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Ausgabe:

April/2010

Spalte:

463-465

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Langner, Dietlind

Titel/Untertitel:

Schauen im Glauben. Die Bedeutung der Mystik bei Romano Guardini.

Verlag:

Würzburg: Echter 2008. XIV, 863 S. 8° = Studien zur systematischen und spirituellen Theologie, 46. Kart. EUR 66,00. ISBN 978-3-429-03003-2.

Rezensent:

Werner Thiede

Romano Guardini (1885–1965) gehört zu den großen katholischen Theologen des 20. Jh.s und beeindruckte nachhaltig durch die be­tont spirituelle Durchdringung von Lehre und Leben. Die Bedeutung der Mystik in Biographie und Werk umfassend zu erheben, ist daher ein längst fälliges und allemal lohnendes Unterfangen. Nicht zuletzt als Vorsitzende der »Gesellschaft der Freunde christlicher Mystik e. V.« hat die Vfn., eine bereits im Ruhestand befindliche Gymnasiallehrerin, ihren Blick weit schweifen lassen: Die mit über 800 Seiten im Druck vorliegende Dissertation widmet sich ihrem Gegenstand mit großer Sorgfalt und Hingabe.
Weil Guardini den Begriff der Mystik kaum systematisch-theologisch erschlossen, aber doch relativ häufig in zentralen und auch weniger zentralen Formulierungen verwendet und sich immer wieder auf mystische Phänomene und Gehalte bezogen hat, hatte die Analyse in der Tat einen weiten Kreis abzuschreiten. Doch kein Weg und Umweg war der Vfn. zu weit: Mit kenntnisreichem Blick und schier unerschöpflichem Fleiß leuchtet sie sachlich und chronologisch aus, was ihr Thema betrifft oder auch nur streift. Als weitschweifig wird der Leser diese Gründlichkeit kaum abtun können, vielmehr dankbar profitieren von der umsichtigen, Details nachgehenden und dennoch konzentrierten Darstellung.
Die Untersuchung gliedert sich in vier große Teile. Ein erster, kürzerer Teil bildet die »Grundlegung« (18–97), ein zweiter handelt von der Liturgie als »objektiver Mystik« (98–213), ein dritter von Guardinis »Mystagogie«, und ein vierter – der mit Abstand längste – dreht sich um das »Verhältnis von Mystik und Glauben« (451–776), gefolgt von einem resümmierenden Schluss (777–804) und einem umfangreichen Literaturverzeichnis nebst Personenregister (805–863).
Im grundlegenden Eingangsteil wird gezeigt, wie der junge Guardini seine erste geistliche Prägung im Elternhaus und dann in einem Mainzer Freundeskreis um das Ehepaar Schleußner erhielt, welches ihm die Welt der mittelalterlichen Mystik er­schloss, so dass von da an das Interesse für christliche und mitunter auch nichtchristliche Mystik bei ihm nicht mehr erlosch. Es blieb bei ihm fortan bei einem Mystik-Begriff, der sich am außerordentlichen Charakter der mystischen Erfahrung, an ihrer übernatürlichen Herkunft aus einer besonderen Gnadengabe Gottes orientierte, in der Sache aber später zunehmend diese eng gefass­ten Grenzen doch sprengte. Nach einer kurzen Glaubenskrise vollzog Guardini im Herbst 1905 eine bewusste Hinkehr zu Gott, indem er sich zum »Hergeben der Seele« im Kontext der römisch-katholischen Kirche entschloss. Seine Christusmystik meinte ein Erfasstwerden von der umbrechenden und umwandelnden Gestalt Jesu Christi und seiner kenotischen Bewegung. Dissertation und Habilitation drehten sich später um den mystischen Theologen Bonaventura, dessen platonisch-neuplatonisch-augustinische Denkrichtung ihn weiter prägte.
Dass Guardini unter »Mystik« nicht nur Subjekti­v(istisch)es verstand, sondern genau um ihre jeweilige Verwurzelung in einem bestimmten religiösen Kontext wusste, zeigt sich deutlich an seiner Verortung christlicher Mystik im Raum der Kirche. Unter seinen berühmt gewordenen Büchern ragen zwei über »Liturgie« hervor: »Vom Geist der Liturgie« und »Liturgische Bildung«. In ihnen wird anschaulich, wie Guardini – gut katholisch – die Kirche selbst als mystisches Ereignis ansieht und ihre Liturgie als kontemplatives Verhalten der kirchlichen Gemeinschaft würdigt. Mehr noch: Im liturgischen Geschehen entdeckt der große Theologe eine »objektive Mystik« im Sinne erprobter Spiritualität. Hier werden die »Mysterien« des christlichen Glaubens gefeiert, hier erweisen sie ihre geistige Kraft.
