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Ausgabe:

April/2010

Spalte:

465-468

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Titel/Untertitel:

Melanchthons Briefwechsel. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe. Im Auftrag d. Heidelberger Akademie der Wissenschaften hrsg. v. H. Scheible. T – Edition.

Verlag:

Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog. Bd. T 7: Texte 1684–1979 (1536–1537). Bearb. v. Ch. Mundhenk unter Mitwirkung v. H. Hein u. J. Steiniger. 2007. 613 S. 4°. Lw. EUR 279,00. ISBN 978-3-7728-2368-8. Bd. T 4/1: Texte 859–1003a (Januar bis Juli 1530);Bd. T 4/2: Texte 1004–1109 (August bis Dezember 1530). Bearb. v. J. Loehr. 2007. 488 S.; S. 491–795. 4°. Lw. EUR 558,00. ISBN 978-3-7728-2021-2. Bd. T 8: Texte 1980–2335 (1538–1539). Bearb. v. Ch. Mundhenk, H. Hein u. J. Steiniger. 2007. 701 S. 4°. Lw. EUR 279,00. ISBN 978-3-7728-2440-1. Bd. T 9: Texte 2336–2604 (1540). Bearb. v. Ch. Mundhenk unter Mitwirkung v. M. Bechtold, H. Hein, S. Kurz u. J. Steiniger. 2008. 637 S. 4°. Lw. EUR 279,00. ISBN 978-3-7728-2443-2.

