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Ausgabe:

März/2010

Spalte:

374-375

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Sommer, Regina

Titel/Untertitel:

Kindertaufe – Elternverständnis und theologische Deutung.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2009. 391 S. gr.8° = Praktische Theologie heute, 102. Kart. EUR 44,80. ISBN 978-3-17-021030-1.

Rezensent:

Christian Grethlein

Die im Wintersemester 2008/09 in Marburg angenommene Habilitationsschrift für Praktische Theologie geht einem für kirchliche Praxis offenkundig zentralen Thema nach. Seit mehreren Jahren häufen sich die praktischen Handreichungen und Aktionen zur Förderung der Taufpraxis. Jetzt tritt dazu eine gründliche praktisch-theologische Reflexion.
Genauer platziert die Vfn. ihre Untersuchung in der – vielfach beschriebenen – »Spannung zwischen elterlichen Deutungen der Taufe und ihrer biblischen und kirchlichen Deutungstradition« (17). Historisch markiert sie das Allgemein-Werden der Kindertaufe als das entscheidende Datum hierfür. Ihr Anliegen ist es jetzt zum einen, in der Tradition von Henning Luthers Praktischer Theologie »gleichsam von unten« (zitiert 28) die religiösen Gefühle und Gedanken der sog. Laien zu erfassen. Zum anderen will sie diese – in Aufnahme entsprechender Impulse Wilhelm Gräbs – einer theologischen Deutung zuzuführen.
Der Maßstab hierzu oszilliert im Fortgang der Arbeit etwas: Zuerst wird von »Glaubensaussagen der biblischen und kirchlichen Tradition« (28) gesprochen, später begegnen »biblisch-theologische und wissenschaftlich-theologische Zugänge« (78) und Ähnliches. Dahinter verbirgt sich das seit Längerem bestehende Problem, wie biblische Aussagen hermeneutisch angemessen in praktisch-theologische Diskurse Eingang finden können. Die Vfn. kann dieses Problem freilich nicht grundsätzlich lösen, versucht aber (in Langescher Tradition) ein »Ver-Sprechen« biblischer und gegenwärtiger Glaubenstradition.
Die große Stärke der Untersuchung liegt jedoch an anderer Stelle. Nach einer zuverlässigen Skizze des (dürftigen) gegenwärtigen Forschungsstandes präsentiert sie eindrucksvolles empirisches Material. Von 15 im Bereich der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck geführten, fokussierten Leitfaden-Interviews mit (einzelnen) Eltern im Nachgang zu Kindertaufen werden sechs ausführlicher präsentiert und sorgfältig unter Rückgriff auf Oevermanns Objektive Hermeneutik interpretiert. Dabei gelingt es der Vfn. zum einen, das Material in gut lesbarer Form zu präsentieren (unter Weglassen der vielfältigen Interpretationsschritte im Vorfeld) und wichtige Problembereiche zu benennen. Zum anderen arbeitet sie inhaltlich eine große Fülle hochinteressanter Beobachtungen heraus, die in der weiteren Diskussion um die Taufpraxis Beachtung verdienen. Vor allem die Tatsache, dass auch Menschen aus ärmeren, formal wenig gebildeten Schichten interviewt werden, eröffnet neue Perspektiven. Besonders eindrucksvoll ist hier das Interview mit einer alleinerziehenden Mutter von drei Kindern, die zum Zeitpunkt des Interviews Arbeitslosengeld II und Unterhalt vom Jugendamt bezog. Die – für die katholische Frau selbstverständliche – (evangelische) Taufe ihres jüngsten Kindes fügt sich in die Logik eines verzweifelten Kampfes um das »Meis­tern« des Lebens und Anerkennung ein. Dabei dokumentiert eine Art Taufschrein in der Mitte des Wohnzimmerschranks, der die Taufurkunden und Taufkerzen der drei Kinder enthält, den hohen Wert der Taufe – zugleich bekundet die Frau (verbal): »es mag vielleicht mal Gott gegeben haben, aber ich glaube halt nicht dran« (zitiert 191). Hier werden traditionelle kirchliche bzw. dogmatische Vorstellungen radikal infrage gestellt. Die genannte behutsame Interpretation bewährt sich hier vorzüglich. Es gelingt der Vfn. – unter Rückgriff auf das Bild vom »Gegengift« (Bieritz, zitiert 187) –, mögliche religiöse Anknüpfungspunkte zu markieren.
Nach der etwa 120 Seiten umfassenden Präsentation der sechs Interviews versucht die Vfn. die Konstruktion von »Dimensionen einer die Elternperspektive aufnehmenden kontextuellen Tauftheologie«. Im ersten Schritt setzt sie hier die in den Interviews erhobene Kontextualität in ein Verhältnis zur kurz umrissenen Kontextualität biblischer Taufaussagen. Angesichts des bereits genannten bibelhermeneutischen Defizits gegenwärtiger Praktischer Theologie kommt es hier lediglich zu einigen eher assoziativen Einbli­cken. Genauer werden die Bestimmungen im zweiten Schritt, in dem die Vfn. die durch die Interviewten geäußerten Krisen- und Grenzerfahrungen vor allem in seelsorgerlicher und ritueller Hinsicht auf die Taufe hin durchmustert. Auf diesem Fundament kann dann – durch Rückgriff auf signifikante Interview-Äußerungen – der Taufakt selbst als »tauftheologisches Erschließungsgeschehen« (282) rekonstruiert werden. Die sakramententheologisch sich nahelegende Betonung des Leiblichen bestätigt sich hier ein­drucks­voll. Vor allem der Taufakt selbst – von den verbalen Teilen höchstens der Taufspruch – wird von den Eltern erinnert und als eindrücklich geschildert. Inhaltlich wird dann noch einmal Röm 6 von den zahlreichen Interview-Äußerungen her interpretiert, in denen die Eltern auf Tod und Sterben als wichtige Themen im Umfeld der Taufe hinweisen. Von hieraus weisen die Eltern auch – jenseits von verquälten praktisch-theologischen Bemühungen – den Paten eindeutig ihren Ort zu. Sie sollen für die Eltern eintreten, wenn diesen »etwas passiert«. Hier begegnet also bei vielen Eltern eine weit über bloße »Annahme« hinausgehende Einsicht in das Taufgeschehen.
Abschließend trägt die Vfn. noch einige Überlegungen zur »Kunst des Taufens« vor, die teilweise in den Bereich von pastoralen Ratschlägen reichen.
Insgesamt liegt eine vor allem durch die Interpretation von El­tern-Interviews beeindruckende Studie vor (die zudem den gegenwärtigen Forschungsstand gut wiedergibt). Sie führt in jeweils nur vom individuellen und sozialen Kontext her verständliche Deutungen der Taufe in der Gegenwart ein. Deren wiederum theologische Deutung wird versucht, teils durchaus überzeugend, auf jeden Fall aber anregend.
So ist dieses Buch allen Pfarrern und Pfarrerinnen, Vikaren und Vikarinnen dringend zu empfehlen, die bereit sind, die Perspektive hin zu den für ihre Kinder die Taufe Begehrenden zu wechseln. Dass nur dadurch der nächste Schritt möglich ist, in evangelischem Sinn die »Kunst der Taufe« zu verbessern, ist nach der Lektüre dieses vorzüglich geschriebenen Buchs unzweifelhaft.