Bezeichnend für Guardinis mystische Theologie ist das Bemühen, die »objektive« Mystik der Kirche und die eher subjektive Mystik des einzelnen Gläubigen in ihrer Zusammengehörigkeit zu betrachten, statt sie womöglich gegeneinander auszuspielen. Liturgische Partizipation und persönliches Gebet, Schriftlesen und Meditieren bilden für ihn eine lebendige Einheit (anders als etwa für Odo Casel). Dem individuellen Glauben gestand er grundsätzlich die Möglichkeit zu, in sich ein Schauen zu entfalten; Frömmigkeit sollte also nicht nur vor verschlossener Ikonostase stehen und verehren, was verborgen dahinter liegt.
Zu den besonderen Stärken der vorliegenden Studie gehört die Darstellung des mystagogischen Wirkens Guardinis in Leben und Werk. Ziel der Mystagogie war bei ihm stets das Hineinführen in die Geheimnisse des Glaubens – ob durch Predigt, Liturgie, dogmatische Lehre, geistliche Schriftauslegung oder sonstige spirituelle Unterweisung. Zeugen schilderten ihn demgemäß »als großen Gottesgelehrten und Geistträger, der aus theologischem Charisma sprach und vermittelte, was er selbst durchdacht, durchbetet und durchlitten hatte und was er exemplarisch vorlebte« (783). In diesem Zusammenhang wird er auch ausführlich vorgestellt als engagierter Übersetzer und Kommentator des »Geistlichen Tagebuchs« der Mystikerin Lucie Christine (1844–1908) sowie der Biographie der Mystikerin Madeleine Sémer (1874–1921). Beide Frauen faszinierten ihn nicht zuletzt deshalb, weil sie als Mystikerinnen mitten im Leben standen und sich als Mütter und Hausfrauen bewährten. Durch solche Existenzen sah er Nietzsches Christentumskritik widerlegt. Die zu besprechende Arbeit macht in guter Weise mit dem Leben und Denken beider Frauen bekannt. Anschließend wird übrigens auch die »Mystik der Herz-Jesu-Verehrung« und ihre Relevanz für Guardini beleuchtet.
Wie sich bei ihm das Verhältnis von Mystik und Glauben gestaltete, wird schließlich zunächst erläutert an seinem Eingehen auf nichtchristliche Mystiksubstanz bei Sokrates, Hölderlin, Rilke – und später anhand seiner Deutungen großer christlicher Mystiker wie Augustin, Dante und Pascal. Sie alle konnte er unter dem Oberbegriff der »religiösen Erfahrung« versammeln, von da aus aber auch die notwendigen geistlichen Unterscheidungen geltend ma­chen: »Scharf hob er alle Arten der freien religiösen Erfahrung als Wahrnehmungen der natürlichen Selbstoffenbarung Gottes in den Werken seiner Schöpfung von dem ab, was von der geschichtlichen übernatürlichen Offenbarung auffassbar ist, wie sie die Bibel überliefert. Von der natürlichen religiösen Erfahrung führt kein direkter Weg zum Gott der Heiligen Schrift …« (788). Gleichwohl wollte der katholische Theologe Gott keine Grenzen setzen – und insgesamt Schöpfungs- und positive Offenbarung als Einheit verstanden wissen.
Auf diesem Hintergrund plädiert die Vfn. am Ende denn auch für einen interreligiösen Dialog, der sich dem Thema der Mystik widmet und dabei das Entscheidende jeder Mystik zu entdecken bestrebt ist: »den Liebesübertritt zu Gott …«. Dass freilich schon der Gottesbegriff interreligiös alles andere als klar ist, scheint die Vfn. hier aus dem Blick zu verlieren – wie überhaupt das kritische Element in ihrer umfangreichen Studie zu kurz kommt. Gleichwohl handelt es sich insgesamt um ein sehr empfehlenswertes Werk, das die christliche und insbesondere die römisch-katholische Mystik des 20. Jh.s ein gutes Stück weit erschließen hilft.