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Ausgabe:

März/2010

Spalte:

372-374

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schnell, Tatjana

Titel/Untertitel:

Implizite Religiosität. Zur Psychologie des Lebenssinns. 2., überarb. Aufl.

Verlag:

Lengerich-Berlin-Bremen-Mi­ami-Riga-Viernheim-Wien-Zagreb: Pabst 2009. 326 S. m. zahlr. Abb. 8°. Kart. EUR 30,00. ISBN 978-3-89967-545-0.

Rezensent:

Matthias Hoof

Tatjana Schnell, Theologin und Psychologin, greift mit ihrer em­pirischen Studie (Erstauflage 2004), ein Phänomen auf, das die Praktische Theologie und die angewandte Religionspsychologie seit einigen Jahren gleichermaßen beschäftigt: Neben und teils unabhängig von der meist kirchengebundenen, expliziten Religiosität hat sich in den westlichen Gesellschaften längst eine andere Form religiöser Lebens- und Weltdeutung etabliert. Diese zu beschreiben und einer empirischen Erfassung zugänglich zu machen, ist das Ziel des Buches.
S. beruft sich auf das Konzept der »Implicit Religion« des englischen Soziologen und Theologen E. Bailey, der zur 2. Auflage ein Geleitwort geschrieben hat. Mit Bailey vertritt S. einen weiten Religionsbegriff, der »all das als Religion bezeichnet, was religionstypische Funktionen erfüllt oder von Individuen als religiös erlebt wird« (38). Implizite Religion steht für eine inhaltsoffene, verschiedenste Ausdrucks- und Lebensformen vereinigende Religiosität, die sich besonders für die alltagsinhärenten religiösen Aspekte interessiert. Eine zentrale Funktion hat (s. Untertitel) dabei die Suche nach Sinn.
Gesellschaftlich verortet S. in Kapitel 2 die Religiosität der Gegenwart im Spannungsfeld zwischen Sakralität und Profanität, Kirchlichkeit und Patchwork, Tradition und neuen religiösen Bewegungen. Dass die Kirchen ihr Sinnstiftungsmonopol verloren haben, bedeutet nicht, dass moderne Menschen weniger sinnerfüllt leben oder anfälliger für Sinnkrisen sind. Sinnfindung und -stiftung in der Postmoderne sind vielmehr höchst individuelle Vorgänge. Diesen widmet sich das Konzept der Impliziten Religiosität. S. definiert diese als »eine idiosynkratische Form der Religiosität …, die unabhängig von jeglichen institutionalisierten Religionen auftreten kann. Auch geht sie nicht notwendigerweise mit der Annahme einer Transzendenz einher. … Implizite Religiosität kann, muss aber nicht bewusst als Religiosität gelebt werden.« (37)
Kritische Stimmen mögen einwenden, dass hiernach eine klare Trennung zwischen religiös und nichtreligiös kaum mehr möglich ist. Kann ich – zugespitzt gefragt – jemanden, der auf der Suche nach Sinn ist, auch dann noch als (implizit) religiös bezeichnen, wenn er oder sie religiös indifferent ist oder sich gar ausdrücklich als areligös versteht? So weit würde S. sicher nicht gehen, auch wenn sie annimmt, dass jeder Mensch eine »Veranlagung« (56) zu impliziter Religiosität hat.
Implizite Religiosität drückt sich in drei universalreligiösen Strukturen aus, nämlich Mythen, Ritualen und Transzendierungserlebnissen, die in Kapitel 3 unter religionswissenschaftlichen, ethnologischen, soziologischen und psychologischen Gesichtspunkten beschrieben werden. Auf der persönlichen Ebene können die drei Elemente als »alternative Wege zum Sinn« (262) den drei Dimensionen menschlichen Verhaltens, Denken, Handeln und Erleben, zugeordnet werden, womit die Brücke zur empirischen Religionspsychologie geschlagen ist. Phänomenologische und funktionale Aspekte von Religion finden dabei in gleicher Weise Berücksichtigung.
Die zentrale Funktion von Religiosität ist für S. »Sinnstiftung«, die dann zum Tragen kommt, wenn den drei Dimensionen »ultimative Bedeutungshaftigkeit« (101) zukommt. Auf der abstraktes­ten Ebene geht es dabei um Lebenssinn. »Sinn« meint die Ein­bindung in einen größeren Gesamtzusammenhang. Das eigene Dasein wird als sinnhaft erlebt. Damit verknüpft sein können die Idee einer persönlichen Lebensaufgabe und die Erreichung von Zielen durch bedeutungsvolle Tätigkeiten (110).
