Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2010

Spalte:

413-415

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Schweiker, William, Johnson, Michael A., and Kevin Jung [Eds.]

Titel/Untertitel:

Humanity before God. Contemporary Faces of Jewish, Chris­tian, and Islamic Ethics.

Verlag:

Minneapolis: Fortress 2006. X, 326 S. gr.8°. Kart. US$ 23,00. ISBN 978-0-8006-3822-1.

Rezensent:

Martin Leiner

Der Band veröffentlicht die Sharpe/Hoover Lectures vom Herbst 2003 an der Universität Chicago. Die Einleitung betont als besonderes Ereignis den interreligiösen Charakter der Vorlesungen, die zu etwa gleichen Teilen von jüdischen, muslimischen und christlichen Gelehrten vorgetragen wurden. Eine neue Richtung interreligiösen Arbeitens mit neuen Fragestellungen kündige sich durch die Vorlesungsreihe an.
Entgegen der seit dem 9. September und S. Huntingtons ›Clash of Civilisations‹ weitverbreiteten Sicht, die drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam seien direkt Quelle und Ursache von gewaltsamen Konflikten (Primordialismus), vertritt dieser Band die Ambivalenzthese: Religionen waren und sind eminent mächtige, aber ambivalente Faktoren. Sie können sowohl die Zerstörung als auch die Heilung der menschlichen Gemeinschaft fördern (2). Im vorzustellenden Buch liegt der Akzent ganz auf den Ressourcen der drei Religionen, menschliches Zusammenleben, Respekt und ethische Verantwortung zu stärken. Zwar würden, wie die Einleitung festhält, nicht alle Autoren als »religiöse Humanisten« bezeichnet werden wollen, da einige eine theozentrische Orientierung vertreten, die diesen Titel unakzeptabel erscheinen lässt, dennoch sind sich die Autoren des Bandes einig in der Gegnerschaft gegen antihumanistische Lesarten der abrahamitischen Religionen (6). Weiter gehen die Vorlesungen davon aus, dass die grundlegenden Erfahrungen aller Menschen wie Leiden, Freude, Geburt oder Tod sich ähneln. Im interreligiösen Dialog ist nicht so sehr die Achtung vor der Differenz, sondern die Suche nach einem gemeinsamen Grund, nach dem, was man in den deutschen Forschungen zur interkulturellen Kommunikation inzwischen Kommunalitäten (»communalities«, 12) nennt, das Entscheidende und Weiterbringende (7). Ohne dass eine Theorie über das historische Verhältnis der drei abrahamitischen Religionen gegeben wird, finden die Autoren in der Gottebenbildlichkeit und ihrer muslimischen Entsprechung, dem Kalifat des Menschen nach Sure 2,30, eine ähnliche gemeinsame Beschreibung der Grundsituation des Menschen, der vor Gott verantwortlich ist.
Diese Grundsituation wird in der ersten Reihe von Beiträgen auf die Sonderstellung des Menschen in der Schöpfung bezogen.
Der erste Beitrag des Philosophen Hilary Putnam fragt nach der Rolle der Religionen im ethischen Diskurs der Gegenwart. Putnam spricht sich für einen mittleren Weg aus zwischen einer Ersetzung der Religion im öffentlichen Diskurs und einer Letztentscheidungsbefugnis von Religionen in ethischen Streitfragen. Putnam lehnt beide Wege ab. Religiöse Argumentationen sollen neben nichtreligiösen Argumentationen wertvolle und eigene Teilnehmer an der ethischen Suche nach dem Guten sein (25). Der muslimische Religionsgelehrte Abdulaziz Sachedina legt die koranische Rede vom Kalifat des Menschen im Hinblick auf die Menschenwürde und universale bzw. partikulare Ethik aus. Sachedina ist einer der profiliertesten Vertreter eines demokratisch-pluralistischen Islam (vgl. sein Buch Islamic Roots of Democratic Pluralism, 2001). Er zeigt in diesem Beitrag, dass nach dem Koran die allen Menschen angeborene Natur, das ethisch Gute erkennen zu können, eine Quelle der menschlichen Würde ist. Die »edle Natur« der moralischen und spirituellen Erkenntnisfähigkeit ( taqwa) eignet jedem Menschen, unabhängig von der Bekanntschaft mit dem Koran. Innerhalb jeder Gemeinschaft soll der Mensch die Gerechtigkeit suchen, wobei keineswegs alle