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Ausgabe:

April/2010

Spalte:

451-453

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Jäger, Sigrun

Titel/Untertitel:

Meister Eckhart – ein Wort im Wort. Versuch einer theologischen Deutung von vier deutschen Predigten.

Verlag:

Berlin: Akademie Verlag 2008. 389 S. gr.8° = Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens. Neue Folge, 15. Geb. EUR 69,80. ISBN 978-3-05-004516-0

Rezensent:

Markus Vinzent

Eckhart-Studien sind – nicht nur für Doktoranden – ein Minenfeld, wie die Rezeptionsgeschichte des Thüringer Magisters belegt. Insofern ist es sicher vorsichtige Klugheit, wenn man bei seinem Erstlingswerk sich nicht auf ungebahnte Wege begibt. Die zu besprechende überarbeitete Fassung einer Dissertation (2007, Freiburg) bietet einen Kommentar zu vier deutschen Predigten, DW 1; 22; 71; 6, von denen allerdings alle außer 22 bereits in der Reihe Lectura Eckhardi I–III, hrsg. v. G. Steer/L. Sturlese, Stuttgart u. a. 1998; 2008; 2009 vorliegen. Da fragt man natürlich sofort nach dem Neuen, z. B. im Vergleich mit DW 1-Lectura Eckhardi II von 2008 (auch wenn Alessandra Beccarisis Beitrag in LE II nicht I steht).
DW 1 geht J. von einer Vierteilung der Predigt aus, ohne die frühere Dreigliederung, N. Largier/F. Iohn, oder Fünfgliederung, A. Beccarisi, oder auch M. Egerdings Kritik (1984, 12) von der »nicht konsequent, nicht unbedingt logisch« zu nennenden Durchführung Eckharts zu erwähnen. Die Einführung in den von ihr gewählten »Aufbau der Predigt« (106 f.) fällt weniger spezifisch aus als möglich. Gemäß dem Titel ihrer Monographie steht im Zentrum das Wortereignis. Teil 1: die »Bestimmung der Seele für Gott allein«, Teil 2: »Vertreibung« und »Aufforderung«, Teil 3: »das Wortereignis …« mit der Unterstruktur: »Vernehmen des Wortes«, »Einung der Seele mit Gott durch Jesus, das göttliche Wort« – Jesus, Wort des Vaters; Jesus, Mitteilung der göttlichen Weisheit; Jesus, Selbstoffenbarung, und Teil 4: »Schlussgebet«.
Über Beccarisi hinweg widmet sich J. dem einleitenden Evangelienzitat, nicht ganz glücklich, denn sie macht textkritische Beobachtungen, ohne auf die Handschriften oder wenigstens den kritischen Apparat zu verweisen, aber schließt, dass die in der kritischen Ausgabe (und auch LE II) gewählte Überschrift »nicht von Eckhart« stamme. Zugegeben, es ist auffallend, dass Eckhart diese Predigt in seiner Responsio nach Mt 21,12 zitiert. Tatsächlich greift Eckhart zu Beginn seiner Predigt auch Mt 21,12 auf, kürzt diesen Text allerdings, verändert ihn, »wie J. Theisen bereits festge(s)tellt hat« (109), und ergänzt, wie J. angibt, ihn noch mit Joh 2,16. Ein definitives textkritisches Urteil bedürfte aber noch weiterer Überlegungen. Auch der aus der Kombination von Mt 21,12 und Joh 2,16 abgeleitete »Aufbau der Predigt« scheint nicht »vorgegeben«, wie J. ebenda angibt. Sicher lassen sich zwei Stufen ersehen – erstens die »Vertreibung der Kaufleute« aus Mt und zweitens die »Beseitigung der Tauben« aus Joh, warum es aber eine dritte und vierte gibt, wird aus der Schriftkombination nicht ersichtlich.
Von Text-Details zur Interpretation: Die Tempelreinigung er­folgt, weil der Herr »den Tempel ledic haben wollte, recht, als ob er hätte sagen wollen: Ich habe das Recht auf diesen Tempel und will allein darin sein und die Herrschaft darin haben.« Nun kann man diesen Satz als Aussage nehmen, wie es J. auch tut, und mit Hinweis auf M. Lexer, Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch, 1992, noch verstärkend ausdeuten »… den besitzer verlierend und dem lehnsherrn anheimfallend«, was zu folgender Interpretation führt: »Jesu absoluter Herrschaftsanspruch wird als durchaus rechtmäßig gedeutet: ›recht, als ob er hätte sagen wollen: Ich habe das Recht auf diesen Tempel‹; die Reinigung des Tempels wie dessen Räumung durch seinen legitimen Eigentümer und Herrn geschildert.« (111) Doch Skepsis meldet sich, sobald man die sich unmittelbar anschließende rhetorische Frage Eckharts liest und daraufhin die Eingangspassage der Predigt als Ganze betrachtet: »Waz ist daz gesprochen?