S. hat die theoretischen Konstrukte im empirischen Teil ihrer Arbeit zunächst qualitativ mittels strukturiert-explorativer Interviews operationalisiert (Kapitel 4). In einem methodischen Zwi­schenschritt stellt sie anhand der Phänomenologie von My­then, Ritualen und Transzendierungserlebnissen hypothetische Annahmen auf und entwickelt daraus ein »Grundgerüst« impliziter Religiosität (Kapitel 5). Den universalreligiösen Strukturen werden dabei Inhalte und subjektive Bedeutungen zugeordnet. Diese gehen ein in das Kernstück der Arbeit, den Fragebogen zur Erhebung von Lebensbedeutungen (LEBE), der in Kapitel 6 unter strenger Befolgung testtheoretischer Methoden systematisch aufgebaut wird. Der Test enthält in seiner Endfassung 151 Items, von denen 141 insgesamt 26 verschiedenen Skalen, ebenden Lebensbedeutungen, zugeordnet sind. Zwei zusätzliche Skalen mit je fünf Items messen das Ausmaß der individuellen Sinnerfüllung und die Anfälligkeit für eine Sinnkrise.
In der fünfstufigen Sinnpyramide sind die Lebensbedeutungen als Quellen von Sinn auf der zweithöchsten Stufe unterhalb des Lebenssinns anzusiedeln. Sie lassen sich wiederum fünf verschiedenen Sinndimensionen zuordnen: 1. Transzendenzbezug (z. B. Spiritualität), 2. Verantwortung (z. B. soziales Engagement), 3. Selbstverwirklichung (z. B. Individualismus), 4. Ordnung (z. B. Tradition) sowie 5. Wir- und Wohlgefühl (z. B. Wellness).
Aus empirischen Gründen hat S. in der Neuauflage die Trennung zwischen »Transzendenzbezug« und »Verantwortung« aufgegeben. Beide werden nun unter dem Oberbegriff »Selbsttranszendenz« gefasst. S. unterscheidet dabei zwischen »vertikaler« und »horizontaler« Selbsttranszendenz. Horizontal be­deutet Verantwortungsübernahme für Aufgaben, die die eigenen Interessen deutlich überschreiten. Vertikal hingegen impliziert die Offenheit für eine außerweltliche, immaterielle Macht. Hier sind zwar auch Transzendierungserlebnisse in das »Andere« (Bailey) ausdrücklich eingeschlossen. Subjekt des Transzendierens ist aber auch hier das religiöse Individuum. Inwieweit dieses, wie in der christlich-theologischen Tradition angenommen, auch (ggf. unerwartet) zum Rezipienten von Transzendenzerfahrungen werden kann, lässt S. bewusst offen.
Kritisch ist anzumerken, dass das Thema »Kontingenzbewältigung« im Konzept der Impliziten Religiosität praktisch nicht vorkommt. Sind doch Erfahrungen mit der Unverfügbarkeit des Daseins und der Umgang mit belastenden Lebensereignissen im Alltag der Menschen meist eng mit der Sinnfrage verknüpft. Für den Pionier der psychologischen Sinnforschung, Viktor Frankl, auf den sich S. bezieht, war das Leiden an der Sinnlosigkeit des Daseins ein zentraler Auslöser für die Beschäftigung mit der Sinnfrage. Auch Kontingenzbewältigung ist, wie ethnologische Studien zeigen, ein universalreligiöses Phänomen.
In mehreren repräsentativen Studien mit insgesamt weit über 1000 Personen hat S. inzwischen den LEBE eingesetzt und weiter validiert. Er eignet sich auch für den Einsatz im kirchlichen Raum und kann interessante Einblicke in die Wert- und Lebensdeutungsmuster von Kirchenmitgliedern und in der Kirche Engagierten liefern. Explizite und implizite Religiosität stehen keineswegs unverbunden nebeneinander. Mythen, Rituale und Transzendierungserlebnisse sind gerade bei explizit religiösen Menschen besonders hoch ausgeprägt.
Insgesamt liegt ein auch für Theologinnen und Theologen empfehlenswertes Buch vor, die daraus – obwohl die empirischen Ab­schnitte ohne dezidierte Methodenkenntnisse schwer verständlich sind – einigen Erkenntnisgewinn für die Fortschreibung ihrer praktisch-theologischen Theorie und ihrer religiösen (und pastoralen) Praxis ziehen dürften.