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Ausgabe:

März/2010

Spalte:

358-361

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Abraham, Martin

Titel/Untertitel:

Evangelium und Kirchengestalt. Reformatorisches Kirchenverständnis heute.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2007. XVI, 601 S. gr.8° = Theologische Bibliothek Töpelmann, 140. Geb. EUR 118,00. ISBN 978-3-11-019444-9.

Rezensent:

Hans-Peter Großhans

In den letzten Jahren ist eine ganze Reihe von Arbeiten zur Ekklesiologie erschienen. Diese neue Hinwendung zur Ekklesiologie mag ein Indiz dafür sein, dass die einstige Diagnose von Emil Brunner, die Kirchenfrage sei »recht eigentlich die unerledigte Frage der protestantischen Theologie«, auch heute noch zutrifft. Dieser Frage gilt auch die hier zu besprechende Untersuchung von Martin Abraham zum Verhältnis von Evangelium und Kirchengestalt, die von der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen 2006 als Dissertation angenommen worden ist. Wie sein Lehrer Oswald Bayer sieht sich A. vor allem der reformatorischen Theologie verpflichtet, die er für die gegenwärtige Arbeit an einem evangelischen Konzept von Kirche fruchtbar machen möchte.
Im Bewusstsein der mehrdimensionalen Bearbeitung der Ekklesiologie in der evangelischen Theologie, die sich in mehreren Disziplinen oft nebeneinanderher vollzieht, hat sich A. der Aufgabe gestellt, wie »systematisch-theologisch in sachlich angemessener und zugleich praxisrelevanter Form von einer Sozialgestalt der Kirche gesprochen werden« kann (2). Schon der Titel »Evangelium und Kirchengestalt« bringt zum Ausdruck, dass sich diese ekklesiologische Untersuchung in dem komplexen Verhältnis »zwischen Empirie der Kirche und Lehre von der Kirche« bewegt und damit dem »Verhältnis zwischen dem, was soziologisch und praktisch von Kirche wahrgenommen wird. und dem, was evangelische Christen in bezug auf sie glauben« (2) gilt. An seiner eigenen Position und Absicht lässt A. dabei keinen Zweifel, denn er möchte zeigen, dass »ein Abweichen von den ekklesiologischen Grundlagen der Reformation zu Kurzschlüssen führt, die entweder die Evangelizität der Kirche oder aber die Erkennbarkeit ihrer Gestalt beeinträchtigen – und in beiden Fällen ihr Kirchesein überhaupt« (3). Entsprechend beginnt er – nach einer Einleitung (I.) – seine Untersuchung mit Überlegungen zur »Konstituierung« und zum »Leben der Kirche« anhand einer Auslegung von Texten, die zentral für das Selbstverständnis evangelischer Kirchen in Deutschland sind (II.).
So werden die notae ecclesiae nach CA 7 und Luthers Schrift »Von den Konziliis und Kirchen« präsentiert, die Konstituierung der Kirche durch Evangeliumswort und Sakrament nach CA 7 und eine Reihe damit verbundener Aspekte erörtert, die Vitalität der Kirche als »Zeugnisgemeinschaft und zeugnishafte Ordnung« anhand von Barmen 3 entfaltet und schließlich die Frage der für das kirchliche Leben geltenden Adiaphora anhand von Formula Concordiae 10 diskutiert. Bei der letzten Frage will A. zeigen, »daß es hilfreich und sachgemäß ist, evangelische Ekklesiologie nicht nur nach dem Muster ›Bekenntnis und Adiaphora‹ zweistellig zu konstruieren, sondern die Zwischenebene des Vital-Zeugnishaften einzufügen« (132).
