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Ausgabe:

April/2010

Spalte:

482-484

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Geybels, Hans

Titel/Untertitel:

Cognitio Dei Experimentalis. A Theological Genealogy of Christian Religious Experience.

Verlag:

Leuven: Leuven University Press; Leuven-Paris-Dudley: Peeters 2007. LIV, 457 S. gr.8° = Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium, 209. Kart. EUR 80,00. ISBN 978-90-5867-636-8 (Leuven University Press); 978-90-429-1984-6 (Peeters).

Rezensent:

Rebekka Klein

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Nausner, Bernhard: Human Experience and the Triune God. A Theological Exploration of the Relevance of Human Experi­ence for Trinitarian Theology. Oxford u. a.: Lang 2008. 324 S. 8° = Religions and Discourse, 41. Kart. EUR 57,00. ISBN 978-3-03911-390-3.


Was ist Erfahrung und inwiefern erfüllt sie methodisch und in­haltlich für die Theologie eine entscheidende Funktion? Dieser Frage wenden sich zwei neuere Publikationen zu. Das Buch »Cognitio Dei Experimentalis« von Hans Geybels ist Teil des Forschungsprojekts »Theology in a Postmodern Context« an der Ka­tholieke Universiteit Leuven. Bereits 2004 hat die Forschungsgruppe die Publikation »Divinising Experience: Essays in the History of Religious Experience from Origen to Ricœur« herausgegeben. In Geybels’ Buch wird nun über die Einzelstudien zu verschiedenen Theologen hinausgehend eine synthetische Zusammenschau der ideengeschichtlichen Kontexte des theologischen Erfahrungskonzepts geleiste. Geybels’ Anliegen ist es, keine Geschichte der christlichen Spiritualitätspraxis, sondern eine Geschichte der theo­logischen Reflexion auf Erfahrung zu schreiben. Von der Antike bis zur Moderne präsentiert er die Entwicklung des theologischen Erfahrungskonzepts als fortgesetzte Neukontextualisierung dessen, was religiöse Erfahrung heißt. Er setzt an bei der intellektuellen Überhöhung der Erfahrung als einer existentiellen Methode des Glaubens (Augustin) und schildert die Entwicklung hin zu einer Betonung ihrer Unmittelbarkeit und Affektivität in der mittelalterlichen monastischen Theologie (Cassian, Benedikt, Bernhard von Clairvaux, Abaelard). Erst nach Luther vollzieht sich die Wende zu einer radikalen Subjektivierung der Erfahrung, wie sie für die Moderne kennzeichnend ist. Letztere sieht Geybels nun ausschließlich durch die protestantische Theologie und Philosophie realisiert. Konsequent werde die Neudeutung der religiösen Erfahrung als ein subjektives Gefühl und Fundament der Gotteserkenntnis bei F. D. E. Schleiermacher vollzogen. Dessen Erfahrungskonzept wird daher auch ganz vor dem Hintergrund der Kontroverse um Empirismus und Rationalismus bei den englischen und deutschen Aufklärungsphilosophen plausibel gemacht. Geybels’ Studie endet mit einer Darstellung der phänomenologischen Konzeption der religiösen Erfahrung bei William James, welche die Transformation des intellektuellen und existentiellen in ein emotionales und individualistisches Erfahrungskonzept zur Vollendung bringt. In seiner Darstellung fokussiert sich Geybels vor allem auf die Umbesetzung von Inhalt (Glaubenspraxis, Gotteserkenntnis) und Qualität (intellektuell, emotional) der religiösen Erfahrung. Seine Studie vernachlässigt allerdings die Spannung im Verhältnis von Gotteserkenntnis und Erfahrung, wie sie für die zweite Publikation von entscheidender Bedeutung ist.
Die in Durham entstandene Dissertationsschrift des Methodis­ten Bernhard Nausner »Human Experience and the Triune God« möchte ein anthropologisch angemessenes Verständnis der gegenwärtigen Trinitätslehre entwickeln. In kritischer Auseinandersetzung mit den Entwürfen von Jürgen Moltmann, Catherine LaCugna und Colin Gunton zeigt Nausner im ersten Teil seines Buchs, warum die Ausrichtung auf Gemeinschaft und Relationalität der trinitarischen Personen allein noch nicht einen Bezug zur sozialen Realität des Menschen garantiert. Um diese Realität in den Blick zu nehmen, ist es vielmehr geboten, die Signifikanz der Offenbarungserfahrung ausgehend von der allgemeinen Struktur menschlicher Erfahrung auszuweisen. In kritischer Auseinandersetzung mit Lindbeck und Schwöbel zeigt Nausner, dass die menschliche Erfahrung bereits durch eine für die Offenbarung charakteristische Relation geprägt ist: die