« Eckharts Frage ist ein skeptisches Ausrufezeichen gegen die offenkundig ihm bekannte und von den Hörern vermutete Auslegung, dass nämlich die Tempelreinigung die Macht Gottes zeige, mit der er die Seele des Menschen nicht nur leerfegt, sondern den Menschen als unrechten Besitzer sie verlieren lässt, um sie ihm, Gott, anheimfallen zu lassen, wie das Gut seinem rechtmäßigen Lehnsherrn zukommt. Eckhart gibt eine kontrastierende Über­legung, die J. entgangen ist. Eckhart gesteht zu, ja, Gott will in diesem Tempel gewaltig herrschen nach seinem Willen, aber dieser Tempel »ist des Menschen Seele« – und wie ist diese beschaffen? Die Seele hat Gott »so recht als ihm selbst gleich gebildet und geschaffen« und Eckhart verweist natürlich auf Gen 1,26 und führt verdeutlichend aus: »So gleich ihm selber hat er des Menschen Seele gemacht, dass (weder) im Himmelreich noch auf Erden unter allen herrlichen Kreaturen, die Gott so wundervoll geschaffen hat, keine ist, die ihm so gleicht, wie einzig des Menschen Seele. Hierum will Gott diesen Tempel ledic haben, auf dass denn auch nichts weiter darin sei als er allein.« Mit diesem letzten Satz hat Eckhart das ledic vom Anfang wieder aufgegriffen. Gott geht es nicht darum, die Seele in Besitz zu nehmen »mit seiner göttlichen Wirkmacht« (112) oder sich als rechtmäßiger Lehnsherr gegenüber dem Dieb aufzuspielen – im Gegenteil, Gott macht der Seele unglaubliche Komplimente wie der Verliebte seiner Verehrten, ein großer Liebhaber, der am liebsten die Partnerin – und zwar eine ganz und gar ihm gleiche – intim für sich haben möchte, nur deshalb will er alleine in ihr sein, »weil ihm dieser Tempel so wohl gefällt, da er ihm so recht gleicht und es ihm selber so wohl behagt in diesem Tempel, wenn immer er allein darin ist.« Auch A. Beccarisi hat die Minnethematik in dieser Predigt nicht erspürt, auch nicht die Spannung in der Neudefinition, die Eckhart von ledic vorschlägt, aber sie hat auf das wichtige aus Gen 1,26 abgeleitete Motiv der Gleichheit (sie schreibt abschwächend »Ähnlichkeit«) hingewiesen.
Die größeren Linien von J. bestehen darin, dass sie eng am Text eine Reihe früher übersehener oder weniger gewichteter Beobachtungen von Wert macht (z. B. 124 f.: zur Unterscheidung von Kaufleuten und Taubenhändlern; 154: die organische Einheit im Menschen; 248 f.256 f.: Minnebilder). Dazu zieht sie aus dem Gesamtwerk Parallelen heran und betont, zum Teil bedingt durch die gewählten Sinnabschnitte (abrupter Übergang: 186), zum Teil vorgeprägt durch eine katholische Hermeneutik, die »theonome« Seite (121), reduziert das Paradoxale (137) und hebt hingegen die Gnadenhaftigkeit der Sohnesgeburt im Menschen hervor (197) (»Gnade« aber fehlt im Register). Hervorgehoben werden der tri­nitarische Bezug (164.278), die mystische Einung des Menschen mit Gott (136, wobei Eckhart hier eher von Seuse gelesen scheint, 266), die unüberbrückbare Differenz zwischen Mensch und Gott (302.307) und die bleibende Relationalität der Trinität (200) auch in der letzten Einung im göttlichem Grund, da die Seele nur aus Gnade das ist, was der göttliche Grund von Natur aus ist (321 f.) – wobei natürlich gerade dies das anstößige Paradox war und ist, dass Eckhart es wagte, nicht mehr von der Einung zweier, sondern von Einssein zu sprechen.
Voran stellt J. eine Rekapitulation des Forschungsstandes zu Eckhart (45–105), ans Ende einen Exkurs »zur Analogielehre« (343–350) und »zu den Artikeln 8, 9, 10 und 22 der päpstlichen Bulle«, in denen zuvor angerissene Themen nochmals begegnen. Darauf folgt eine Zusammenfassung (371–382).
Auch wenn heute die Autoren zumeist gleichzeitig ihre Lektoren sein müssen, wäre eine nochmalige Durchsicht hilfreich gewesen (Französisch, Latein usw. wurde durch Autokorrektur öfter Deutsch).
Ohne die kritischen Seiten zu verschweigen, ist der »Versuch« zu begrüßen, zu Predigten einen Kommentar vorzulegen. Detailkritik, die solches Bemühen einfordert, zeigt nur, wie wichtig dies zur Förderung des Verständnisses des fast in jedem seiner Texte explosiven Denkers ist und wie sehr es ein ständiges gemeinsames Ringen seiner Rezipienten bleibt.