Im dritten Teil seiner Untersuchung stellt A. unter der Überschrift »Krise und Transformation der Kirche(n)« vor allem Ernst Troeltschs »Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen« dar, die er für die Deutung der kirchlichen Lage der Gegenwart fruchtbar zu machen versucht. Im Anschluss an Troeltsch verdeutlicht er an drei Grundtypen christlicher Gemeinschaftsbildung (Kirche – Sekte – Mystik), »wie von der gemeinsamen Bezugnahme auf das Konstitutive aus ... unterschiedliche Schlüsse hinsichtlich des kirchlich Vitalen und der Adiaphora gezogen werden können« (132).
Im vierten Teil (IV. »Soziologie – Praktische Theologie – Ekklesiologie«) vertieft A. die Frage nach dem Einfluss außertheologischer Faktoren auf den Prozess der Kirchenbildung, indem er die Ekklesiologie wissenschaftstheoretisch-enzyklopädisch verschiedenen Disziplinen zuordnet und dann seine bisher gewonnenen Einsichten anhand einiger gegenwärtig in Gesellschaft und Kirche wirksamer Parameter zu überprüfen sucht. Mit klaren Urteilen bahnt er seinen eigenen Weg durch die relevante Literatur in Soziologie, Praktischer Theologie und Systematischer Theologie – beispielsweise, wenn er in einem Exkurs die fortschreitende Entkirchlichung der Praktischen Theologie beschreibt und beklagt. Der dabei für ihn im Vordergrund stehende Gesichtspunkt ist die Verarbeitung des Theorie-Praxis-Problems in den einzelnen Ansätzen, aber auch, wie die unterschiedlichen Perspektiven der wissenschaftlichen Disziplinen verarbeitet und sie insofern in ein produktives Verhältnis zueinander gesetzt werden.
Ausgiebig geht A. – im Zentrum seiner Untersuchung – auf drei Dimensionen gesellschaftlicher und kirchlicher Entwicklung ein, die er durch Funktionalisierung, Individualisierung und Pluralisierung charakterisiert sieht. Ausführlich widmet sich A. dem Begriff der Funktionalisierung in Luhmanns Religionssoziologie und deren theologischer Rezeption, um dann jedoch fes­tzu-stellen, dass Luhmanns Systemtheorie mit Theologie »unvereinbar« (321) sei und aufgrund ihrer »Sterilität theologisch weder als positiver Bezugs- noch gar als Standpunkt« tauge (323). Gleichwohl wird dann in aller Kürze dargelegt, dass der Begriff der »Funktionalität« durchaus ekklesiologisch brauchbar sei als kritischer Vermittlungsbegriff für die kirchliche »Gesprächs- und Rechenschaftsfähigkeit ad extra«. Dagegen habe eine Kirche, die eines Begriffes wie Funktionalität »ad intra zur Selbstbegründung bedarf, ... das ihr Wesentliche bereits verloren« (334).
Zur Dimension der Individualität wird ein konzentrierter kritischer Durchgang durch die geistesgeschichtliche Entwicklung der letzten beiden Jahrhunderte geboten, aufgrund dessen A. dann fest­stellt, dass »den meisten der referierten ekklesiologischen und praktisch-theologischen Positionen zum Individualitätsthema, seien sie nun eher an der Individualität des Glaubenden ..., des Amtsträgers ... oder des anläßlich einer Kasualie begegnenden Kirchenmitglieds orientiert, ... ein von der Aufklärung geprägtes Freiheitsverständnis zugrunde« liege (369). Am neuzeitlichen Freiheitsverständnis vermisst A. nun allerdings die »theozentrischen Dimensionen« (373). Die Alternative markiert A. mit dem Stichwort »verdankte Freiheit« (374), weil damit die der Kirche und dem einzelnen Glaubenden gemeinsame »exzentrische Grundstruktur« (381) zum Ausdruck gebracht wird. Bei den Überlegungen zur Di­mension des Pluralismus setzt A. der Einsicht in eine unhintergehbare Pluralität im Raum der Kirche den theologischen Appell entgegen, dass die Kirche sich »immer wieder neu ... auf die in der Schrift gegebene gemeinsame Mitte von Kreuz und Auferstehung Jesu Christi« (419) konzentrieren solle.

