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Ausgabe:

April/2010

Spalte:

476-477

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Niggli, Ursula

Titel/Untertitel:

Peter Abaelard als Dichter. Mit einer erstmaligen Übersetzung seiner Klagelieder ins Deutsche.

Verlag:

Tübingen: Francke 2007. 232 S. m. Abb. u. 1 Kt. 8°. EUR 24,90. ISBN 978-3-7720-8221-4.

Rezensent:

Jörg Ulrich

Ursula Niggli, Leiterin des Philosophischen Instituts »Paraklet« in Zürich, Herausgeberin des 2004 erschienenen Sammelbandes Peter Abaelard. Leben – Werk – Wirkung und mithin ausgewiesene Abaelard-Forscherin, befasst sich in dieser Monographie mit einem spezifischen und bislang wenig beachteten Aspekt des Werkes Abaelards, nämlich mit seinem Dichten. Damit rücken die sog. Klagelieder (Planctus) Abaelards ins Zentrum der Aufmerksamkeit.
N. greift auf diese Quelle mit der methodischen Vorentscheidung zu, die Klagelieder Abaelards gleichsam als »Ersatz« (9) für seine in der Historia calamitatum und in den Briefen Heloisas ge­nannten, aber leider nicht überlieferten Liebeslieder zu nehmen. So werde (auch) in den Klageliedern die populäre Seite Abaelards als »Mann der Frauen« (ebd.) sichtbar. Auf dieser Voraussetzung beruht die gesamte Anlage des engagiert geschriebenen Buches. Auf das Vorwort folgt eine Einführung in Leben und Werk Abaelards, die nach kurzer Vorstellung seiner vita und opera ausführlich die Liebesgeschichte zwischen Abaelard und Heloisa thematisiert (31–46). Die Deutung der Beziehung zwischen den beiden gibt die Interpretationsfolie für die dann folgenden sechs in lateinischer und deutscher Sprache dargebotenen, eingeleiteten und knapp kommentierten Klagelieder ab (47–156). Das Nachwort (157–195) sichert den Ertrag der Interpretationen und kommt in Anschluss an den italienischen Editor der Klagelieder, Giuseppe Vecchi, zu dem Ergebnis, dass in Abaelards Planctus die »poetische Synthese eines in seiner Summe schmerzensreichen Lebens« (195) vorliege.
Erfreuliches Resultat des Buches ist, dass mit den Klageliedern eine weniger bekannte Quelle aus dem Gesamtwerk Abaelards nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegt. Die poetisch gestaltete Klage biblischer Personen führt eindrucksvoll die dichterische Kraft des sonst eher für seinen denkerischen Scharfsinn bekannten Theologen Abaelard vor Augen. Die Übersetzung N.s findet einen sehr guten Weg zwischen philologischer Genauigkeit und kongenialer Nachdichtung. So wird die Lektüre der Gedichte über die Klage Dinas, die Trauer Jakobs, den Heldenmut der Tochter Jephtas, die Klage über Samson, die Trauer Davids um Abner und Saul, Jonathans und Davids über die Gefallenen auf den Höhen Gilboas zur anrührenden Lektüre im Lateinischen wie im Deutschen. Und neben dem sich hier vermittelnden Eindruck der poetischen Kraft Abaelards ergeben sich zugleich neue Einsichten über die Denkweise des innovativen Frühscholastikers, vor allem was seine Verarbeitung biblischer Motive angeht.
Im Übrigen wird die Beurteilung des vorliegenden Buches davon abhängen, ob man seine methodische Grundannahme teilt oder nicht. Es mag sein, dass Abaelard mit seiner Dichter- und Sängergabe »die Herzen der Frauen, jung und alt, einfach und gebildet, eroberte« (9), und von daher mag es auch angehen, die N. besonders interessierende Gender-Frage gerade am Beispiel der hier behandelten Quelle engagiert zu verfolgen. Im Resultat mag man dann Abaelard eine besondere Sensibilität für weibliche Eigenart attes­tieren und versuchen, diese näher zu profilieren. Auf einem anderen Blatt steht aber doch die Frage, ob es methodisch angemessen ist, die Klagelieder zu Motiven des Alten Testaments derart konsequent von der Liebesgeschichte mit Heloisa her zu interpretieren, wie es hier geschieht. N. bezeichnet es als wichtiges Ergebnis ihrer Publikation, dass in drei Klagen unterschwellig Abaelards Beziehung zu Heloisa anklingt (10), doch ist dieses Resultat mehr der methodischen Prämisse geschuldet als an den Quellen wirklich aufgezeigt. Überzeugender ist da schon der zweite Ertrag, dass in den Klageliedern der König David als Identifikationsgestalt Abaelards ausgemacht werden könne (ebd.); hier liegt gleichsam ein biblisches Korrelat zur Identifikation mit dem Kirchenvater Hieronymus vor, wie wir sie aus der Historia calamitatum kennen.
Hinter das interpretationsleitende Interesse an einer Verbindungslinie zwischen den Klagegliedern zu alttestamentlichen Motiven und der Liebesbeziehung mit Heloisa (bzw. den verlorenen Liebesliedern) tritt die Würdigung von Abaelards Dichtersprache zurück. Das ist für ein Buch, das unter dem Titel »Peter Abaelard als Dichter« firmiert, durchaus bedauerlich. Hinweise zu seiner Metrik und der sprachlichen Gestaltung der Klagelieder fehlen auf weite Strecken. Doch nur mit solchen sprachlichen, literarisch-philologischen Analysen wäre sein dichterisches Profil genauer zu erheben gewesen, gerade auch im Vergleich mit viel diskutierten zeitgenössischen Phänomenen wie dem Minnesang und vielem anderen mehr.
So liegt ein Buch vor, dessen wichtigster Ertrag in der Bereitstellung einer zweisprachigen Ausgabe der Klagelieder besteht. Wie es um das besondere Profil Abaelards als eines »Mannes der Frauen« steht, mag weiteren Studien vorbehalten bleiben, die N. ankündigt, über die sie aber »um der Spannung willen jetzt noch nicht[s] verraten« (11) will. Man darf in der Tat auf diese Ausführungen gespannt sein und darauf, ob sie die hier bestimmende, aber mitunter noch ein wenig willkürlich wirkende These näher zu begründen und die geneigte Leserschaft zu überzeugen vermögen.