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Ausgabe:

April/2010

Spalte:

436-438

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wengst, Klaus

Titel/Untertitel:

»Freut euch, ihr Völker, mit Gottes Volk!« Israel und die Völker als Thema des Paulus – ein Gang durch den Römerbrief.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2008. 469 S. gr.8°. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-17-019704-6.

Rezensent:

Angelika Reichert

Das umfangreiche Werk stellt ein Stück engagiert-positioneller Exegese dar. Die Untersuchung des Röm erfolgt – in Kontinuität zu vielen vorangehenden Arbeiten von W. – im Horizont des jüdisch-christlichen Dialogs. Im Blick auf diesen aktuellen Horizont ergibt sich nach W. aus dem Röm für die christliche Seite vor allem die Warnung vor der Verabsolutierung der eigenen Überzeugung und Lebenspraxis und die Aufforderung, Israels Glaubens- und Lebensweise als die ihm eigene, von Gott her eingeräumte Möglichkeit zu akzeptieren und zu fördern.
Der kommentierenden Auslegung des Röm, auf der das Schwergewicht der Monographie liegt, sind drei vorbereitende Teile vorangestellt. Der erste Teil versucht zu zeigen: Mit der für die lutherisch geprägte Paulus-Rezeption wesentlichen Konzentration auf das Heil des Einzelnen und der Entgegensetzung zwischen Glaube und (Gesetzes-)Werken bzw. zwischen Gnade und Leistung verbindet sich zwangsläufig eine abwertende und historisch unzutreffende Sicht des Judentums. Daraus ergibt sich für W. die Notwendigkeit, den Ansatz der Paulusinterpretation einem Impuls der »New Perspective on Paul« entsprechend umzuorientieren. Im zweiten Teil geht es um das Damaskuserlebnis des Autors Paulus. Nach W. hatte sich Paulus zuvor gegen jüdische Mitglieder der Christusgemeinden gerichtet, weil diese um des Zusammenlebens mit Nichtjuden willen bestimmte Gesetzesvorschriften zur spezifisch jüdischen Lebensweise unbeachtet ließen. Nach dem Damas­kuserlebnis wechselt er auf ihre Seite über und schließt sich ihrer Praxis an. »Damaskus« impliziert nach W. also keine grundlegende Wende im Selbstverständnis des Paulus (etwa: vom radikalen Gesetzesengagement zur Gesetzeskritik). Die Wahrnehmung des auferstandenen Christus bewirkt vielmehr eine Neupositionierung in der Problematik des Verhältnisses der Völker zu Israel und seinem Gott, ohne das jüdische Selbstverständnis des Paulus zu tangieren. Der dritte Teil bezieht sich – zunächst über Paulus hinausgehend – auf das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden in den gemischten Gemeinden des 1. Jh.s. W. unterscheidet das Modell eines Zusammenlebens unter nichtjüdischen Bedingungen (z. B. in den von Paulus verfolgten Gemeinden oder in Antiochia vor dem Zwischenfall) von dem eines Zusammenlebens unter jüdischen Bedingungen (Aposteldekret). Abschließend werden Gal 2,14–21 und Phil 3,2–14 behandelt, zwei Passagen, die insofern über das Problem des Zusammenlebens hinausgehen, als in ihnen (nach dem Apostelkonvent erneut) zur Debatte steht, ob Nichtjuden ins jüdische Volk integriert werden müssen, um zu Israels Gott in Beziehung zu treten. Dass sich Paulus vor allem in Phil 3,7 f. so undifferenziert negativ über sein eigenes Judesein äußert, »liegt an der ... polemischen Situation und sollte nicht prinzipialisiert werden« (135).
Die Röm-Auslegung des vierten Teils fügt sich zu den in den ersten drei Teilen auf anderen Feldern gewonnenen Auffassungen. Die allein entscheidende Frage ist aber, ob sich die Auslegung auch zum Text des Röm fügt, ob sie also in den Grenzen des vom Text selbst abgesteckten Interpretationsspielraums bleibt. Dies ließe sich sinnvoll nur in gründlicher exegetischer (und den Rahmen der Rezension sprengender) Auseinandersetzung diskutieren. Daher seien hier nur vier der diesbezüglichen Anfragen herausgegriffen:
