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Ausgabe:

April/2010

Spalte:

415-417

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Sinai, Nicolai

Titel/Untertitel:

Fortschreibung und Auslegung. Studien zur frühen Koraninterpretation.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz 2009. XI, 324 S. gr.8° = Diskurse der Arabistik, 16. Kart. EUR 68,00. ISBN 978-3-447-05873-5.

Rezensent:

Hans Zirker

Dieses Werk, eine an der Freien Universität Berlin eingereichte, von Angelika Neuwirth betreute Dissertation, steht thematisch im Zentrum scharfer islamwissenschaftlicher Auseinandersetzungen. Die Genese des Koran und dessen Beziehung zu frühen Rezeptionen koranischer Texte werden seit Jahrzehnten derart gegensätzlich beurteilt, dass kaum mehr absehbar ist, wie eine Verständigung darüber noch möglich sein sollte. Schon deshalb verdient jedes Bemühen, in dieser Sache weiterzukommen, Beachtung, erst recht, wenn die Untersuchung mit solcher Umsicht und Behutsamkeit angelegt ist wie im gegebenen Fall. Dass die Kontroverse folgenreich ist für die Beziehungen zwischen »westlicher« Islamwissenschaft und Islam, liegt auf der Hand. Doch auch die christliche Theologie kann sie nicht auf sich beruhen lassen, zum einen um ihrer eigenen Sicht der benachbarten Religion willen, zum anderen aber auch im Blick auf die von jeder Seite des wissenschaftlichen Disputs betonten Analogien zur Geschichte des biblischen Kanons und zu jüdischer und christlicher Schriftauslegung.
Die Studie geht davon aus, dass der Koran selbst die Rolle seiner ersten Adressaten nicht darauf beschränkt sieht, die Verkündigung passiv zu rezipieren. Sie lassen sich mit Fragen und Einwänden auf sie ein, lösen Erläuterungen aus und bewirken, dass ihre aktuelle Situation und ihr kultureller Hintergrund aus altarabischen, jüdischen und christlichen Traditionen im Koran mit zur Sprache kommen. Diese Erkenntnis ist für S. nicht unvereinbar mit der islamischen Binnenperspektive, da diese bei ihren Fragen nach den »Ursachen der Offenbarung« bestimmter Stücke des Koran im Prinzip dasselbe voraussetzt. Zudem hält S. an der traditionellen Überzeugung fest, »dass die Korantexte … durch einen charismatischen Gemeindegründer namens M uḥammad verkündet wurden« (X). Dieses Verständnis des Koran als einer Schrift, die (ihrer literarischen Gestalt nach) Gottes Offenbarung und deren kommunikative Rezeption zusammenschließt, dabei den menschlichen Part in die Offenbarung integriert, ist von großer theologischer Bedeutung.
Da also Interpretationen der koranischen Verkündigung im Ko­ran selbst schon als »Fortschreibungen« früherer Textelemente erkennbar sind, zeigt sich darin auch schon der Anerkennungsprozess, der später zum abgeschlossenen Buch und zu dessen Kommentierungen führt. Um diesem Sachverhalt gerecht zu werden, entwickelt S. im ersten Teil (1–58) einen Kanonbegriff, der sich sowohl auf die Genese des Koran wie auf die Geschichte seiner Rezeptionen beziehen lässt. Als »kanonisch« sollen Texte bezeichnet werden, die aufgrund der ihnen zugesprochenen Wahrheit und Relevanz das Welt- und Selbstverständnis der Glaubensgemeinschaft fundamental prägen und um der »Sinnpflege« wie des besseren Verständnisses willen eine fortwährende Auslegung und Aneignung erfahren.
Bei seinem Entwurf eines für die Ursprungsgeschichte des Koran plausiblen historischen Szenarios sieht sich S. zur Auseinandersetzung vor allem mit John Wansbrough und Patricia Crone genötigt (23–58). Für Wansbrough ist der Koran das Ergebnis einer erst nach 800 abgeschlossenen Kumulation und Verarbeitung präkoranischer, von außen (etwa Mesopotamien) importierter Texte, eines Vorgangs, der mit der frühislamischen Exegese ebenderselben Texte gleichzeitig wäre. Crone setzt die Endredaktion des Koran zwar etwa 100 Jahre früher an, hält ihn aber gleichfalls für einen in den Islam eingebrachten Fremdkörper. Unter Prüfung der für diese Thesen geltend gemachten Argumente legt S. die traditionelle Annahme, dass der Koran in der Gründungsgeschichte des Islam verwurzelt ist und die Kommentierungen ihm zeitlich folgen, als die sachlich angemessenere dar.
