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Ausgabe:

April/2010

Spalte:

442-444

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Drecoll, Volker Henning [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Augustin Handbuch.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2007. XIX, 799 S. gr.8°. Kart. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-148269-4.

Rezensent:

Alfred Schindler

Es ist sehr verdienstvoll, dass der Verlag Mohr Siebeck in Tübingen in der Reihe seiner Theologen-Handbücher zwischen dem von Albrecht Beutel – der auch die gesamte »Handbücher«-Reihe herausgibt – betreuten Luther Handbuch von 2005 und dem Calvin Handbuch von 2008 (mit Hermann J. Selderhuis als Herausgeber) im Jahre 2007 auch ein Augustin Handbuch herausgebracht hat. Seine Qualität steht den beiden anderen »Handbüchern« in keiner Weise nach; Volker Henning Drecoll als Herausgeber hat hier seine wissenschaftlichen und organisatorischen Fähigkeiten auf brillante Weise unter Beweis gestellt. Er hat die 40 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, einschließlich seiner eigenen Person, zur Gestaltung eines imposanten Ganzen vereinigt.
Die Gesamtgliederung ist gleich wie bei den anderen »Handbüchern«: A. Orientierung, B. Person, C. Werk, D. Aspekte der Wirkungsgeschichte. Während das erste Hauptkapitel Handschriften, Ausgaben und die neueste Forschungsgeschichte behandelt, muss der Abschnitt B. selbstverständlich die Biographie darstellen (B.I), aber auch »Traditionen« (B.II). Hier wird von der klassischen lateinischen Literatur, z. B. Cicero oder Vergil, über den Neuplatonismus bis zur Bibelauslegung vor Augustin und der Rolle des Ambrosius für ihn alles vorgestellt, was auf Augustin positiv einwirkte oder auf seine Ablehnung stieß (alles zusammen gut 100 Seiten). In einem weiteren, wieder ungefähr 100 Seiten umfassenden Teil, noch immer unter dem Titel »Person« (B.III), folgen die Hauptkontroversen: mit dem Heidentum, mit den Manichäern, mit den Donatisten, mit den Pelagianern und mit den Juden. Sodann folgen ziemlich lange Abschnitte über Augustins Wirksamkeit als Bischof, einschließlich der liturgischen Fragen, sowie Augustin als »Schriftgelehrter«, d. h. über seinen Umgang mit der Bibel – mehr historisch-philologisch –, aber auch seine Predigttätigkeit. Man fragt sich, ob das alles unter dem Obertitel »Person« nicht zu viel ist und ein weiteres, mit einem weiteren Buchstaben gekennzeichnetes Ka­pitel (z. B. »Kontroversen«) sinnvoller gewesen wäre. Das gilt weitgehend auch für die anderen »Handbücher«.
Unter dem Obertitel »Werke« (= Abschnitt »C.«) werden dann na­türlich die wichtigsten Schriften behandelt, ebenso und zu Recht die frühen Paulusauslegungen, die zahllosen Predigten, auch solche zu den großen corpora der Psalmen- und Johannes-Auslegungen bzw. Predigten. Vollständige Verzeichnisse aller Werke Augustins finden sich unter Anwendung je verschiedener Prinzipien zwei Mal in dem Buch, nämlich auf S. 253–261 und S. 649–656. Augustins Theologie hat wie bei den anderen »Handbüchern« keinen eigenen Hauptabschnitt, sondern wird unter C.II »Themen« abgehandelt, vom Gottesbegriff über die Ekklesiologie bis zur Ethik und Eschatologie. Dass es hier viele Überschneidungen zu den Werkpara­phrasen gibt, wundert einen nicht, ist aber vom Herausgeber in Kauf genommen worden, besonders im Hinblick auf verschiedenartige Perspektiven. Besonders deutlich wird das auf S. 428–433, wenn man sie gegen S. 359 f. stellt, oder in dem Beitrag auf S. 540–547.
Absatz »D.« zum Nachwirken verweilt relativ lange bei der (noch) antiken und der mittelalterlichen Rezeptionsgeschichte bis hin zu den zwei großen Reformatoren Luther und Calvin. Danach werden noch auf ca. 20 Seiten die protestantischen Kontroversen im 17. Jh. (Remonstrantenstreit) und die praktisch gleichzeitigen katholischen (Jansenismus) behandelt. Weshalb im Unterschied zu den anderen »Handbüchern« nicht die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte im 18. und bis ins 20. Jh. dargestellt wird, ist verständlich wegen der weit auseinanderdriftenden Impulse Augustins und des Augustinismus, die eine sehr umfangreiche und differenzierende Behandlung erforderlich gemacht hätten – was bei dem Um­fang des Ganzen wohl für den Benutzer nicht mehr zumutbar gewesen wäre. Am Ende folgen die zahlreichen und zum Teil sehr langen, aber immer präzisen Verzeichnisse und Indizes.