Relation von Identität und Andersartigkeit. Auf der Basis dieser Einsicht entwickelt Nausner nun eine Zwischenräume bildende Methodologie ( interstitial methodology), die es erlaubt, Erfahrung und Offenbarung miteinander zu verbinden, ohne sie identisch zu setzen. Was diese Methodologie allerdings über die dialektische Bewegung zwischen zwei Größen hinausgehend beinhalten könnte und worin ihre Innovationskraft besteht, wird erst im Zusammenhang mit Viktor von Weizsäckers Gestaltkreis-Hermeneutik am Ende des Buches deutlich gemacht. Weizsäckers Theorie besagt, dass es für das Verständnis der Einheit zweier Größen weder eine Vermischung noch eine logische Priorität der einen über die andere Größe geben kann, da beide stets wechselseitig aufeinander zu beziehen sind. Nach Nausner ist diese hermeneutische Figur über ihre christologischen Implikationen hinaus auch trinitarisch auszulegen, weil nur dann einsichtig werden kann, inwiefern die von Gott geschaffene Wirklichkeit die Be­dingung der Möglichkeit von menschlicher Erfahrung ist. Aufgabe der theologischen Hermeneutik ist es daher, im Rahmen der allgemeinen menschlichen Erfahrung von Offenbarung zu reden, ohne dass die Transzendenz des Schöpfers verloren geht. In der Durchführung seiner Methodologie im Mittelteil der Studie entwickelt Nausner zunächst im Gespräch mit verschiedenen literarischen Texten, psychologischen Theorien (Frankl, Weizsäcker) und der Sozialphänomenologie Levinas’ eine Typologie menschlicher Er­fahrung, die sich in vier Grundcharakteristika des Menschseins verdichtet. Deren Zusammenhang mit der Gotteserkenntnis zeigt Nausner paradigmatisch in seiner Bibellektüre auf. An Gen 33 und Lk 15 macht er deutlich, wie eine realistische Sichtweise der menschlichen Sozialbeziehung aufrechterhalten werden kann, ohne den Bezug zu ihrer möglichen Perfektion in der trinitarischen Gottesbeziehung aufzugeben.
Die beiden Bücher von Geybels und Nausner demonstrieren auf je unterschiedliche Weise, dass die Theologie gegenwärtig über die Thematisierung der Erfahrung ein fundamentaltheologisches Problem zu bearbeiten versucht. Angesichts des Plausibilitätsverlusts der theologischen Tradition nähert sich die Arbeit von Bernhard Nausner der Kategorie der Erfahrung im Rahmen eines narrativ-biblischen und psychologischen Ansatzes, während Hans Geybels die Erfahrung geradezu als eine genuin theologische Kategorie wiederzugewinnen versucht. Das Verbindende und zugleich Trennende beider ist dabei das, was sie unter Erfahrung verstehen. Während die Erfahrung für Geybels eine kontextuelle epistemische Kategorie ist (religiöse Erfahrung), versteht Nausner sie als eine universelle anthropologische Kategorie (humane Erfahrung). Entsprechend unterschiedlich werden auch die Ansätze zu ihrer Thematisierung gewählt. Auch die Differenz der beiden Autoren im Hinblick auf die Beurteilung des Erfahrungsbezugs der gegenwärtigen Theologie könnte nicht größer sein. Während die Theologie für Geybels nicht erst heute, sondern bereits seit ihren Anfängen um ein Konzept der Erfahrung ringt, sieht Nausner sein Konzept der humanen Erfahrung vor allem durch ein anthropologisches Defizit der gegenwärtigen Trinitätstheologie provoziert, die sich in doktrinalen Diskursen ergeht und die praktischen Implikationen ihrer Lehre nicht mehr verständlich machen kann. Während der eine also darauf hinweist, dass über die Erfahrung in der Theologie bereits so viel Richtiges gesagt und gedacht worden ist, dass wir nicht einfach von Erfahrung reden können, ohne uns die Vielfalt der Theologiegeschichte zu vergegenwärtigen, meint der andere, dass sich das, was Erfahrung ist, heute im Dialog mit Bibel, Literatur, Psychologie und Philosophie wesentlich besser bestimmen lässt, als es der theologisch-dogmatische Diskurs getan hat. Beide Bücher stoßen damit eine Diskussion um das Erfahrungsverständnis der Theologie und den Umgang mit der eigenen Tradition an. Besitzt die Theologie ein eigenes Erfahrungskonzept, das in diachroner Perspektive eine Vielfalt an konzeptionellen Möglichkeiten integriert, oder hat sie sich beim Thema der Erfahrung grundsätzlich interdisziplinär und damit über ihren eigenen Traditionsbestand hinaus zu orientieren? Dass sie hier alternative Wege der Thematisierung von Erfahrung vorgeschlagen haben, ist den beiden Autoren zu danken.