Im zweiten Teil (59–160) untersucht S. Partien des Koran, die eine Wiederaufnahme und deutende Weiterführung früherer Verkündigungen erkennen lassen. Um dem Verdacht zirkulärer Begründungen zu entgehen, erörtert er vorab Probleme der Textchronologie (59–73). Danach wendet er sich zunächst exemplarisch der Mo­segeschichte (75–85) und dem Adam-Iblīs-Komplex (86–96) zu, dann in besonders detaillierten »Fallstudien« den koranischen Ab­raham-Erzählungen (97–151). Dabei erweist sich der Koran durchsetzt von aufschlussreichen Rückbezügen, Sinnverschiebungen und Bedeutungserweiterungen.
Irreführen kann in diesem Zusammenhang jedoch die Feststellung, dass in Sure 2,124 ff. eine »Substitution« Isaaks durch Ismael erfolge (143), den Wechsel noch verschärfend, der schon mit 37,101–111 (Abrahams Prüfung) und den beiden folgenden Versen (Verheißung und Segnung Isaaks) gegeben sei. Doch im Koran wird, unbeschadet der von S. vermerkten interpretativen Änderungen, keine heilsgeschichtliche Linie über Isaak durch eine gleichartige über Ismael ersetzt, weder nach jüdisch-genealogischem noch nach christlich-typologischem Muster. Der Koran kennt keinen Gegensatz und Widerstreit der beiden Söhne Abrahams, wie er biblisch in bestimmten Zügen angelegt ist und in jüdischen wie christlichen Interpretationen gesteigert herausgearbeitet wurde. Mit Abraham und Ismael sind Isaak und Jakob »gottergeben« ( muslim) und stehen mit ihnen unter Gottes Heilszusage. Isaak wird nicht aus seiner Position verdrängt, damit Ismael diese einnehme; auch wird nicht neben die Isaak-Linie ein Bypass gelegt; vielmehr gibt der Koran und mit ihm der Islam die beschränkende Bindung der Heilsgeschichte an ein Abstammungsverhältnis überhaupt auf. Dem entspricht auch, dass die Frage, ob in der 37. Sure Abraham von Gott zur Opferung Isaaks oder Ismaels aufgefordert wird, für das islamische Selbstverständnis von vornherein nicht gleichermaßen erheblich war wie für das jüdische. Die muslimischen Exegeten lasen den Text keineswegs durchgehend sicher und einhellig zugunsten Ismaels.
Der dritte Teil (161–288) befasst sich mit früher Koranexegese, besonders der von Muqātil b. Sulaimān und Muǧāhid b. Ǧabr aus dem 8. Jh. Mit dem Vorausgehenden verbunden ist er in erster Linie durch das gemeinsame Interesse an der Textrezeption, an deren Formen und Funktionen, an der dem Koran schon eingestifteten und fortwirkenden »hermeneutischen Pluralität«. Auch hier zeigt sich, dass das Wesen des Kanonischen nicht im formalen Abschluss eines Textbestandes, nicht in der für alle Zeiten gültigen Definition seines Umfangs und seiner Geltung zu sehen ist, sondern in seiner Macht, ständig weitere Deutungen zu provozieren: zur Klärung des Gesagten, zum vertieften Verständnis und zur Wahrung der gemeinschaftlichen Orientierung unter sich wandelnden Verhältnissen.
Zum methodischen Charakter der Studie gehört neben der eingehenden Prüfung der literarischen Details die vorsichtige Beurteilung der aus ihnen zu gewinnenden Einsichten. Feststellungen, was gewesen sein »könnte«, »vermutlich« geschehen sein »dürfte«, was anzunehmen »naheliegt«, »nicht für unwahrscheinlich« zu halten ist, »nicht ausgeschlossen scheint« usw., bestimmen den Duktus der Ausführungen, doch nicht als Ausdruck der Schwäche, sondern der zurückhaltenden Einschätzung dessen, was letztlich nur »plausibel« zu haben ist.
Die übersichtliche Anlage des inhaltsreichen Buchs macht es Lesern, denen vielleicht nicht an allen Verzweigungen der Untersuchung gelegen ist, leicht, die Teile ihres jeweiligen Interesses auszuwählen.