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Ausgabe:

März/2010

Spalte:

370-372

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Nord, Ilona

Titel/Untertitel:

Realitäten des Glaubens. Zur virtuellen Dimension christlicher Religiosität.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2008. XXXI, 364 S. gr.8° = Praktische Theologie im Wissenschaftsdis­kurs, 5. Geb. EUR 88,00. ISBN 978-3-11-020555-8.

Rezensent:

Manfred L. Pirner

Nachdem sich die Praktische Theologie in den vergangenen Jahren mit mehreren impulsgebenden Arbeiten der theologischen Bedeutung von Medienwelten angenähert hat, liegt mit diesem Buch erstmals eine gründliche und grundlegende praktisch-theologische Auseinandersetzung mit dem besonderen medialen Phänomen virtueller Realitäten vor. In ihrer Habilitationsschrift (2007 von der Universität Münster angenommen; Gutachter: Wilfried Engemann und Christian Grethlein) versucht die Vfn. in einer doppelten hermeneutischen Denkbewegung eine wechselseitige Er­schließung von virtuellen Medienwirklichkeiten und religiösen Zeichenwelten, die sie schließlich auf Gottesdienst und Predigt hin konzentriert und konkretisiert. Aus der »Erkundung des medialen Phänomens virtueller Realitäten« möchte sie »Einsichten zur Selbst­aufklärung der medialen Dimension christlicher Religion und christlichen Glaubens« erheben (7).
Im ersten Teil (»Beiträge zu einem praktisch-theologischen Verständnis virtueller Realitäten«) verortet sich die Vfn. mit ihrer phänomenologisch-hermeneutischen Methodik in der Nähe zum ethnographischen Ansatz von Clifford Geertz und betont mit diesem die »Fiktionalität« und unausweichliche Subjektivität »dichter Beschreibungen«. Dabei werden phänomenologische Beschreibungen eher im Sinne von kurzen »Blitzlichtern« in die Arbeit eingespielt, während ihr Schwerpunkt auf der Auseinandersetzung mit Theorieangeboten aus der Medienwissenschaft und aus der bisherigen praktisch-theologischen Diskussion liegt. Bereits in diesem methodologischen zweiten Kapitel klingen einige die Arbeit bestimmende hermeneutische Leitkategorien an. So wird das Erleben von virtuellen Welten vor allem als Immersionserfahrung bestimmt und die »Irritation« als dasjenige charakteristische Kriterium von Wahrnehmung ausgemacht, das wahrnehmungsorientierte theologische Ansätze wesentlich motiviert.
In Kapitel 3 des ersten Teils (»Medientheoretische Studien«) werden dann zentrale systematische Fragen erörtert: Es geht um das Verhältnis von Wort und Bild, um die Frage nach der »Wirklichkeit der Wirklichkeit«, um die Verhältnisbestimmung von anonymer (Medien-)Kommunikation und sog. Face-to-face-Kommunikation, um den Spielcharakter der virtual realities, den Gemeinschafts­charakter der virtual communities und ein neues, erweitertes Raumverständnis. Vor allem das hier entwickelte nachmetaphysische Wirklichkeitsverständnis gewinnt eine grundlegende Bedeutung für die weiteren Analysen und Argumentationen. In An­schluss an Kant, Kierkegaard und Wolfgang Welsch unterscheidet die Vfn. zwischen der Realität des Möglichen und der Realität des Wirklichen und versteht das Virtuelle als konstruierten Möglichkeitsraum, der damit deutliche Analogien zur religiösen Wirklichkeit gewinnt und gegenüber der materiellen Wirklichkeit nicht abzuwerten ist: »Virtuelle Wirklichkeiten sind prinzipiell dazu geeignet, eine Erfahrung der Gegenwart Gottes zu ermöglichen.« (95) Und: Die Chance der Beschäftigung mit virtuellen Realitäten liege darin zu erkennen, »dass die Wirklichkeit schon immer eine Konstruktion war« (100). Dementsprechend sollen auch virtuelle Gemeinschaften nicht gegenüber körperlich-realen Gemeinschaften abgewertet, sondern vielmehr in ihrer Eigenart begriffen und geschätzt werden. Das Gefühl, »in einen kommunikativen Zusam­menhang eintauchen zu können und dazuzugehören« (118), mache entscheidend die Gemeinschaftserfahrung aus, was die Vfn. mit Rückgriff auf die Atmosphären-Theorie von Herrmann Schmitz genauer entfaltet.