Gemeinschaften dieselben Gesetze und Institutionen haben müssen. Die christliche Theologin Lisa Sowle Cahill be­schreibt in ihrem Beitrag »Embodying God’s Image« die Interpretationsgeschichte der Gottebenbildlichkeit. Im An­schluss an Claus Westermann betont sie den sozialen und leiblichen Charakter der Gottebenbildlichkeit nach Gen 1,28. Durch die Sünde sind die harmonischen Beziehungen zwischen Menschen, insbesondere zwischen den Geschlechtern gebrochen und müssen durch Christus wieder geheilt werden. Menschenrechtsverletzungen wie die Vergewaltigungen an Frauen und Mädchen in Bosnien und in Ruanda richten sich gegen die leiblich-geschlechtliche Sozialität und sind damit direkt Verbrechen gegen Gott. Michael Fishbane sucht aus jüdischer Perspektive die Hauptelemente der Stellung des Menschen nach dem Bericht von Gen 1–2 zu benennen und auf dem Hintergrund der talmudischen und mystischen Tradition zu plausibilisieren.
William Schweiker geht in seinem Artikel »Distinctive Love. Gratitude for Life and Theological Humanism« von Martin Luther Kings Aussage aus, dass die Feindesliebe heute die einzig realistische Position für das Überleben der Menschheit ist (91). Schweiker grenzt sich ab von Nygrens These, die christliche Agape sei radikal vom Eros als der anderen Grundform der Liebe unterschieden, dennoch erinnert er an die große Wirkungsgeschichte dieser These (u. a. bei Barth und Tillich). Dies hat auch inhaltliche Gründe: Nygren weist auf Gottes »unmerited and extravagant love« (92) hin. Das Gebot der Feindesliebe ermöglicht, ja erlaubt dem Menschen eine liebende Bejahung der Wirklichkeit trotz ihrer Sinnlosigkeit und Brutalität (94), weil sie eine Dimension freilegt, in der diese Bejahung vorstellbar, ja vorhanden ist. Es ist keine menschliche Möglichkeit, Gottes Agape zu entsprechen. Gott kann aber die Freiheit dem Menschen geben, im Sinne der Agape zu handeln. Agape ist die Art, wie göttliche Freiheit in die Welt kommt und durch menschliche Akteure wirkend die üblichen Vorstellungen von reziproken Beziehungen überwindet (105).
Tikva Frymer-Kensky erinnert in ihrem Beitrag daran, dass neben der Rede von der Gottebenbildlichkeit – und viel breiter und häufiger bezeugt als sie – in der Hebräischen Bibel die Rede von Gottes, dem Menschen mitgeteilter Kavod steht. Frymer-Kenski nimmt als drittes Konzept das Kadosch-Sein, die Heiligkeit des Lebens, hinzu. Gemeinsam machen diese drei Konzepte deutlich, dass der Mensch, wenn er einem anderen Menschen gegenübersteht, auch Gott gegenübersteht (138). Michael Johnsons Artikel »Creation and Initiative« legt eine äußerst wichtige und überzeugende Neuinterpretation von Ricœurs Ethik vor. Er geht davon aus, dass die strikte Trennung philosophischer und exegetischer Texte in fast allen neueren Publikationen Ricœurs die möglichen Verbindungen zwischen beiden verdunkelt (140). Nicht selten wird Ricœurs Ethik heute zusammengefasst mit den drei Kapiteln aus »Soi-même comme un autre«, in denen die Formel »Ausrichtung auf ein gutes Leben für und mit dem anderen in gerechten Institutionen« erläutert wird. Johnson zeigt, dass in den exegetischen Schriften Ricœurs von einer ursprünglichen Bejahung und Befähigung des Menschen zur Kreativität gesprochen wird. Diese ursprüngliche Bejahung lässt sich mit Spinozas conatus essendi verbinden. Theologisch wichtig ist, dass der Rückbezug zur ursprünglichen Bejahung und Kreativität den poetischen Charakter des Handelns tiefer verstehen und theozentrisch zu interpretieren erlaubt. Im Vergleich zu Alain Thomassets Ricœur-Deutung in »Poétique de la morale« (1996) werden hier andere Akzente gesetzt: Die für den späten Ricœur zentrale Thematik der Befähigung (empowerment – l’homme capable) und die theologisch-exegetischen Grundlagen werden stärker herausgestellt. Auf diese Weise gelingt es, die Logik des Überschusses (de surcroît) zentral in die Darstellung der ricœurschen Ethik zu integrieren.

