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Ausgabe:

April/2010

Spalte:

417-420

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Gärtner, Judith

Titel/Untertitel:

Jesaja 66 und Sacharja 14 als Summe der Prophetie. Eine traditions- und redaktionsgeschichtliche Untersuchung zum Abschluss des Jesaja- und des Zwölfpropheten­buches.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2006. XIV, 364 S. 8° = Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament, 114. Geb. EUR 49,90. ISBN 978-3-7887-2191-6.

Rezensent:

Burkard M. Zapff

Der in der Prophetenforschung seit Mitte der 80er Jahre des vergangenen Jh.s vollzogene Paradigmenwechsel hat die meisten prophetischen Texte im hinteren Bereich des Jesajabuches (»Tritojesaja«) und des Dodekapropheton als Fortschreibungsphänomene schriftgelehrter Prophetie auf der Basis vorliegender prophetischer Schriften zu sehen gelehrt, welche dem entstehenden Jesaja- bzw. Zwölfprophetenbuch vor dem Hintergrund zeitgeschichtlicher Ereignisse eine Neuinterpretation aufprägten. Ein wegweisendes Werk war hier die 1991 von O. H. Steck erstellte Studie »Der Abschluss der Prophetie im Alten Testament. Ein Versuch zur Frage der Vorgeschichte des Kanons«, BThSt 17, Neukirchen-Vluyn. Steck vergleicht darin die jeweiligen Schlusskapitel des Jesajabuches (Jes 56–66) und des Dodekapropheton – namentlich Deutero- und Trito­sacharja sowie Maleachi – und meint hier verschiedene buchübergreifende Redaktionsgänge festzustellen, die Ende des 4., Anfang des 3. Jh.s v. Chr. vor dem Hintergrund der Diadochenkämpfe bzw. der sich etablierenden hellenistischen Reiche formuliert wurden und verwandten schriftgelehrten Kreisen entstammen. Während Steck vor allem die Gemeinsamkeiten dieser Redaktionsgänge bei bestehenden Unterschieden betont und sie chronologisch aufeinander folgen lässt (vgl. Steck, Abschluss, 105), wobei die Fortschreibungen im Dodekapropheton jeweils auf die konzeptionell vergleichbaren Texte im Jesajabuch folgen, wählt J. Gärtner in ihrer 2005/2006 am Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg eingereichten Dissertation einen anderen Ansatz. Sie will die am Ende der jeweiligen Corpora in Erscheinung tretenden Fortschreibungen weniger aus gegenseitigen Beeinflussungen als vielmehr aus den Redaktionsprozessen innerhalb des Zwölfprophetenbuches bzw. des Jesajabuches erklären (5). Da die in Frage kommenden Kapitel am Ende des Zwölfprophetenbuches Sach 14 und des Jesajabuches Jes 66 vor allem die Völkerthematik behandeln, legt es sich nahe, der Frage nachzugehen, in welcher Weise beide Texte vorliegendes Traditionsmaterial der beiden Corpora aufgreifen und verarbeiten, um daraus »punktuelle Rück­schlüsse auf die Genese der Buchkonzeptionen« zu ziehen (17).
In einem ersten Teil A beschäftigt sich G. mit der Komposition von Jes 66 und Sach 14. Sie kommt zu dem Schluss, Jes 65/66 sei zusammen mit Jes 56,1–7.8 die »Summe der jesajanischen Theologie«, da »sie anhand der drei großen jesajanischen Themen von Recht/Ge­rechtigkeit, Schöpfung und Tempel die endzeitliche Herrschaft Jhwhs über Himmel und Erde umfassend beschreibt« (63), wobei nach der Scheidung Israels in Fromme und Frevler auch ein Teil der Völker in das nur mehr aus Frommen bestehende Gottesvolk integriert wird (66). Auch in dem als Ereignisfolge gestalteten Text Sach 14 nehmen die Völker einen wichtigen Raum ein, insofern sich ihr Schicksal von Strafwerkzeugen über Gerichtete hin zu einem Heilsrest wandelt, »der Anteil an der endzeitlichen Verherrlichung Jhwhs von Jerusalem aus bekommt, sofern er sich Jhwh gemäß verhält« (92).
