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Ausgabe:

April/2010

Spalte:

432-436

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Stein, Hans Joachim

Titel/Untertitel:

Frühchristliche Mahlfeiern. Ihre Gestalt und Bedeutung nach der neutestamentlichen Briefliteratur und der Johannesoffenbarung.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2008. XIII, 418 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 255. Kart. EUR 74,00. ISBN 978-3-16-149816-9.

Rezensent:

Angela Standhartinger

Die 2008 in Wuppertal abgeschlossene und von Martin Karrer be­treute Dissertation untersucht Gestaltungsweisen und Deutungshorizonte frühchristlicher Mahlgemeinschaften auf dem Hintergrund der Ergebnisse kulturgeschichtlicher Untersuchungen zum antiken Festbankett. Dabei nimmt Hans Joachim Stein insbesondere die neutestamentliche Briefliteratur (einschließlich Apk) in den Blick. Seine Leitfrage lautet: »Welcher Zusammenhang besteht zwischen der äußeren Gestalt der frühchristlichen Gemeinschaftsmähler und dem inneren Selbstverständnis der feiernden Mahlgemeinschaften?« (4)
Das 1. Kapitel kontextualisiert die Fragestellung innerhalb ge­genwärtiger liturgischer Diskussionen und bringt einen profilierten Überblick zur Forschungsgeschichte (5–19). Bereits hier zeichnet sich die Integrationsleistung ab, die S. vollbringen will, wenn er einerseits auf die Ansätze von Matthias Klinghardt, Andrew MacGowan und Dennis Smith verweist, die frühchristliche Mahlfeiern als Ausdruck antiker Symposionskultur verstehen, und andererseits auf die Untersuchungen von Peter Wick und Martin Ebner, die im jüdischen und frühchristlichen Mahl Orte abgrenzender Identitätsbildung entdecken. S. möchte also die Ergebnisse soziologischer, liturgiewissenschaftlicher und theologischer Forschung zusammenführen.
Da frühchristliche Mahlfeiern »in das Netzwerk antiker Ban­kettgesellschaften einzuzeichnen« (27) seien, stellt Kapitel 2 das griechisch-römische Gastmahl als Paradigma und danach Vereins­mähler und jüdische Gemeinschaftsmähler als Spezialfälle vor. Aus den bei Klinghardt, Smith und anderen zusammengestellten Quellen wird ein Idealmodell des antiken Gastmahls extrahiert. Während in den antiken Vereinen – untersucht anhand der vier bekannten aussagekräftigen Vereinstatuten antiker Vereine – die Mahlpragmatik, d. h. Verantwortlichkeiten und Mahlordnung, thematisiert würden, stehe im Zentrum des jüdischen Gastmahls– untersucht anhand von 3Makk 6,30–36, der im Sirachbuch zu­sammengestellten Mahletikette, mPes X und den Mählern der Therapeutinnen und Therapeuten (Philo cont.) – die Abgrenzungsfrage. Zwar partizipiere auch das jüdische Gemeinschaftsmahl an den antiken Tischsitten wie der Praxis des Zu-Tisch-Liegens oder des Weingenusses, aber Mahlgebete und die Speisegebote dienten der Identitätsbildung durch Mahldeutung.
