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Ausgabe:

April/2010

Spalte:

425-427

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Becker, Michael, u. Markus Öhler [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Apokalyptik als Herausforderung neutestamentlicher Theologie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2006. VIII, 447 S. gr.8° = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 214. Kart. EUR 74,00. ISBN 978-3-16-148592-3.

Rezensent:

Michael Labahn

»Apokalyptik« – dieser Begriff stand im Fokus zweier Tagungen im Jahr 2003, deren Vorträge in diesem von Michael Becker und Markus Öhler herausgegebenen Band zusammengefasst werden. Im Zentrum steht der Beitrag von Jörg Frey; in Auseinandersetzung mit Versuchen, die Bedeutung apokalyptischer Vorstellungen für die Verkündigung des historischen Jesus zu nivellieren, leistet Frey ein Doppeltes: Er bewertet die Apokalyptik im Kontext der Forschung seit dem Uppsala-Kolloquium mit wichtigen Beobachtungen (Qumran) neu, so dass die theologische Leistung der Apokalyptik ge­genüber einem Verständnis als bloß zukunftsorientierter Kri­sen­bewältigungsstrategie hervorgehoben wird. In diesem Ho­rizont arbeitet Frey ihre positive Funktion innerhalb der Botschaft Jesu, insbesondere für die Basileia-Verkündigung heraus. Ist für Jesu gesamte Botschaft und sein Handeln »von einer in hohem Maße apokalyptischen Prägung zu sprechen« (91), so ist das Konzept der Präsenz des Reiches nach Frey »aufs Äußerste gesteigerte Apokalyptik« (77). – Die theologische Herausforderung des Phänomens der Apokalyptik mit den ihr eigenen Problemhorizonten steht auch im Zentrum der über Grundzüge und Bestandteile der Apokalyptik orientierenden Einleitung durch die Herausgeber. Wenn hier kritisch auf Bultmanns Entmythologisierungsprogramm Bezug genommen wird (3), so wird verdeckt, dass dies mit Becker und Öhler das berechtigte Anliegen der Interpretation der Apokalyptik verbindet unter durch forschungsgeschichtliche Fortschritte wie auch in zeitgeschichtlichen Bezügen veränderten Verstehensbedingungen.
Der Band unterscheidet vier Themenbereiche mit Beiträgen zum Neuen Testament, zur frühchristlichen Literatur, zur Um­welt des Neuen Testaments und zu theologiegeschichtlichen bzw. systematisch-theologischen Perspektiven.
Apokalyptik im Neuen Testament wird anhand der Ausformung von Denkstrukturen (Basileia-Verkündung Jesu: Jörg Frey), der Präsenz von Motiven in Tradition und Rezeption (Mk 13: Eve-Marie Becker), von Argumentationsfiguren (Motiv des Endgerichts im Römerbrief: Klaus-Michael Bull) erörtert, aber auch die zeitgeschichtlich und geographisch zu verankernde Entwicklung von Bewältigungsstrategien zeitgenössischer Herausforderungen (Apk 12: Heike Omerzu) wird bedacht.
Die Analyse apokalyptischer Denkstrukturen lässt Paul Metzger den 2Thess nicht »einem Schülerverhältnis zu Paulus« (150) – der These einer Paulus-Schule im engeren Sinn steht er kritisch gegenüber –, sondern dem Traditionsstrom der Johannesapokalypse zu­ordnen; zur Paulustradition verhält sich 2Thess, indem er »seinen Gegnern deren Gewährsmann entziehen« will (165). Ob sich diese Abgrenzung (immerhin stellt sich der pseudonyme Verfasser als Paulus vor und imitiert partiell Strukturen und Sprache des 1Thess) und Zuordnung wirklich begründen lässt, hängt auch damit zusammen, wie man die Bedeutung der Apokalyptik für Paulus und seine Schule einerseits und die Relation der Offenbarung des Johannes zum paulinischen Traditionskreis andererseits bestimmt. Als beachtenswerte Impulse können weiterhin festgehalten werden: Mithilfe der Argumentationsanalyse (Toulmin, Kopperschmidt) von Röm 2,1–16 und 14,(7–9)10–12 gelingt es Bull erneut deutlich zu machen, dass das apokalyptische Motiv des Endgerichts ein Einverständnis zwischen Absender und Adressaten repräsentiert (139.143). Die Pragmatik des Briefes wird so durch die Aktualisierung traditioneller Denkfiguren erreicht.