Trotz scheinbar großer Gemeinsamkeit lassen sich nach G. auch deutliche Unterschiede zwischen beiden Textkomplexen erkennen (vgl. die Zusammenstellung, 102): 1. Während die Vorstellung von der Königsherrschaft Jhwhs in Sach 14 innerhalb des von der Tradition vorgegebenen Vorstellungshorizontes bleibt, wird in Jes 66 die Vorstellung ins Unermessliche entgrenzt, insofern Jhwh Thronender über die Himmel ist. 2. Ebenso differieren die Vorstellungen vom endzeitlichen Jerusalem: Während in Jes 65/66 nicht die Verherrlichung Zions, sondern der Zionskinder im Vordergrund steht, dreht sich Sach 14 vor allem um die Erhöhung der Gottesstadt. 3. Zwar gleichen sich beide Texte, insofern sie von einer Differenzierung Israels in Gerichtete und einen Heilsrest ausgehen, welcher Anteil an der Verherrlichung Jhwhs von Jerusalem aus bekommt. Wirklich entfaltet wird dieses Thema jedoch nur in Jes 65/66. 4. Hinsichtlich der Sicht der Völker unterscheiden sich die Konzeptionen am deutlichsten, etabliert sich doch in Sach 14 der Heilsrest der Völker aus denen, die zuvor gegen den Zion anstürmten, während in Jes 66,18 f. das Gericht über die Völker durch die Sammlung Jhwhs veranlasst wird, ohne etwa auf das Motiv vom Völkeransturm zurückzugreifen. Diese doch recht beachtlichen Differenzen sucht G. im Folgenden aus den jeweiligen Buchkonzeptionen (Dodekapropheton, Jesajabuch) abzuleiten.
In Teil B geht G. den Traditionen nach, die in Jes 56,1–8, Jes 66 und Sach 14 verarbeitet werden. Im Hinblick auf Jes 56,1–7.8 und Jes 66 kommt sie zu dem Ergebnis, dass von den genannten Texten »auf redaktionsgeschichtlich bedeutsame Bindeglieder zurückgegriffen wird, die entweder selbst als Brü­ckentexte zwei Textkomplexe miteinander verbinden (Jes 30,27–33 und Jes 60,1–16) oder aber eine Linie durch das ganze Buch entwerfen (so Jes 1,10–17*; Jes 40,5 und Jes 56,6 f./Jes 66,23)«, so dass am Ende des Jesajabuches »die Anfänge Protojesajas, Deuterojesajas und ›Tritojesajas‹ zusammenlaufen« (132).
Im Unterschied dazu stellt sich Sach 14 als abschließende Reflexion der recht unterschiedlichen Völkertexte des Zwölfprophetenbuches (z. B. Sach 12,1–8.9* Jl 4 und Mi 4/5) dar. Dabei werden von Sach 14 Elemente dieser Völkertexte in eine Gesamtkonzeption eingebunden, indem etwa Völkergericht (Mi 4,11–13) und Gericht über Jerusalem (Mi 4,9 f.), aber auch Heil für einen Rest der Völker (Zef 3,9 f.) verknüpft werden.
Als grundlegenden Unterschied der buchabschließenden Texte Jes 66 und Sach 14 stellt G. zusammenfassend fest, dass sich die buchabschließende Re­daktion in Sach 14 durch die Aufsummierung der mit den Völkern und dem Zion verbundenen Vorstellungen zu einem neuen Ganzen auszeichnet, die letzten Kapitel des Jesajabuches hingegen zentrale Vorstellungen jesajanischer Theologie aufnehmen und so weiter entwickeln, dass es zu einer Entgrenzung der Vorstellungen kommt (213).