Der zweite Teil der Aufsätze widmet sich Einzelthemen einer hu­manistischen Ethik der drei abrahamitischen Religionen.
Zunächst begründet Paul Mendes-Flohr seine sehr kritische Sicht der nationalistisch-religiösen Entwicklungen in Israel. Er sieht darin einen Verrat an der universalen Sendung des Judentums und seiner nicht-manichäistischen Botschaft (177). Kevin Jung argumentiert in seinem Beitrag »Common Morality, Premoral Goods, and Religion« für die Annahme allgemeinmenschlicher Gü­ter, die sich wesentlich auf menschliche Grundbedürfnisse beziehen. »[U]nless basic human nature or the human conditions becomes fundamentally altered, basic human needs and the objects of these needs, namely premoral goods, must be also the same across cultures, races, and communities« (205).
Lawrence Vogel stellt in seinem Beitrag den zeitweise unter George Bush als Präsident des Council of Bioethics amtierenden Ethiker Leon Kass und seine philosophischen Quellen vor. Azizah al-Hibri, Professorin an der Law School der Universität Richmond, vertritt die typischen Argumente eines liberal-demokratischen Islam bis hin zu der Behauptung, die Übereinkunft, die Mohammad in Medina mit Juden und Christen geschlossen habe, sei vielleicht das erste Dokument einer toleranten Verfassung zwischen Menschen unterschiedlichen Glaubens überhaupt (250). Sie unterscheidet eine teuflische Logik (Iblisi Logic), die nach Sure 2,30–34 (vgl. auch 7,13 u. ö.) auf der Arroganz gegenüber dem Menschen und nicht auf der Unterwerfung unter den Menschen beruhe. Autoritäre Systeme, Rassismus, Klassengesellschaft und Patriarchat seien alle Ausdruck der Iblisi Logic, während die wahre Logik des Koran sich für die Würde jedes Menschen, für Ausgleich und Schutz der Schwachen plädiere. David Little von der Harvard Divinity School diskutiert progressive islamische Autoren vom Blickwinkel einer westlichen Sicht der Menschenrechte aus. Er sieht bei den muslimischen Autoren Defizite im Verständnis der Menschenrechte als den Einzelstaaten übergeordnete Rechte. Seine Formel lautet sogar: »States are ceatures, not creators, of Human Rights« (269). John Kelsay stellt in einem Artikel über die Reaktionen auf die Ausrufung des Heiligen Kriegs durch Al Kaida an konkreten Debatten dar, dass nicht nur die eher wenigen Pluralisten unter den Islamgelehrten wie z. B. Sachedina, sondern auch die Vertreter der anderen großen, am anderen Ende des Spektrums stehenden Richtung im theopolitischen muslimischen Denken, diejenigen, die Gottes Gebot zum Gesetz der Gesellschaft machen wollen, keineswegs den Aufruf von Bin Laden gut heißen. Auch im Islam gibt es Grundsätze für einen gerechten Krieg, die denen der westlichen Tradition sehr ähnlich sind. Der abschließende Beitrag von Seyyed Hossein Nasr stellt eine Sichtweise der islamischen Mystik auf das Kalifat des Menschen dar. Er folgt einer Auslegung von Sure 7,172, die er als Zeugnis für die Präexistenz der menschlichen Seele und den ewigen Bund Gottes mit der Seele deutet.

Das in vieler Hinsicht für die Chicagoer Art, Theologie und Philosophie zu treiben, typische Buch bietet eine Fülle von Aspekten und wertvollen Informationen über die US-amerikanische Diskussion zur gemeinsamen Ethik von Islam, Judentum und Christentum. Alle Beiträge sind lesenswert, derjenige von Schweiker und die Ricœur-Interpretation von Johnson ganz besonders, weil sie den Weg zu neuen, tiefergehenden Erkenntnissen bahnen.