Im vierten Kapitel erfolgt dann eine Auswertung der praktisch-theologischen Diskussion um Medienwelten und virtuelle Realitäten. Besonders deutlich wird hier das schon in den vorangegan­genen Kapiteln veranschlagte weite Verständnis von »virtuellen Realitäten«, die »in Büchern, in Radio- und Fernsehsendungen, in In­ternetpräsentationen« und auch in Ausstellungen erfahrbar seien (143). Entsprechend wird hier auch eine gewisse Breite der praktisch-theologischen Beschäftigung mit Medien aufgenommen und dabei wiederum mit eigenen Akzenten weitergeführt. Die »rezeptionsästhetischen Anschlussstellen« für eine theologische Hermeneutik virtueller Realitäten liegen für die Vfn. vor allem »im Bereich der Anthropologie«, und zwar näherhin in einer veränderten Bestimmung der Körperlichkeit und Ganzheitlichkeit des Menschen – sie spricht vom »virtuellen Leibkörper« – sowie in »der Bedeutung der menschlichen Virtualisierungsfähigkeit gerade für die Annahme des Evangeliums von Gnade und Rechtfertigung« (142). Konsequenterweise wendet sie sich auch gegen den häufig anzutreffenden Überbietungsgestus, mit dem pauschal der »flachen« Medienwelt die »Tiefe« der kirchlich-religiösen Welt entgegengesetzt wird. Die Auseinandersetzung mit der praktisch-theo­logischen Diskussion mündet schließlich ein in Überlegungen zu einem »medientheoretisch reflektierten Verständnis« von Kommunikation und von Religion. Interessant ist hier u. a. die Bestimmung der christlichen Religion als »kulturelles Zeichen­system, das Lebensgewinn in virtualisierten Kommunikationen mit Gott verheißt« (180).
Im zweiten Teil des Buches werden die erarbeiteten Perspektiven in fünf weiteren Kapiteln auf Gottesdienst und Predigt bezogen und konkretisierend weiterentwickelt. Der Sonntag sollte nach Vorstellung der Vfn. stärker als »begehbarer Möglichkeitsraum« begriffen werden (210), der Kirchenraum in seiner Medialität und kommunikativen Vernetztheit mit anderen Lebens- und Kommunikationsräumen wahrgenommen werden, und das kommunikative Geschehen des Gottesdienstes als atmosphärisch dichtes Geflecht »von verschiedenen, sich überlagernden Kommunikationsräumen«, die es fördern, »dass Menschen im Gottesdienst selbst Räume der Kommunikation des Evangeliums betreten« (249). Für die Homiletik (Kapitel 5) akzentuiert die Vfn. in der Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Predigttheorien die Aufgabe der Predigt, eine »sprachlich gestaltete[n] virtuelle[n] Situation« zu kreieren, »die immersiv wirken soll« (274), einen Möglichkeitsraum für die Kommunikation des Evangeliums zu schaffen, indem die Wirklichkeit der Gegenwart Gottes schöpferisch »von und für Menschen konstruiert wird« (288).
Die Arbeit ist insgesamt sehr anregend und – gemäß ihrem Leitkriterium – an vielen Stellen konstruktiv »irritierend«: Immer wieder werden gängige Vorurteile und eingefahrene Sichtweisen aufgebrochen und teilweise geradezu provokativ gegen den Strich gebürstet. Die von der Vfn. versuchte Neubestimmung praktisch-theologischer Hermeneutik im Angesicht der Medienwelten ist zweifellos notwendig und stellt in der hier vorgelegten Version einen beachtenswerten und diskussionswürdigen Entwurf dar, auch wenn die Qualität und innere Stringenz der einzelnen Kapitel und Unterkapitel recht unterschiedlich ausgefallen ist und manches fragmentarisch bleibt. Trotz der beachtlichen Fülle der herangezogenen Literatur sei auch die kritische Anmerkung er­laubt, dass einige wichtige und grundlegende Beiträge zum Thema aus dem – praktisch-theologischen (!) – Bereich der Religionspädagogik, aber auch aus der Systematischen Theologie nicht oder un­zureichend rezipiert werden. Es ist zu hoffen, dass dies nicht symptomatisch für ein zunehmendes Auseinanderdriften theologischer Diskursfelder ist.