In Teil C reflektiert G. den redaktionsgeschichtlichen Prozess am Ende des Dodekapropheton und des Jesajabuches. Ihr Interesse richtet sich dabei zu­nächst auf die Jes 66 und 56,1–7.8 vorausliegenden redaktionellen Fortschreibungen am Ende des Jesajabuches. Die Ergebnisse ihrer Untersuchungen de­cken sich zum Teil mit den von Steck und Goldenstein (»Das Gebet der Got­tesknechte«, WMANT 92, Neukirchen-Vluyn 2001) entwickelten Modellen, wo­nach Jes 63,7–64,11 als ursprünglich buchabschließende Reflexion jesajanischer Theologie zu verstehen ist, an das sich eine weitere Fortschreibung in Jes 65/66 anschließt, um eine eschatologische Gesamtdarstellung zu bieten. Im Hinblick auf das Zwölfprophetenbuch ist Sach 12,1–13,9 als eine Fortschreibung anzusehen, die durch Sach 14 ergänzt wurde, um wesentliche Aussagen von Sach 12/13 (z. B. den gegen Jerusalem gerichteten Völkersturm) in eine Gesamtkomposition einzufügen.
Teil D bietet den Ertrag der Arbeit. Demnach handelt es sich bei Jes 56,1–7.8/Jes 65/66 und Sach 14 um eine umfassende eschatologische Konzeption, die den »Gesamtwillen Jhwhs« am Ende der Zeit zum Ausdruck bringt und somit als »Summe der Prophetie« zu gelten hat. Im Hinblick auf das Jesajabuch sei letztlich diese Redaktion aufgrund der Rahmung des tritojesajanischen Corpus durch Jes 56,1–7.8 und Jes 66 (Thema: Integration von Fremden/des Restes der Völker in das Gottesvolk) für die Dreiteilung des Jesajabuches verantwortlich, welche sich zugleich als Reflexion des ganzen Jesajabuches versteht (320). Sach 14 hingegen leistet mit seiner endzeitlichen Gesamtkomposition eine redaktionelle Zusammenstellung von Themen des Zwölfprophetenbuches, das in sich wesentlich disparater erscheint (vgl. 330). In einem kurzen Ausblick (331–336) blickt G. auf die weitere Entwicklung, in der die Schriftprophetie mit dem Aufkommen der apokalyptischen Literatur ein Ende findet, insofern nun erneut Offenbarungen bezüglich des Geschichtsplanes Gottes ergehen.
Insgesamt erweist sich die Arbeit G.s als ein äußerst interes­-­san­ter und kenntnisreicher Versuch, in den Spuren Stecks die Fort­­schreibungsphänomene am Ende des Jesajabuches und des Zwölfprophetenbuches zu profilieren, bei aller scheinbaren Übereinstimmung voneinander abzusetzen und aus der Re­­dak­tions­geschichte des jeweiligen Corpus heraus zu verstehen. Dabei ist die große Textfülle, durch die sich G. durchaus kompetent arbeitet, beeindruckend. Umso mehr erstaunt, dass sie den eigentlichen Ab­schluss des Zwölfprophetenbuches, nämlich das Buch Maleachi, wenig in ihre Überlegungen mit einbezieht. Zwar spielt hier das für ihre These wichtige Völkerthema keine Rolle, wohl aber die Reinigung Israels von allem Jhwh-Feindlichen, ein Aspekt, der, wie Steck gezeigt hat, durchaus Parallelen in Jes 65 hat. Weiterhin wäre zu fragen, ob die Endkomposition in Sach 14 nicht doch viel enger mit der ebenfalls eschatologischen Konzeption in Mi 4/5 zusam­men­ge­sehen werden muss, wo zeitlich differenziert die unterschiedlichen möglichen Verhaltensweisen (und Schicksale) der Völker beschrieben werden, was noch einmal durch die Stellung des Michabuches innerhalb der beiden, ebenfalls ein alternatives Verhalten der Völker (am Beispiel von Ninive) dokumentierenden Bücher Jona und Nahum unterstrichen wird (vgl. dazu meine Ausführungen in »Redaktionsgeschichtliche Studien zum Michabuch im Kontext des Dodekapropheton«, BZAW 256, 273–276).
Schließlich sei noch darauf verwiesen, dass Jes 65/66 auffällige Entsprechungen zur Urgeschichte aufweist (vgl. z. B. die hohe Lebenserwartung in Jes 65,20/Gen 5, die Beziehungen von Jes 66,18 f. zur Völkertafel in Gen 10,2.5.13 sowie die Rede von »allem Fleisch« Jes 66,23/Gen 6,12). Es wäre zu fragen, ob hier nicht am Ende des Jesajabuches ein bewusster Bezug zur Urzeit hergestellt werden soll, so dass Jes 65/66 nicht nur den »Abschluss der Prophetie«, sondern in einem kühnen kanontheologischen Bogen auch den Ab­schluss (und die Vollendung) der Geschichte bilden soll.