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Ausgabe:

April/2010

Spalte:

428-431

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Chester, Andrew

Titel/Untertitel:

Messiah and Exaltation. Jewish Messianic and Visionary Traditions and New Testament Christology.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2007. XVI, 716 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 207. Lw. EUR 119,00. ISBN 978-3-16-149091-0.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Dieses opus magnum des namhaften Neutestamentlers aus Cambridge verbindet eine Reihe von Studien zu frühjüdischen und neutestamentlichen Überlieferungen, die in den letzten gut 20 Jahren entstanden sind und zum Teil schon separat veröffentlicht wurden. Sie kreisen um die Themenbereiche frühjüdischer Endzeiterwartungen und um die Entstehung der frühchristlichen Christologie. Dabei werden auch hieran anschließende und weiterführende Fragenkreise wie etwa das Gesetzesverständnis oder anthropologische Konzeptionen im Frühjudentum und im frühen Chris­tentum nicht bloß berührt, sondern in eigenständigen Un­tersuchungsgängen erheblich vertieft. Einige der zum Teil sehr umfangreichen Studien haben ihren Ursprung in den Tübingen-Durham-Symposien, die von Martin Hengel initiiert worden wa­ren und seit 1988 regelmäßig im Wesentlichen deutsche und englische Neutestamentler zusammengeführt haben. Der wissenschaftliche Geist und das theologisch-exegetische Profil dieser Symposien charakterisieren auch die Arbeitsweise und die exegetischen Positionen von Ch. Schon deshalb verdienen seine Arbeiten hohe Aufmerksamkeit.
Eine gewisse Leitfunktion innerhalb des Bandes kommt der zuerst entstandenen der hier gesammelten Studien zu: »Messian­ism, Mediators and Pauline Christology« (Kapitel 5, 329–396). Sie war ursprünglich für das erste der Tübingen-Durham-Symposien zu »Paulus und das antike Judentum« (1988) erarbeitet worden und daher eigentlich auf die Entstehung und Entwicklung der paulinischen Christologie ausgerichtet, hatte aber seinerzeit schon (we­nigstens in der 1991 publizierten Fassung, die hier weitgehend un­verändert und lediglich um die Diskussionsprotokolle gekürzt wieder abgedruckt wird) ganz umfassend vor allem die antik-jüdischen Überlieferungen zu messianischen Erwartungen, zu Vi­sions­traditionen und zu transzendenten endzeitlichen Mittlerfiguren zusammengestellt. Von hier aus hatte Ch. exemplarisch (und insgesamt relativ knapp) einige Paulustexte in den Blick ge­nommen (1Kor 1,24.30; Röm 8,3 f.; Gal 4,4; Kol 1,15–20; Phil 2,5–11; 1Kor 15,45–49), um zu zeigen, wie Paulus aufgrund seiner Berufung (die Ch. als »visionary experience of the exalted Christ in the heav­enly world« beschreibt, 395) im Licht der jüdischen endzeitlich-messianischen Überlieferungen seine eigenen christologischen Anschauungen entwickeln konnte. Der Ansatz, der sich in dieser Anordnung der Untersuchungsschritte zeigt, ist typisch für die Arbeitsweise von Ch. in allen hier vorliegenden Studien und wurde von ihm schon in der Einleitung zur ersten von ihnen so formuliert: »That is, it seems to me important to take proper account … of the various Jewish material and to show how Paul can be understood in relation to it, rather than set Pauline Christology as the central point of reference and only bring Jewish evidence in to the extent that it appears directly relevant.« (329)
In seiner knappen »Introduction« (Kapitel 1, 1–11) benennt Ch. nicht nur die ursprünglichen Entstehungskontexte seiner Studien – neben dieser Einleitung wurden drei weitere Kapitel eigens für den Sammelband verfasst (Kapitel 2, 4, 9) und zwei andere substantiell überarbeitet bzw. signifikant erweitert (Kapitel 3, 8) –, sondern charakterisiert auch kurz ihren Gedankengang und ihren Bezug zu seiner übergreifenden Sicht der Beziehungen zwischen frühjüdischen Überlieferungen und der Entstehung der neutestamentlichen Christologie. Die sehr ausführlichen Kapitel 2 (»Christology and Transformation«, 13–121) und Kapitel 3 (»Resurrection, Transformation and Christology«, 123–190) behandeln primär frühjüdische Mittlerfiguren und Visionstraditionen, jeweils