Diese lange Inhaltszusammenfassung sollte indirekt zeigen, wie sehr alles mit der nötigen und ausführlichen Gründlichkeit behandelt wird, so dass kurze und pauschale Präsentationen fehlen. Insofern ist das Buch eine einmalige Einführung in den Stand der Augustin-Forschung am Anfang des 21. Jh.s.
Mängel sind nur wenige zu erwähnen. Zunächst: Der Herausgeber und Mitverfasser dankt in seinem Vorwort allen, die ihm geholfen haben, und gibt offen zu, dass das Werk ohne Leute seiner »Lehrstuhlmannschaft« in Tübingen, die namentlich erwähnt werden, »gar nicht realisierbar gewesen wäre« (V.). Die Verfasser und Verfasserinnen sind in einer besonderen Liste aufgeführt (647 f.); wer aber fehlt, sind die sechs Übersetzer und Übersetzerinnen. Dabei ist ihre Leistung ausgezeichnet gelungen und ist, außer kleinen Details, auch nicht solcher Art, dass man dem deutschen Text seine »Übersetztheit« anmerken würde. Sehr richtig – zweitens – im Blick auf die Leserschaft und die geringe Lateinkenntnis, die man heute voraussetzen kann, ist die konsequent durchgeführte deutsche Übersetzung aller lateinischen Zitate, die im ganzen Buch vorkommen. Von wem die (guten) Übersetzungen stammen, ist leider nicht klar. Aber ein Nachteil rührt von einer Vorentscheidung her, die auch in den beiden anderen »Handbüchern« gilt: keine Anmerkungen. In vielen Fällen, erstaunlicherweise am ehesten bei der Sekundärliteratur, ist das problemlos. Aber bei den etwas längeren lateinischen (und deutschen) Zitaten kann das ganze, mit Klammern in den laufenden Text Eingefügte, Schwierigkeiten bereiten, die man nur bei sehr genauer Lektüre bewältigen kann.
Der dritte Kritikpunkt ist der schwerwiegendste. Es handelt sich gewissermaßen um die »Kehrseite der Medaille«, nämlich der hohen Qualität und Ausführlichkeit des Werks: Wer soll es benutzen? Die beiden anderen »Handbücher« erfüllen die Absicht, auch Studierenden einen Überblick zu verschaffen, besser. Zwar nennt Drecoll »Studierende« und »interessierte Laien« (XV). Dem ist entgegenzuhalten, dass gute bis hervorragende Voraussetzungen mitbringen muss, wer als Studierender oder »Laie« die Sache adäquat verstehen will. Gerade Drecoll selbst ist stellenweise für nicht »Eingeweihte« schwer zu verstehen. Man muss ihm andererseits zugute halten, dass er vermutlich mehrfach als »Lückenbüßer« einspringen musste, wenn er für ein Thema keinen (fristgerecht abliefernden) Autor fand oder ein Beitrag zu schlecht war für dieses exzellente Werk. Wer also ist der ideale Benutzer dieses Buches? Ein Doktorand oder eine Doktorandin, wenn sie ein augustinisches Thema behandeln und sich einen qualifizierten Überblick über die Werke, die Forschungslage usw. verschaffen möchten. Und weiter Entfernte können auch einzelne herausgegriffene Kapitel recht gut verstehen – bei ausreichenden Voraussetzungen.
Für die eigentlichen Fachleute ist es sehr nützlich, wenn sie sich über bestimmte Fragen einen aktuellen und präzisen Eindruck verschaffen wollen. Um ein simples Handbuch oder gar Nachschlagewerk handelt es sich nicht. Dem entspricht auch der Umfang: Das Luther Handbuch umfasst knapp 550 Seiten, das Calvin Handbuch knapp 600 Seiten, das vorliegende Augustin Handbuch aber gut 800 Seiten, ohne dass die Rezeptionsgeschichte bis in die Gegenwart fortgeführt wäre.
Das fast durchgehend hervorragende Werk (ohne »schwarze Schafe«!) ist etwas zu hoch im Niveau, um den beabsichtigten Zweck ganz zu erfüllen. Es ist gewissermaßen zu gut, um eher bescheidene Bedürfnisse zu befriedigen. Aber gut, ja vorzüglich ist es.