Der Textteil von Heinz Scheibles großer Edition des Melanchthonbriefwechsels ist seit dem hier zuletzt angezeigten Band T 6 (2005) unter der editorischen Verantwortung von Christine Mundhenk, seit 2008 Leiterin der Melanchthonforschungsstelle in Heidelberg, jeweils um einen Band pro Jahr weitergeführt worden. So gesellten sich im Jahre 2008 bereits neun umfangreiche Textbände zu den zuvor bzw. gleichzeitig erschienenen zwölf Regesten- und Kommentarbänden. Denn 2007 konnte auch Bd. T 4 ausgeliefert werden, der wegen seines Umfangs in zwei Teilbänden vorliegt. Zurückzuführen ist das auf die umfangreiche Überlieferung aus dem Um­kreis des Augsburger Reichstags 1530 und auf die ausführliche Editionsmethode, die zuvor in den T-Bänden 1–3, 5 sowie teilweise noch in Band 6 Anwendung fand (s. u. zu T 7). Die Bearbeiterin Johanna Loehr, selbst für einige Jahre als Scheibles Nachfolgerin Leiterin der Melanchthonforschungsstelle, hatte sich durch umfangreiche Vorarbeiten so intensiv in die komplizierte, sich teilweise durch Rückübersetzungen zwischen dem Lateinischen und Deutschen bewegende Überlieferung vor allem der Augsburg-Briefe eingearbeitet, dass es sinnvoll schien, den Band von ihr vollständig bearbeiten zu lassen, auch wenn sich aufgrund von Kinderzeiten eine mehrjährige Verzögerung absehen ließ.
Der Qualität des Bandes ist diese Entscheidung zugute gekommen. Sie wurde von alten und neuen Mitarbeiter(inne)n der Forschungsstelle tatkräftig mitgetragen, was Scheible im Herausgebervorwort dankbar vermerkt hat. Aufgrund der in ihm enthaltenen umfangreichen Luther-Melanchthon-Korrespondenz (32 von und 27 an Luther bei insgesamt 256 Stücken) muss Band T 4 auch als ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zu einer dringend notwendigen neuen Lutherbrief-Edition angesehen werden, denn eigentlich wird eine solche derzeit bereits durch MBW praktisch untersetzt. Der äußere Reichtum dieser Edition lässt sich kurz statistisch belegen: Im Schnitt entfallen auf die hier genannten Bände jeweils um die 300 gründlich neu bearbeitete und zusammen um die 20 nach der Edition der Regestenbände bzw. überhaupt erst aufgefundene Texte. Ihr innerer Reichtum kann hier lediglich durch Hinweise auf einige wenige Sachverhalte angedeutet werden.
So enthält Band T 4/1, 46–50 (Nr. 863) über die engere Korrespondenz zum Augsburger Reichstag hinaus u. a. ein Beispiel für die in vielerlei Hinsicht für die Forschung wichtige Gattung »Widmungsvorrede«, was einsichtig ist, wenn man diese mit den heutigen »Offenen Briefen« vergleicht. Hier handelt es sich um eine sorgfältig kommentierte, seinerzeit viel beachtete, lateinisch und deutsch verbreitete Vorrede an Friedrich Myconius, die Melanchthon einer eigenen Sammlung von Kirchenväter-Zeugnissen vorangestellt hatte. Auf der beiden Seiten gemeinsamen humanis­tisch-handwerklichen Basis sollte die Sammlung dazu dienen, das Abendmahlsverständnis von Schweizern und Oberdeutschen dem Wittenberger Verständnis anzunähern, für welches galt, dass »vi­delicet corpus et sanguinem domini vere adesse in coena dominica« (46, 3 f.). Neben den Informationen zu Melanchthons eigenem Kirchenvätergebrauch unter dem Gesichtspunkt des Vorranges der Heiligen Schrift und seiner Kritik an der Verwertung von Kirchenväterzitaten (z. B. Augustins) in Gratians Kirchenrechtssammlung verdient Beachtung, was Melanchthon 1530 zu den acht Jahre zurückliegenden Anfängen der öffentlichen Auseinandersetzungen zwischen Andreas Bodenstein aus Karlstadt und Luther im Anschluss an die Wittenberger Bewegung zu sagen wusste, zumal er den Einfluss des Zwickauer Propheten Nikolaus Storch direkt erwähnt, der ihn seinerzeit selbst schwer verunsichert hatte. Karlstadts theologische Fähigkeiten und sein Wirken erscheinen in außerordentlich negativem Licht. Melanchthon bemerkt u. a., dass der innerevangelische Streit um das Abendmahl seine Ursache »tantum odio Lutheri«, allein durch (Karlstadts) Hass auf Luther, und nicht »aliqua pietatis opinione« (48, 57 f.), durch eine besondere Frömmigkeitshaltung, Fahrt aufgenommen habe. Daran wird deutlich, wie Melanchthon mit der Gegenseite über eine Widmungsvorrede an Myconius (den Süddeutschen und Schweizern durch seine Teilnahme am Marburger Gespräch bekannt) mittels einer historisch-theologischen Methode den eigentlichen, den theologischen Gesprächsinhalt wiedergewinnen wollte. Er versuchte es, indem er als Theologe und zugleich als ein mit oral history agierender Zeitgenosse sowohl den theologischen als auch den nichttheologischen Faktoren einer Kontroverse Aufmerksamkeit schenkte (und sie damit zu entschärfen suchte), die im Vorfeld des Reichstages die Einheit der evangelischen Sache gefährdete.