a) 1,16 f.: Für W. ist das Thema »Israel und die Völker« Paulus durch seine Berufung vorgegeben (100); er sieht darin zugleich auch das Thema des Röm (138). Die paraphrasierende Überschrift zur Auslegung von 1,16 f. zeigt, in welcher Weise W. den Abschnitt für diese Themabestimmung in Anspruch nimmt: »Angabe des Themas: Gott hilft außer Israel auch Nichtjuden, indem er sich denen helfend und rettend zuwendet, die auf ihn vertrauen (1,16 f.)« (149). Darin ist die Hauptaussage 1,16c entnommen, also einem Element, das in der Struktur von 1,16 f. eine erläuternde Apposition darstellt, wobei zudem die Gewichtung der beiden Appositionselemente gegen den Text vertauscht wird. Weil W. überdies die Textfunktion (Bestimmung des Evangeliums) von 1,16 f. und den Rück­bezug auf 1,3 f. in der Auslegung nicht zur Geltung bringt, be­kommt diese eine entchristologisierende Tendenz, was sich auch in der Annäherung von πιστεύειν/πίστις an ein übergreifendes Gottvertrauen (bzw. an die Treue Gottes) niederschlägt.
b) 3,20: Im Zusammenhang der kritischen Ausrichtung der Arbeit hat das Verständnis von ἔργα νόμου zentrale Bedeutung, worunter nach W. nicht allgemein das von der Tora geforderte Tun zu verstehen ist, sondern die Einhaltung der speziell Israels religiöse Praxis betreffenden Toragebote (185 u. ö.). Die exegetische Be­währung dieser Auffassung scheitert beim ersten Beleg aber schon am näheren Kontext: Warum 3,20a nach dem Israel betont einschließenden Schuldaufweis plötzlich den Grund dafür nennen sollte, dass sich »hinzukommende Menschen aus den Völkern weder beschneiden lassen noch sonstige Aspekte spezifisch jüdischer Lebensweise annehmen sollen« (185), bleibt ebenso rätselhaft wie der Anschluss einer Aussage über die durch das Gesetz bewirkte ἐπίγνωσις ἁμαρτίας in 3,20b.
c) 9,1–5: Die Spannung zwischen der Klage über die Christusferne Israels (V. 1–3) und der Aufzählung der Israel von Gott her zugedachten Gaben (V. 4 f.) wird von W. im Sinne eines »Umschlag[s]« (293) aufgelöst, bei dem sich alles Gewicht auf das Letztere verlagert. Bei dieser Annahme bleibt aber nicht nur die rhetorische Ausgestaltung der Klage unverständlich, sondern auch die Tatsache, dass die vorab in V. 1–5 aufgezeigte Spannung das eigentliche Movens von Kapitel 9–11 insgesamt darstellt. Wäre das Problem der Christusferne durch die Aufzählung der Gaben Gottes an Israel bereits entschärft, dann gäbe es keinen Grund mehr für die angestrengte und keineswegs geradlinige Argumentation dieses Briefteils.
d) 15,8: W. möchte die Aussage über Christi Dienst am Beschneidungsvolk, der auf die Bestätigung der Väterverheißungen zielt, möglichst konkret fassen. Darum werden zunächst die Verheißungen durch den Bezug auf Land, Nachkommenschaft und gesichertes Leben im Land gefüllt (421). Paulus lasse offen, wie deren Bestätigung durch Christus zu denken sei (422, Anm. 817). Entscheidend ist nach W. der Unterschied von Christi Sendung an die Völker zu seiner Sendung an Israel, woraus folge, dass die Gemeinde, in der sich Christus repräsentiert, »seine dienende Funktion gegenüber Israel in dieser Hinsicht als ihre ureigenste einnehmen und wahrnehmen und also für die Gültigkeit und Realisierung dieser Verheißungen einstehen« müsse (422). Dass die Auslegung hier den Kontakt zum Text verliert, dürfte auf der Hand liegen.
Methodisch ist die Auslegung des Röm traditionell autorbezogen ausgerichtet: W. bietet umfangreiche Informationen zum jüdischen Hintergrund des Paulus (vor allem durch eine Fülle rabbinischer Vergleichstexte, aber auch durch die Behandlung der hebräischen Äquivalente zentraler Begriffe), außerdem Erwägungen zu Gesprächskonstellationen im »Hinterkopf« des Paulus, die bestimmte Argumentationsgänge veranlasst haben könnten. Dem­gegenüber tritt das literarische Interesse am Text als einer strukturierten Kommunikationshandlung an der römischen Adres­satenschaft stark zurück. Möglicherweise hätten sich aber gerade bei einem stärker textzentrierten Verfahren aus dem Röm wichtige Gesichtspunkte für den jüdisch-christlichen Dialog entwickeln lassen, z. B. die Einsicht, dass nicht nur die Abwertung, sondern auch die wohlmeinende Aufwertung Israels in Gefahr steht, sich mit einer theologisch in mehrfacher Hinsicht problematischen »Beurteilerperspektive« zu verbinden.