Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2010

Spalte:

410-413

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Schieder, Rolf

Titel/Untertitel:

Sind Religionen gefährlich?

Verlag:

Berlin: Berlin University Press 2008. 322 S. 8°. Lw. EUR 29,90. ISBN 978-3-940432-31-5.

Rezensent:

Christoph Elsas

Maßgeblich um Konflikt- und Friedenspotentiale von Monotheismus geht es in diesem glänzend geschriebenen Essay von Rolf Schieder, der an der Humboldt-Universität zu Berlin Praktische Theologie lehrt und Sprecher des Program on Religion and Politics sowie Fellow am Baseler Forschungskolleg des Collegium Helveticum/Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik ist. Sein Buch präsentiert sich in fünf Kapiteln: »Gefahren wahrnehmen« (13 ff.), »Gefahren verstehen« (47 ff.), »Die Situation definieren« (154 ff.) »Religionspolitisch handeln« (217 ff.) und »Vierzig Hinweise und Empfehlungen für eilige Leser« (281 ff.), gefolgt von Literaturverzeichnis (297 ff.), Weblinks (304) und Anmerkungen (305–322).
Im ersten Absatz des Vorwortes heißt es – quasi als Motto: »Wie die Risiken einer Expedition durch gute Vorbereitung und gute Ausrüstung vermindert werden, so werden die Risiken der Religionen durch Bildung handhabbar.« Um eine Debatte über Religionspolitik zu provozieren, greift Sch. mit Augustin und vor ihm Varro zur Unterscheidung der Religionen nach ihren mythischen, zivilreligiösen und philosophischen Anteilen. Er nutzt damit Einsichten der Geschichte für die gegenwärtige Frage, wie man die Religionen so zivilisieren kann, dass ihr Friedenspotential gestärkt wird.
Dass Religion lebensgefährlich ist, so beginnt das erste Kapitel, dafür sind Martin Luther King und vor ihm Jesus Beispiele, ebenso wie die Schoah und der Massenmord an Muslimen mitten in Europa – bei dem Religion zum »Brandbeschleuniger« wurde. Sch. kommentiert das (19 ff.) mit »Gottes Religionskritik« am »Brudermord aus religiösen Gründen« (Gen 4) und den »allzu menschlichen Formen seiner Anbetung« (u. a. Micha 6). Denn es gibt »die Universalität religiös motivierten Terrors« – so Sch., auch wenn er mit Mark Juergensmeyer davon überzeugt ist, »dass dieselbe Religion, die solche mächtigen Akte der Zerstörung motiviert, ebenfalls ein enormes Leistungsvermögen in Bezug auf Heilung, Wiederherstellung und Hoffnung hat« (24): »Nicht die Religion als solche sei das Problem, sondern ihr perverser Gebrauch durch kulturell entwurzelte, sexuell frustrierte junge Männer« (29). Das Beispiel Islamismus als kulturell entwurzelte Laientheologie und seine Verbindung mit männlicher Pubertät wird dabei von Sch. in die allgemeinen Kontexte für »Gewalt als Gottesdienst« (Hans Kippenberg) eingeordnet, dass Terror von vermuteter Zustimmung lebt. Er stellt dabei mit Terry Eagleton »Terror als ekstatische Entgrenzung« (40) und »die Lust am bedingungslosen Gesetz der Liebe« (42) einander gegen­über. Hier wäre allerdings dessen Festlegung auf »das Gesetz des jüdisch-christlichen Gottes« zu überdenken, zumindest nach der Betonung des gemeinsamen Doppelgebots der Liebe im Offenen Brief muslimischer Religionsführer und Gelehrter aus aller Welt an Papst Benedikt XVI. und die Weltchristenheit vom 18. Oktober 2007 »Ein Wort das uns und euch gemeinsam ist«. Dazu vergleiche man: Muslimische Einladung zum Dialog. Dokumentation zum Brief der 138 Gelehrten (»A Common Word«), hrsg. v. Friedmann Eißler als EZW-Text 2002, Berlin 2009.
Bei allen Unterschieden stehen hier wohl Judentum, Christentum und Islam einem sich an Dionysos orientierenden »Terrorismus als Schöpfung« (45) gegenüber – und auf dessen Seite sowohl zerstörungswütigen Selbstmordattentätern als auch einem hochdynamischen Kapitalismus, der sich auf eine nicht mehr als Ge­schenk des Schöpfers verstandene individuelle Freiheit beruft.
»Gefahren verstehen« heißt für Sch. zunächst reflektieren: »Religiöse Menschen sind nicht nur religiös«, aber »das Religiöse drängt sich meist in Zeiten elementarer existentieller Verunsicherung auf« (48 f.). Deshalb müssen die Religionsgemeinschaften instrumentalisierungsresistent gemacht werden (54, mit Andreas Hasenclever): durch religiöse Bildung; durch institutionelle Arrangements wie klare Standards für die Auslegung religiöser Traditionen; durch Förderung der Autonomie derReligionsgemeinschaften sowie des interreligiösen Dialogs und der transnationalen Vernetzung von Religionsgemeinschaften. Denn dann zeichnen sich »die religionsbasierten Friedensinitiativen« in politischen Konflikten durch das Vertrauen der Konfliktparteien und die notwendige Dialogfähigkeit und Fachkompetenz aus (57, mit Markus A. Weingardt).