Im »Vorwort des Herausgebers« zu Band T 7 erläutert Scheible ein weiteres Mal die im Anschluss an T 5 bzw. 6 geltenden Editionsregeln und stellt klar, dass der Entschluss zur Reduktion nicht die vollständige Notierung der der Melanchthonforschungsstelle bisher bekannten Überlieferung betrifft, wohl aber einen Verzicht auf weitere, zeitraubende überlieferungsgeschichtliche Forschungen. Außerdem werden in Bezug auf den Text geringerwertige Überlieferungsträger nicht mehr kollationiert. Auch soll eine gewisse zeitliche Begrenzung der Suche nach Zitaten und Anspielungen in den Texten den Zeitaufwand für die Erarbeitung der einzelnen Bände senken. Jeder Editor von Quellen weiß, dass gerade diese Suche im Einzelfall zu wirklichen Zeitproblemen führen kann und sich Vollständigkeit selbst mit den heutigen technischen Mitteln nicht erreichen lässt. Der Band enthält 310 Stücke aus den Jahren 1536 und 1537. Mehrere von ihnen zeugen von territorienübergreifenden Problemen mit Wiedertäufern (s. u. zu Band 8); Melanchthon ist im Auftrag des sächsischen Kurfürsten selbst mit Vernehmungen in Thüringen und anschließender Berichterstattung beschäftigt, wobei auffällt, dass er sehr differenziert und einzelfallorientiert vorgeht, Lebensalter, Bildungsstand und soziale Situation der Verklagten in seine Urteilsfindung einbezieht und in den al­lermeis­ten Fällen zur Milde rät. Interessant ist ein Fall, bei dem sich anscheinend aus einem Konflikt zwischen einem eher lebenslustigen Pfarrer und einem theologisch gebildeten sowie auf ein christliches Leben orientierten Gemeindeglied ein Wiedertäufervorwurf entwickelt hatte, weil Letzterer die Taufe seines Kindes durch den Pfarrer verweigerte. Melanchthon hatte diese Ursache im Verhör richtig erkannt und gab sie an den Kurfürsten weiter, während sich das Gemeindeglied damit zufrieden gab, das Ärgernis mit dem Pfarrer nunmehr an entsprechender Stelle mitgeteilt zu haben (33–35 [1687]; 37–40 [1689]). Der Band enthält neben mehreren Widmungsvorreden zu eigenen und fremden Schriften viele Stücke der diplomatischen Korrespondenz, die mit dem Schmalkaldischen Bund und dem geplanten Konzil zusammenhängen. Abgedruckt sind auch die deutsche und lateinische Fassung der Wittenberger Konkordie (131–148 [1744]).
Der Briefwechsel aus den Jahren 1538 und 1539 liegt mit Band T 8 vor. Unter seinen 373 Stücken finden sich u. a. Dokumente, die Einblicke in die Wittenberger Verhältnisse jener Jahre in religionspolitischer wie rechtshistorischer Perspektive erlauben, aber darüber hinaus auch Momentaufnahmen der persönlichen Beziehungen unter den Wittenberger Reformatoren und ihren Schülern bieten. So schrieb Melanchthon einen kurzen, tröstlichen Brief an Georg Karg, einen Wittenberger Magister, der unerlaubt gepredigt hatte und außerdem wiedertäuferischer Ideen bezichtigt wurde. Beides zu­sam­men konnte wenige Jahre nach dem Täuferreich von Münster als Kapitalverbrechen gelten, und folglich saß Karg während der Untersuchung Anfang 1538 im Wittenberger Schloss ein. Für den Fall, dass Karg »commode« auf die Anschuldigungen antworten würde, sagte Melanchthon ihm zu, dass Luther und Justus Jonas sich sehr für ihn einsetzen würden; Luther hätte für ihn »mitissimos sermones« ge­funden. Bekanntermaßen ging die Sache gut aus (31 f. [1982]). Ein weiteres Dokument zeigt Melanchthon neben Luther, dem Altkanzler Brück u. a. als Zeugen bei einem sehr detaillierten Kaufvertrag für ein Haus, das der alte Freund, spätere Kritiker und nunmehr theologische Gegenspieler der Wittenberger Theologen, Magister Johannes Agricola (Eisleben), 1538 von einer Wittenberger Witwe, der Ehefrau von Gregor Berndt, gekauft hatte (75–77 [Nr. 2013]).