Heike Omerzu untermauert aufgrund des von ihr interpretierten Materials, zu dem auch Münzdarstellungen gehören, die für das Gesamtverständnis der Johannesoffenbarung wichtige Einsicht, dass der Seher »bewusst an die verschiedenen Erfahrungshorizonte seiner gemischt religiös sozialisierten Adressatengemeinden anknüpfen will« (170), anhand des Themas der »Himmelsfrau« in Apk 12. Zugleich kann Omerzu einen bisher eher vernachlässigten Aspekt betonen, dass mit der Rezeption von Motiven des Isis/ Seth-Typhon- bzw. des Leto/Python-Mythenkreises bereits in Apk 12,1 ff. die Auseinandersetzung mit dem römischen Kaiserkult beginnt; die Episode der Himmelsfrau wäre Anspielung auf Domitia. Der Vergottung ihres verstorbenen Sohns steht die Entrückung des wahren Gottessohnes gegenüber, dem der römische Kaiser in der Rolle des Seth-Typhon/Python als Drache und Satan begegnet. Methodologisch zu beachten ist auch die Analyse der »längste(n) zusammenhängende(n) Rede im MkEv« mithilfe narratologischer Methodik (13,5b–37 als »direkte Figurenrede«) durch E.-M. Becker mit dem Ziel, die historische Transparenz zu erheben, die in der direkten Begegnung des erzählten Jesus mit dem Leser liegt: »In Mk 13,14–23 wird … die Zeitgeschichte, die die Gegenwart des Evangelisten geprägt und bestimmt hat, eingeholt« (124), z. B. in der Rückschau auf die Flucht der Jerusalemer Gemeinde nach Pella (112 f.).
Präsenz, Ausformung, aber auch Distanzierung gegenüber apokalyptischen Denkformen und Traditionen finden in der frühchristlichen Literatur neben und nach dem Neuen Testament statt. Für Letzteres steht bekanntlich das Thomas-Evangelium, wobei Enno Edzard Popkes ein schmales Band von apokalyptischen Motiven auch im koptischen ThEv (z. B. ThEv 51,1) mit Parallelen zu alttestamentlich-jüdischen und neutestamentlichen Traditionen herausarbeitet, aber auf »eine subtile Modifikation der vorgegebenen Texte im Zeichen einer Soteriologie, die eine Affinität zu gnostischen Konzeptionen aufweist«, verweist (233). Einem erstaunlich breiten Spektrum apokalyptischer Motive und ihrer Relation zu gnostischem Denken geht Jutta Leonhardt-Balzer zum Johannes-Apokryphon nach, die ihre Pointe in der Umkehrung der Perspektive auf den Anfang haben: Hierin zeigt sich »die speziell gnostische Umformung apokalyptischer Erwartung auf eine persönliche Rückkehr zum ursprünglichen Schöpfungszustand hin« (262). Anders unterstreicht Wilhelm Pratscher für den 2Clem ein Zusammenwirken von Paränese und Apokalyptik als Strategie zur Bewältigung des Verzögerungsproblems. Dabei kommt der Ethik Bedeutung für die Parusie zu: »Erreicht dieses (gleichsam) eschatologische Dignität, wird das Kommen des Reiches nicht auf sich warten lassen« (208).
Parallelen zwischen griechischem Jenseitsglauben und frühchristlichen apokalyptischen und eschatologischen Denk­formen zweigt nur Imre Peres auf, der in seinem gelegentlich etwas pauschal urteilenden Beitrag Ergebnisse seiner Habilitationsschrift »Griechische Grabinschriften und neutestamentliche Eschatologie« zusammenfasst. Michael Becker arbeitet unter Be­rück­sich­tigung zeitgenössischer Apokalypsen (4Esr und syrBar) mit ihrer »recht große[n] Nähe zu verschiedenen Aussagen der rabbinischen Tradition« die These von einem »rigiden Traditionsbruch« (359) zwischen Apokalyptik und frührabbinischem Denken kritisch auf, wobei er mit wünschenswerter Deutlichkeit die Apokalyptik als »ein religionsgeschichtlich relevantes, sehr vielschichtiges und flexibles Phänomen mit weltanschaulich strukturierten Vorstellungen« be­trachtet (299). Das Ergebnis des umfangreichen Aufsatzes markiert die Notwendigkeit zu einer Differenzierung: Apokalyptische Ideen sind »als Zeugnisse einer aufs Ganze der frührabbinischen Literatur zwar randständigen, aber sehr wohl vorhandenen und unterschwellig wirksamen Erscheinung zu würdigen« (360). Abschließend werden theologiegeschichtliche ( Alf Christophersen über die Johannesapokalypse im Werk von F. C. Baur und ihren Impuls auf die aktuelle Forschung) und hermeneutische Fragen (Ulrich H. J. Körtner über die Bedeutung der Apokalyptik für die Gegenwart) erörtert. Christliches Nachdenken über die Apokalyptik verneint nach Körtner nicht die Möglichkeit der Katastrophe, sondern in der Bejahung der Welt ist »christlicher Glaube … Mut zum fraglichen Sein« (400) – Mut wird als ethischer Begriff verstanden, der auf Bewährung in der Bejahung des Lebens unter Einschluss von Leidensbereitschaft zielt (401).

Bedeutsam ist, dass mit diesem Band das langjährige Wirken der »Arbeitsgemeinschaft neutestamentlicher Assistenten und Assis­tentinnen an evangelisch-theologischen Fakultäten« öffentlich wird und er sich die wissenschaftliche Qualität der Arbeit der AG ASS zeigt. Er setzt beeindruckende Impulse, wobei eine gewisse Disparatheit der Beiträge der Flexibilität und Verschiedenartigkeit des Phänomens »Apokalyptik« selbst entspricht. Auch wenn das Fragen nach der Apokalyptik durch einen solchen Band nicht zu einem Abschluss kommen kann, so werden doch wichtige und neue, bisweilen auch zum Widerspruch reizende Vertiefungen geboten, die den durch ausführliche Register erschlossenen Band äußerst lesenswert machen.