Mit der Modernisierungsthese sieht Sch. im »kompromiss­lo­se[n] Kampf gegen eine als verrottet angesehene Kultur das ge­fährliche Kennzeichnen des Fundamentalismus«; er problematisiert »die fahrlässige Verwendung dieses Etiketts für all diejenigen Überzeugungen, die dem liberalen Dogma der Standpunktlosigkeit nicht entsprechen« (68). Entsprechend argumentiert Sch. bei der Monotheismusthese »Ist Mose für religiöse Gewalt verantwortlich?« (69–88) zu den Themenbereichen »Ein unzureichender Be­griff und seine Folgen«, »Die Erfindung des Gottesvolkes«, »Assmanns Unterscheidung«, »Sloterdijks geschichtsphilosophischer Ge­waltakt«, »Imperiale Romantik«, »Groll über die emotionalen Folgelasten der Shoah?« und »Der Traum vom Ende der Differenz«. Er diskutiert die Induktionsthese »Wie gefährlich ist die Rede von der Gefährlichkeit der Religionen?« (89–107) mit Hinweis auf die Schüsselrolle, die in der interreligiösen Pädagogik das Begegnungslernen spielt: »Trage deine Kritik einem Vertreter der von Dir als gefährlich eingeschätzten Religion vor und gib ihm die Möglichkeit zu antworten!« (101) Sch. nimmt die Apokalyptikthese »Wollen religiös motivierte Gewalttäter das Ende der Zeiten herbeizwingen?« ernst (108–124), differenziert aber zu den Themenbereichen »Im Krieg auf das Tausendjährige Reich hoffen«, »Amerikanische Apokalyptik«, »Säkulare apokalyptische Semantik«, »Apokalyptiker als Avantgarde«, »Von der Revolution zur Routine«, »Arbeit an der Apokalypse« und »Das Böse als Mangel an Bildung«.
Der selbst »utopisch apokalyptisch-gewalttätigen« Forderung, Religion abzuschaffen, stellt Sch. die Orientierung an den Menschenrechten gegenüber mit der sowohl gesellschaftswissenschaftlichen als auch theologischen Einsicht, dass Kriterium »der real exis­tierende Mensch« zu sein hat (121) und »man immer auch mit einem gehörigen Maß an Unbildung bei sich selbst rechnen muss« (124). Als in monotheistischer Tradition »strikt anti-apokalyptische Modelle der Beziehung von Religion und Politik« expliziert Sch. Bundestheologie und Exoduspolitik unter den Fragestellungen »Wie religiös ist Thomas Hobbes und was macht Michael Walzer so interessant?« (125–140). Das führt Sch. zur Frage: »Ist die Erledigung der Politischen Theologie schon wieder erledigt?« (141–153), die er beantwortet: »Möglicherweise sind die Angriffe der deutschen Kosmo­theis­ten nur ein Kampf gegen die Geltung des Gesetzes im Namen einer neuen antinomistischen Romantik.« (152)
»Die Situation definieren«, das unternimmt Sch. mit den Philosophen Jürgen Habermas und Michel Foucault sodann mit religionssoziologischen Diagnosen zu religionskulturellen Beständen und Offenheit für religiöse Pluralität sowie zur Wahlfreiheit und Sehnsucht nach Identifikation, um im Anschluss an Augustin zu­rückzugreifen auf die altrömische theologia trepartita des Marcus Terentius Varro. Mit ihm unterscheidet Sch. zwischen »Volksreligion, Zivilreligion und philosophische Theologie« (186–215) für die Themenbereiche »Die Volksreligion Fußball und die polytheistische Religion der Dichter« (188), »Zivilreligionen unterschiedlicher Provenienz« (192), »Theologie als die Frage nach der Natur der Götter« (199), »Lessings Ringparabel und die neuen Ringparabelschmiede« (200) und »Gefährliche oder riskante Religionen?« (211). So identifiziert er als riskante Religionen an erster Stelle totalitäre Zivilreligionen, danach dualistisch-apokalyptische Religionstypen, als latent riskante auch romantische Entgrenzungsreligionen, demokratische Zivilreligionen und Religionen ohne historisch-kritischen Umgang mit sich selbst; demgegenüber sei »das Risikopotential von Religionen, in denen Gott und Mensch sich durch ein Gesetz gebunden haben, gering« und gehöre die Mystik in allen Weltreligionen zu den »risikoärmsten Religionsformen« (213).
»Religionspolitisch handeln« beinhaltet für Sch. Überlegungen zu den Kulturalisten, Verfassungsliberalen und Laizisten als den religionspolitischen Parteien in Deutschland (224–237) und zu den »religionspolitischen Optionen des Staates« (239), zu denen »Zivilisierung der Religionen durch Bildung« (251) und »Theologische Fakultäten« (255) gehören. Andererseits seien »die religionspolitischen Optionen der Religionsgemeinschaften« (260) einzubeziehen, um »von einer Hermeneutik des Verdachts zu einer wohlwollenden Unterstellung von Normalität fortzuschreiten« (263) und »Religionsgemeinschaften als zivilgesellschaftliche Akteure« (270) zu behandeln. Entsprechend stehen am Schluss wünschenswerten Handelns – und auch dieses Kapitels, das den 40 zusammenfassenden Thesen vorangeht – »die Zivilisierung der Religionen durch Bildung und die Zivilisierung der Gesellschaft durch Religion« (274).