Für die Orientierung darüber, von wem genau in all den Dokumenten die Rede ist, erweisen die Personenkommentar-Bände (bisher MBW 11: A–F; 12: G–K), die Scheible selbst erarbeitet, einmal mehr ihren Wert. Das gilt auch dann, wenn wie im Fall der Familie Berndt dort nur die Informationen verarbeitet sind, die sich aus dem Kaufvertrag selbst ergaben. Denn gleichzeitig wird damit u. a. auch eine Beziehung zu dem Wittenberger Professor Ambrosius Berndt ausgeschlossen. Über Magister Eislebens Bedeutung im und im Gegensatz zum Wittenberger Kreis dürften viele Benutzer von MBW informiert sein, benötigen aber gerade wegen der relativ schnell aufeinanderfolgenden Wechsel im gegenseitigen Verhältnis ebenfalls die biographischen Informationen aus MBW 11. Über Karg ist allgemein wenig bekannt; die biographischen Informationen in MBW 12 belegen, dass sich die Irritation nicht auf die dann folgende beachtliche Karriere Kargs auswirkte. Der Personenkommentar wird trotz der sich rasant entwickelnden modernen Informationstechniken als das optimale Hilfsmittel zur Erschließung von MBW Bestand haben und bietet aufgrund seiner Anlage selbst gute Voraussetzungen, irgendwann im Netz verfügbar zu sein und dort fortgeschrieben werden zu können.
Band T 9 bietet ausschließlich Stücke aus dem Jahr 1540. Allein mit dem quantitativen Befund deutet sich bereits an, welche Bedeutung Melanchthon innerhalb des Wittenberger Kreises und weit darüber hinaus gewonnen hat. Johannes Agricola, für dessen Hauskauf man sich in Wittenberg 1538 noch verbürgte, befindet sich inzwischen – auf der Höhe der Antinomistischen Streitigkeiten – in einer sehr ernsthaften Kontroverse mit Luther selbst, in der Me­lanchthon zusammen mit Jonas, Bugenhagen und von Amsdorf von Schmalkalden aus gegenüber dem Kurfürsten zu vermitteln sucht (200–203 [Nr. 2409]). Melanchthon nahm im März/April am Schmalkaldischen Bundestag teil und war dort z. B. federführend an einem Gutachten zur Kirchengüterfrage beteiligt (156–162 [Nr. 2391]). Ein weiteres Theologengutachten an die Räte der Bundesstände beschäftigt sich mit der Notwendigkeit, die im Schmalkaldischen Bund vertretenen Kirchenwesen auf einen annähernd gleichen Lehr- und Organisationsstand zu bringen. Hier wird u. a. dazu geraten, dass die betreffenden Pfarrerschaften jährlich ein oder zweimal Synoden abhalten und – sofern es in einem Territorium noch keine Visitation gegeben hat – Visitatoren wählen sollten (163–165 [Nr. 2392]).
Einen großen Teil nehmen Korrespondenzen bzw. die (Mit-)Beteiligung an Gutachten und kurfürstliche Instruktionen seit Oktober ein, die Melanchthon vom Wormser Religionsgespräch aus führte bzw. erhielt. Darunter befindet sich als Nachtrag ein Anschreiben Kaiser Karls V. an die Teilnehmer des Religionsgesprächs (410 f. [Nr. 2530a]), aber auch Persönliches wie das Epigramm an den Nürnberger Gesandten und ehemaligen Melanchthonschüler Erasmus Ebner, in dem sich Melanchthon scherzhaft darüber beschwert, dass er, der die Begegnungen von Humanisten sehr liebe, als Poet von Ebner anscheinend für ungenügend gehalten werde und folglich nicht zum Essen eingeladen werde (600 f. [Nr. 2603]). Da das Wormser Kolloquium im Januar 1541 abgebrochen und wenig später in Regensburg fortgesetzt wurde, werden die sich immer stärker abzeichnenden konfessionellen Unterschiede und die Versuche, sie auszugleichen, auch Gegenstand von Band T 10 sein.
Jedem der Bände sind in bewährter Weise Hilfsmittel beigegeben: Absender- und Adressatenverzeichnisse, umfangreiche Bibelstellenregister sowie die in »Autoren und Werke bis ca. 1500« und »… ab 1500« gegliederten Personenverzeichnisse. Dass diese Edition angesichts ihrer Materialfülle und ihres vorzüglichen Erschließungsgrades weiterhin gut voranschreitet, liegt im ureigensten Interesse der gesamten Reformationsforschung, der sie einen bedeutenden Teil ihrer wesentlichen Quellen neu aufbereitet.

Leipzig Michael Beyer