In den frühchristlichen Mahlgemeinschaften mussten »[g]e­genüber dem Judentum ... organisatorische Fragen ein größeres Ge­wicht bekommen, gegenüber den Vereinen die Frage nach der religiösen Dimension des Mahls und seiner inhaltlichen Unverwechselbarkeit neu gestellt werden« (93). Die sich in der neutestamentlichen Briefliteratur spiegelnden christlichen Mahlgemeinschaften werden nun in den Kapiteln 3–6 vorgestellt. Paulus (3. Ka­pitel) könne als »Hauptförderer einer spezifisch-christlichen Mahl­praxis betrachtet werden«, da die gemeindliche Mahlfeier die zentrale Ausdrucksgestalt christlicher Identität« (96, ähnlich 157) sei. Die These wird anhand des Mahlkonflikts in Antiochia (Gal 2,11–14) und der Götzenopferdiskussion expliziert. In 1Kor 10,1–6 spreche Paulus eine Warnung vor Identitätsverlust und in 1Kor 10,14–22 eine Mahnung zur Identitätssicherung aus. Nach innen sei das Mahl aber inklusiv (zu Frauen vgl. 129–132), und anders als in den paganen Symposien nehme die ganze Gemeinde die Rolle des Mahlvorsitzes ein (133 f.). Im Ablauf der Mahlfeier nach 1Kor 11,17–34 wurden die Einsetzungsworte nicht rezitiert, sondern die gesamte Mahlfeier bringe »als Darstellungshandlung, in der die Gemeinde das Gedächtnis des Todes als ihr Gründungsdatum feiere zum Ausdruck« (146). In Röm 14,17 werde schließlich mit den Begriffen Frieden, Gerechtigkeit und Freude römische Mahlideologie aufgenommen und biblisch expliziert (152–157).
Auch die im 4. Kapitel untersuchten Deuteropaulinen insistierten auf dem Verkündigungs- und Darstellungscharakter des Mahls. Eine Textbasis findet S. in 2Thess 3,10, wo die Grenzen der Gastfreundschaft thematisiert würden. Weiter spiegele sich in Kol2,16 f. ein Essenskonflikt. Die Gemeindeversammlung werde wegen zu reich gedeckter Tische von Außenstehenden kritisiert. Wie Paulus bringe aber auch der Kol »Essen und Trinken nicht in seinem Eigenwert, sondern in seiner Transparenz für die Identität des Leibes Christi zur Geltung« (178). Kol 3,16 f. (vgl. Eph 5,18–20) thematisiere christliche Adaptionen des eigentlichen Symposionsteils, Kol 3,18–4,1 die inklusive Mahlethik. Der 1Tim sei dagegen zwar an Organisationsfragen (vgl. 1Tim 4,3–5; 5,17–23 u. ö.), nicht aber an der Mahlästhetik interessiert. Die Identitätsfrage werde vielmehr in Wortteil und Gebet verhandelt.
Die Behandlung der Mahlfeier in Jud 12 gehört sicher zu den originellsten Kapiteln der Arbeit (5. Kapitel). S. kontextualisiert das Mahl im Rahmen jüdischer Engelverehrung und Schriftauslegung und sucht eine paulinische Herkunft des hier erstmals auf eine Mahlfeier übertragenen Begriffs agape aufzuzeigen, indem er 1Kor 13 auf dem Hintergrund antiker Mahlethik interpretiert. Der Judasbrief bearbeite einen Konflikt mit heidnischen Gemeindegliedern, die das Mahl mit den angestammten Vereinsmählern verwechselten, liturgisch, indem er wie Paulus (1Kor 11,29–31) auf das Gericht angesichts der Parusie Christi verweise.
Das 6. Kapitel behandelt schließlich die Apk. Hermeneutischer Schlüssel ist das Verlesen des Buches in Mahlversammlungen, die sich im Schlussabschnitt Apk 22,6–21 spiegele (298–316). Mahlkonflikte, insbesondere um das Götzenopferfleisch im Kaiserkult, würden symbolisch entfaltet und in dichotomischer Gegenüberstellung bewältigt. Dies gelingt durch asketische Praxis wie Wein­verzicht und mithilfe der durch das Buch zu verfolgenden Mahl­motive wie »Lebensbaum«, »Manna«, »Lebenswasser«, »Wein der Hurerei«, »Zorn­­wein« etc. Die »eigene Mahlpraxis [ist] Indikator dafür, ob man zu Gott oder dem Lamm gehört und damit auf eine Einladung zum lebensspendenden Hochzeitsmahl hoffen darf« (325).
