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Ausgabe:

April/2010

Spalte:

461-463

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Danz, Christian, u. Werner Schüßler [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919–1920).

Verlag:

Wien-Berlin-Münster: LIT 2008. X, 342 S. gr.8° = Tillich-Studien, 20. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-8258-1297-3.

Rezensent:

Gunther Wenz

Theologie zu studieren, ist faustische Tradition. Es in Halle zu tun, dafür gibt es, wie jeder Kenner weiß, seit alters gute Gründe. Es zeugt daher nicht nur von altehrwürdigem Geschmack, sondern auch von gediegenem Urteilsvermögen, wenn Thomas Mann Adrian Leverkühn, den Helden seines »Doktor Faustus«, in die Stadt an der Saale schickt, damit er sich dort dem Studium jener Wissenschaft unterziehe, in welcher – mit Leverkühns Chronisten Dr.phil. Serenus Zeitblom zu reden – »die Königin Philosophie selbst zur Dienerin, zur Hilfswissenschaft, akademisch gesprochen zum ›Nebenfach‹ wird, und das ist die Theologie«. Was es mit der hallensischen Theologie zu Beginn des 20. Jh.s näherhin auf sich hatte, brachte Thomas Mann von Paul Tillich in Erfahrung, der ihm auf seine Bitte hin am 23. Mai 1943 schriftlich über eigene Studieneindrücke berichtete. Der Brief ist im XII. Kapitel des Mannschen Faustbuches in teilweise wörtlicher Aufnahme, teilweise aber auch in ironischer Verfremdung verarbeitet worden. Dass dabei Tillichs wichtigster Lehrer in Halle, Martin Kähler, flugs in den Lutherverschnitt Ehrenfried Kumpf transformiert wurde, sei nur am Rande erwähnt. Wer Genaueres wissen möchte, lese den Aufsatz von Christoph Schwöbel über »Thomas Mann, Paul Tillich und Halle« im Einleitungsteil des anzuzeigenden Sammelbandes. Er enthält die überarbeiteten und erweiterten Vorträge des »Ersten Internationalen Kongresses der Deutschen Paul Tillich-Gesellschaft e. V.«, der im Oktober 2007 zum Thema »Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919–1920)« in den Franckeschen Stiftungen in Halle/Saale stattfand.
Gewidmet ist der Band dem verdienten Tillichforscher Erdmann Sturm/Münster zum 70. Geburtstag, der durch die Edition von neuen Quellen wesentlich dazu beigetragen hat, dass das Frühwerk Tillichs in den letzten Jahren verstärkt in den Blick­punkt der Forschung gerückt ist, wie die Herausgeber eingangs vermerken. Was die Tillichtexte zwischen 1919 und 1920 betrifft, so zeichnet sich in ihnen insofern eine prinzipientheoretische Umorientierung ab, als nun der Sinnbegriff eine zentrale Funktion für Religionsphilosophie und Theologie einnimmt. Dies steht in problemgeschichtlichem Zusammenhang mit entsprechenden Entwick­lungen im zeitgenössischen Neukantianismus und in der Phänomenologie. Welche Konsequenz die sinntheoretische Neubestimmung des Religionsbegriffs für Tillichs religionsphilosophische und theologische Konzeption hat, erörtern die Kongressbeiträge anhand dreier Texte. Beim ersten handelt es sich um einen Entwurf zur Thematik von Rechtfertigung und Zweifel, die Tillich auch später wiederholt beschäftigt hat; er ist aus Anlass seiner Umhabilitierung von Halle nach Berlin 1919 erarbeitet worden. Fortentwickelt wurde der Ansatz der Skizze und ihres zeitdiagnostischen Rechtfertigungsverständnisses in der ersten Vorlesung, die Tillich im Sommersemester 1919 unter dem Titel »Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart« an der Berliner Fakultät hielt. Als dritter Text kommt die Berliner Vorlesung über Religionsphilosophie vom Sommersemester 1920 in Betracht, in der Tillich sein sinntheoretisches Basiskonzept weiter ausarbeitete. Sie weist voraus auf die großen Werke der beginnenden 20er Jahre, für deren Verständnis die Einsichten unentbehrlich sind, welche die Analysen der Texte von 1919/20 vermitteln. Um erneut Faust zu bemühen, diesmal den Goethischen: »Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.« Der frühe Tillich der Jahre 1919/20 wäre mit diesem Übersetzungsvorschlag von Joh 1,1 gewiss einverstanden gewesen. Doch war ihm ebenso bewusst, dass seine sinntheoretische Grundlegung nicht die Antwort auf alle konzeptionellen Fragen der Religionsphilosophie und Theologie bereitstellt: »Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?«
Als Tillich im Frühjahr 1943 mit Thomas Mann korrespondierte und für den »Doktor Faustus« Informationen zum Werdegang eines evangelischen Theologiestudenten seiner Generation lieferte, da befanden sich beide, Dichter und Denker, im nordamerikanischen Exil. Tillich war im November 1933 auf dem Seeweg nach New York gefahren, um eine zweijährige Gastprofessur am Union Theological Seminary anzutreten. Im Monat darauf wurde er aus dem deutschen Staatsdienst entlassen. Nach Annahme der amerikanischen und Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft entzog die Theologische Fakultät der Universität Halle Tillich auf Druck des Berliner Ministeriums Promotion und Ehrenpromotion. Über die Einzelheiten dieser Vorgänge, die nationalsozialistische Unterwanderung deutscher Universitäten sowie über die universitätsgeschichtlichen Hintergründe von Tillichs sog. Rehabilitierung setzen zwei Zusatzbeiträge des Sammelbandes in Kennt­nis, die nicht nur für Tillichspezialisten interessant, sondern von hohem Allgemeininteresse sind. Aus Anlass des 50. Jahrestages wurde Tillich 1962 eine förmliche Erneuerungsurkunde seines Lizentiatendiploms ausgestellt. Tillich dankte dem Dekan der Theologischen Fakultät der Universität Halle mit Schreiben vom 26. März 1962 in Erinnerung an sein Examen als »erste(n) Schritt zu der theologischen Karriere, die der Inhalt, die Tragik und das Glueck meines Lebens geworden ist«.