mit einem abschließenden Untersuchungsteil, der von hier aus die Anfänge der frühchristlichen Christologie beleuchtet und dabei Verbindendes wie Unterscheidendes sorgfältig in den Blick nimmt. Im Grunde wird hier also der Ansatz der oben beschriebenen ersten Studie wieder aufgegriffen und auf eine große Zahl weiterer frühjüdischer und neutestamentlicher Belege ausgeweitet, aber im Blick auf die zentralen Thesen und Ergebnisse nicht wesentlich verändert. Das zeigt sich auch an vielen Querverweisen, die immer wieder auf die Ausgangsstudie von 1991 zurückführen. Ergänzt werden die um­fangreichen Materialerschließungen durch zum Teil sehr ausführliche und detaillierte Wiedergaben von Forschungspositionen aus den vergangenen Jahrzehnten.
In methodisch ähnlicher Weise widmet sich Kapitel 4 (»The Nature and Scope of Messianism«, 191–327), die längste Studie des Bandes, den messianischen Traditionen des Frühjudentums und ihrer Rezeption im Neuen Testament. Auch hier wird wieder, zum Teil sehr ausführlich, die jüngere Forschungsgeschichte kritisch beleuchtet und diskutiert, speziell mit Blick auf die Entwicklung messianischer Anschauungen in der hebräischen Bibel und auf den Stellenwert spezifisch davidisch-messianischer Überlieferungen im Frühjudentum insgesamt und in Qumran im Besonderen. Dabei kommt erneut eine große Zahl von biblischen und frühjüdischen Belegen zur Sprache, hier insbesondere zahlreiche Texte aus Qumran, und am Ende steht wieder eine Auswertung der Befunde mit Blick auf das Neue Testament, wobei in dieser Studie neben Paulus besonders ausführlich die Messianität des vorösterlichen Jesus thematisiert wird, mit dem Ergebnis:
»Jesus can then be seen as acting in fulfilment of both a royal and a prophetic messianic role, and of deliberately identifying himself with both … That does not, however, allow us simply to run the two together into a composite royal-prophetic messianic profile. Nor does he take on what would be seen as an obvious messianic identity in first-century Palestine.« (320) »Jesus does plausib­ly show himself to be a messiah, but that he never takes on more than a restrained and oblique messianic identity. The emphasis throughout is on the kingdom and the final deliverance that is being brought about, not on Jesus himself.« (322)
Kapitel 6 (»Eschatology and Messianic Hope«, 397–470) weitet den Bereich der untersuchten Quellen noch einmal erheblich aus, indem hier unter den jüdischen Zeugnissen primär solche aus der Zeit zwischen 70 und 135 n. Chr. (angefangen bei Sib V über 4Esr, 2Bar und Josephus bis hin zu den in der rabbinischen Tradition überlieferten Synagogengebeten) berücksichtigt und mit zeitgenössischen christlichen Quellen (von der Joh-Apk über die Apostolischen Väter bis hin zu Justin und Irenäus) in Beziehung gesetzt werden. Diese Ausweitung folgt dem Rahmenthema des Symposiums von 1989, zu dem dieser Beitrag ursprünglich erarbeitet wurde: »Jews and Christians: The Parting of the Ways A. D. 70 to 135«. Sie entspricht aber zugleich auch einer Tendenz der jüngeren neutes­tamentlichen Forschung, die aus historischen Gründen zunehmend die durch den neutestamentlichen Kanon gezogene Grenze bewusst überschreitet, ohne die durch das Neue Testament gegebenen zentralen theologischen Fragestellungen dabei aus dem Blick zu verlieren. Auch hierin zeigt sich nicht zuletzt der prägende Einfluss von Martin Hengel, für dessen groß angelegte Ge­schichte des frühen Christentums genau diese Grenzüberschreitung eines der wesentlichen Merkmale bildet.