Das 7. und letzte Kapitel stellt die Ergebnisse zusammen und zieht liturgiegeschichtliche Entwicklungslinien aus. Die hermeneutischen Schlussüberlegungen (348–356) betonen den besonderen Charakter christlicher Mahlfeiern als »sinnvoll gestaltetes Kunstwerk« (349), das seinen Charakter nicht durch Rezitation der Einsetzungsworte, Mahlgebete oder Mahlelemente, sondern durch die Profilierung des spezifisch protestantischen Kirchenverständnisses erhalte.
Kapitel 3–6 gipfeln jeweils in einem Schema, das die erhobenen Informationen zu Mahlorganisation (Räume, Rhythmus, Teilnahme, Bereitstellung), Mahlverlauf einschließlich der Frage nach Leitung, Sättigungsmahlzeit und Mahlelementen und Mahldeutungen (Mahlbezeichnung, Konflikte, Abgrenzungen, Gruppenverständnis, Mahlverständnis, Prioritätensetzung) zusammenstellt. So entsteht eine Art Entwicklungsgeschichte des frühchristlichen Mahls. S. betont, dass Fragen offen bleiben müssen, etwa die nach Versammlungsräumen oder nach der Häufigkeit der Mahlfeiern(S. votiert für einen sonntäglichen Rhythmus bereits bei Paulus, vgl. 111–114). Dennoch suggeriert das Schema eine Art Normalablauf, der die kulturgeschichtliche Bedeutung dieser Institution m. E. zu wenig zum Tragen kommen lässt.
Dies liegt auch an der Leitthese des Buches, die die Identitätsbildung durch Mahlgemeinschaft vor allem auf der christlichen Seite in Abgrenzung zur paganen und jüdischen Mahlkultur sucht. So wird die pagane Symposienkultur zur Folie, auf deren Hintergrund sich das jüdische und christliche Mahl abheben soll. Dabei entgeht S., dass überall von Plato bis Plutarch und erst recht bei religiösen Mählern, wie im Serapiskult, bei Mysterienkulten und Caesarenfesten, Mahlordnung und Mahldeutung nichts anderes sind und sein wollen als Ausdruck und Darstellung der jeweiligen Gruppen­identität einschließlich gesellschaftlich-religiöser Utopien, d. h. des je eigenen theologischen Selbstverständnisses. Deshalb betonen die Philosophenmähler das Gespräch und weisen Theater und Musik (Plut., mor. 727B–730F), üppigen Weingenuss und Erotik zurück. Deshalb ist Petronius in seiner Satire über das pervertierte Symposion des Emporkömmlings Trimalcho geradezu besessen von der Darstellung absurden Tafelluxus und übersteigerter dramatisch inszenierter Unterhaltungskultur. Deshalb wird die Frage, ob und wie Frauen am Symposion teilnehmen, in der Symposienliteratur zum Gradmesser moralischen Standards. Deshalb kann das Mahl selbst – wie bei den Iobakchen oder vermutlich im Serapiskult – zum dramatischen Mitvollzug religiöser Grundmythen werden. Genau diese Funktion übernimmt auch das jüdische Pessachfest ebenso wie die Exodusfeier der Therapeutinnen und Therapeuten, deren Feier Philo kaum zufällig mit bakchisch ekstatischen Festen parallelisiert (Philo, cont. 83–89).
Es ist m. E. bedauerlich, dass S., der insbesondere auch in der US-amerikanischen Diskussion sehr belesen ist, bei diesem Überbietungsmodell stehen bleibt und damit Intention und Methodik des soziologisch-kulturgeschichtlichen Zugriffs auf die antike respektive jüdische Symposionskultur verfehlt. Aber auch wenn man diesem Gesamtansatz und manchen Einzelthesen nicht zustimmen kann, ist S.s Buch vor allem wegen der originellen und anregenden mahlgeschichtlichen Auswertungen der Deuteropaulinen, des Judasbriefs und der Johannes-Apokalypse durchaus lesenswert.