Schwingungen vor und zurück ist L. bereit, die Auffassung Luthers zu behandeln. Das aber geschieht nicht durch eine selbständige Analyse der Luthertexte, sondern mit­hilfe der neueren finnischen Lutherforschung, die von den Werken Tuomo Mannermaas und seiner Schüler dargestellt wird. Obwohl L. die Texte aller anderen geschichtlichen Gestalten in seiner Ab­handlung selbst analysiert, macht er es mit Luther anders. Er un­terstreicht, dass es in der neuzeitlichen Debatte um den Stellenwert der Einwohnung nicht bloß um das richtige Verständnis des evangelischen Glaubens, sondern auch um die richtige Deutung der Theologie Luthers gehe. Charakteristisch ist der Titel für diesen Abschnitt: Der Streit um die Lutherdeutung.
Schon in seinem exegetischen Teil der Analyse spürt L. einen fundamentalen Unterschied zwischen dem Einssein des Sohnes mit dem Vater und dem Einssein der Gläubigen miteinander (vgl. Joh 10,30; 17,21). Jenes ist ein Vorbild für dieses – aber nur im analogischen Sinn. Die Gläubigen werden nie in derselben ontologischen Weise »eins« mit Christus wie der Sohn mit dem Vater eins ist. Der Unterschied zwischen Mensch und Gott bleibt gewahrt. Beide werden nicht so vereinigt, dass der Mensch Gott würde. Diese Schilderung ist wichtig für die ganze nachfolgende Analyse: L. hebt überzeugend die »Differenz der Modi des Einsseins« (vgl. 30) hervor. Die Lutherische Orthodoxie hat festgestellt: unio substantiarum non substantialis. Es geht um keine wesenhafte Verwandlung, keine »Verschmelzung der Substanzen« (164 f.). Folgerichtig wird daran erinnert, dass die »sich realisierende Gemeinschaft mit Gott immer an die Gnadenmittel gebunden bleibt und nie zu einem neuen Selbstand des Menschen wird« (285). Dennoch wird in der heutigen evangelischen Theologie immer einmal wieder dieser Vorbehalt genannt, z. B. in dem oben zitierten Lutherisch-Baptistischen Bericht.
Die Darstellung der finnischen Lutherforschung markiert einen Wendepunkt in der Studie. Ihre Ergebnisse werden von L. positiv bewertet. Seine Analyse gipfelt in programmatischen Vorschlägen, wie die Gemeinschaft des Menschen mit Gott gerade durch ontologische Aussagen definiert werden könne (286).
Aufgrund seiner exegetischen und dogmatischen Untersuchungen legt L. zum Schluss der Studie einen systematisch-theologischen Entwurf für die Lehre von der Einwohnung Gottes vor. Mithilfe eines Lutherzitats behauptet er, dass der Glaube eine schöpferische Kraft sei, die die Person »mache« (fides facit personam). Der Glaube vereinigt den Gläubigen mit Christus, der durch seine Einwohnung die Person des Glaubenden »erschafft«. Nach diesem Prinzip erklärt L., was die inhabitatio bedeute: Der Mensch wird neu geboren, wenn Christus selbst in ihm wohnt und lebt. Die zwei, Christus und der Gläubige, werden eins und bleiben trotzdem voneinander getrennt. Der Mensch bekommt eine neue Identität im Glauben; seine »neue Person« in Christus ist die Mitte seines Bewusstseins und die Quelle seiner Werke im Glauben.
Es muss aber kritisch gefragt werden, wie die »neue Person« sich auf die alte beziehe. Paulus schreibt, in Christus sei er eine »neue Kreatur, das Alte ist vergangen«. Aber trotzdem bezieht er sich noch auf seine alte Person, den Saulus: Obwohl er eine neue Identität in Christus bekommen habe, bekennt er, dass er selbst »die Gemeinde Gottes verfolgt habe« (1Kor 15,9.17). Wie kann die neue Person die Sünden der alten noch bekennen?
Trotz dieser Frage, die eher in der Seelsorge als in der Wissenschaft beheimatet ist, verdient das Buch alle Beachtung – sowohl aus akademischen als auch aus kirchlichen und ökumenischen Gründen.