Auf eine kürzere Spezialstudie zu den Sibyllinischen Orakeln (Kapitel 7: »Messiah and Temple in the Sibylline Oracles«, 471–496) folgen am Ende noch zwei breitere Untersuchungen zum Verhältnis zwischen messianischen Erwartungen und dem Verständnis der Tora im Frühjudentum und im frühen Christentum. Die erste von beiden, die erheblich erweiterte Fassung eines Aufsatzes von 1998 (Kapitel 8: »Messiah and Torah«, 497–536), erfasst in einem weit angelegten Durchgang den Umgang mit der Tora in endzeitlichen Kontexten, wie er durch verschiedene neutestamentliche und früh­christliche Schriften einerseits (Mt, Jak, Did, Hebr, Barn, Paulus, johanneische Literatur, Justin, Irenäus) und antik-jüdische Texte andererseits (Qumran, PsSal, Jub, Targumim, rabbinische Li­teratur) belegt ist. Die zweite, für den vorliegenden Band verfasste Untersuchung (Kapitel 9: »The ›Law of Christ‹ and the ›Law of the Spirit‹«, 537–601) konzentriert sich noch einmal auf Paulus und sein spezifisches Verständnis vom »Gesetz Christi« im Verhältnis zu den ihm vorgegebenen frühjüdischen Toratraditionen. Entscheidende Voraussetzung für das paulinische Verständnis des Gesetzes ist die Einsicht, dass mit Jesus der erwartete Messias bereits gekommen ist und damit das messianische Zeitalter begonnen hat, so dass für die Jesus-Anhänger die Tora nicht einfach in derselben Weise und Gestalt weiter in Geltung stehen kann wie vordem. Wie die Tora von diesem Kontext her neu zu verstehen und auf die Situation der Christen anzuwenden ist, dies ist für Paulus eine offene Frage, gerade weil eben für ihn keineswegs ein »altes« Gesetz durch ein »neues« abgelöst oder gar das Gesetz als solches abgeschafft worden ist. Deshalb spricht Ch. von »the Law transformed through Christ and the Spirit« (597), wenn er die Bedeutung der Tora für Paulus erfassen will. »I argue that ›the law of Christ‹ should indeed be understood as ›law‹, and in genuine continuity with the Mosaic law. But it should at the same time be understood as a ›law‹ transformed, in the messianic age, through the Spirit to take on the character of Christ … Thus it is Christ and Spirit who definitively characterize the final, messianic age in Paul’s understanding, and the law, now characterized and controlled by them, takes on a transformed mode and dimension in this messianic age.« (8 f.)
Die hier zusammengefassten Studien stehen durchweg auf ho­hem exegetischen und theologischen Niveau. Sie ergeben in der Sum­me ein überaus differenziertes und facettenreiches Bild von frühjüdischen messianischen und sonstigen eschatologischen Vorstellungen und Erwartungen und können in dieser Hinsicht geradezu als Kompendium zur frühjüdischen Eschatologie und Messianologie verwendet werden. Ausführliche und detailliert durchgestaltete Register (647–716) erleichtern einen solchen Gebrauch des Werkes ebenso, wie das umfangreiche Literaturverzeichnis (603–645) und der Anmerkungsapparat zu weiterführenden Studien einladen.
Was dem Band fehlt, um als monographische Gesamtdarstellung zur frühjüdischen und frühchristlichen Messianologie gelten zu können, ist ein stärker systematischer Zugriff in Anlage und Durchführung. Bezeichnenderweise fehlt ein zusammenfassendes Schlusskapitel, und die wenigen Seiten der Einführung können diese Funktion schwerlich übernehmen. Auch innerhalb der Einzelstudien wirkt der Gedankengang bisweilen weitschweifig und wenig auf das Argumentationsziel zugespitzt, besonders in Passagen, die jüngere Forschungsdiskurse wiedergeben und bewerten. Andere Teile wiederum bestehen vorwiegend aus der Sammlung und bisweilen nur knappen Auswertung von Quellenmaterial, ohne dass die jeweiligen Kontexte der Belegstellen eigens gewürdigt werden. Auch bei manchen der herangezogenen neutestamentlichen Stellen hätte man sich eine etwas eingehendere Be­handlung der exegetischen Zusammenhänge gewünscht. Dazu kommen zahlreiche Überschneidungen und Doppelungen, die noch recht deutlich die Entstehungsgeschichte des Bandes als Zu­sam­menstellung ursprünglich selbständig entstandener Einzelstudien erkennen lassen.
Man wird Ch. wohl zugute halten müssen, dass er angesichts der aktuellen Forschungslage sich weder bereit noch in der Lage sah, eine »abschließende Monographie« zu dem in mancherlei Hinsicht durchaus umkämpften Gebiet der frühjüdischen und frühchristlichen Endzeiterwartungen und messianischen Vorstellungen vorzulegen, und es entspräche wohl auch nicht seinem Naturell und der Anlage seiner Studien. Von daher werden sich diejenigen, die den Reichtum seiner Forschungen für ihre eigene Weiterarbeit an den genannten Themen erschließen wollen, einiger Mühe unterziehen müssen. Aber: ohne Fleiß kein Preis, und derjenige, den die vorliegende Studiensammlung verspricht, ist überaus hoch.