Aufgrund der vorangegangenen ekklesiologischen Studien hat sich für A. die Klärung des Verhältnisses von »sichtbarer und geglaubter Kirche« als notwendig erwiesen. Er systematisiert die verschiedenen Redeweisen von sichtbarer und geglaubter Kirche, vor allem mit Bezug auf Texte Martin Luthers, um sie dann ins Gespräch mit zeitgenössischen Konzeptionen zu bringen.
Eigenwillig ist in diesem Zusammenhang A.s Rede von einer »Freiwilligkeitskirche« angesichts des Anspruchs, die gegenwärtige kirchliche Lage in Deutschland zu beschreiben, in der von einer »unfreiwilligen« Kirchenmitgliedschaft auch bei den Volkskirchen wohl kaum mehr die Rede sein kann. Bedauerlich ist, dass A. in der Zusammenfassung seiner Reflexionen zum Verhältnis von sichtbarer und geglaubter Kirche dann wieder in den häufig im Protestantismus üblichen ekklesiologischen Pessimismus einstimmt, wenn er – mit einer Formulierung Martin Honeckers – von der »Sichtbarkeit der Kirche als Not der Kirche« (468) spricht.
Nachdem A. nach 468 Seiten zu den in manchen protestantischen Kreisen üblichen Vorbehalten gegenüber der sichtbaren Kirche gelangt ist, will er zumindest im letzten Teil seiner Untersuchung unter der Überschrift »Evangelium und Kirchengestalt« der Frage nachgehen, ob sich »denn nun auch etwas theologisch Positives zur Gestaltung der bleibend problematischen Gestalt von Kirche sagen läßt« (468). Es geht ihm nun darum, »konkrete Perspektiven für eine evangeliumsgemäße Gestalt(ung) von Kirche zu bedenken« (469). Dazu werden die Begriffe »Gestalt« und »Profil« erläutert und sodann auf die konzentrische Struktur, die Grenzen und die Erneuerbarkeit der Gestalt evangelischer Kirche reflektiert. Der Schluss­teil endet mit einem Abschnitt über »Offenheit durch Profil« (523). Diese Formulierung ist durchaus programmatisch gemeint, so­wohl was die Offenheit evangelischer Kirchen und Gemeinschaften untereinander – A. spricht hier vom »Ausbau der innerevangelischen Ökumene« (523) – als auch das Verhältnis der evangelischen Kirchen nach außen zu den Kirchendistanzierten betrifft.
Dem Buch sind ein ausführliches Literaturverzeichnis sowie ein Namen- und ein Sachregister beigefügt.
Das engagiert geschriebene, gelehrte und theologisch profilierte Buch von A. stellt den Reichtum der vielfältigen ekklesiologischen Beiträge und Diskussionen in der evangelischen Theologie schön vor Augen. Seine Besonderheit sind ein klarer reformatorischer Ausgangspunkt und der Versuch, die unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven auf die Kirche und die Beiträge in den einzelnen Disziplinen in eine komplexe Gesamtbetrachtung zu integrieren. Zu kurz kommt bei A. die ökumenische Dimension der Kirche, die von ihm auf eine innerevangelische Ökumene reduziert wird.
Wie im Blick auf die interkonfessionelle ekklesiologische Dis­kussion bleibt A. auch im Blick auf das heutige globale Bewusstsein von der Pluralität des Kircheseins in bestimmten Grenzen. Zwar sieht er die Notwendigkeit, dass eine auf die Empirie der Kirche bezogene gegenwärtige Ekklesiologie eigentlich in einen globalen Kontext zu stellen sei, beschränkt sich dann dennoch aus Gründen der Arbeitsökonomie und Konkretheit nur auf den deutschen Kontext. Auch der generelle Anspruch A.s, die gegenwärtige Lage der evangelischen Kirchen zu deuten, hat seine Grenzen, weil A. dazu keine eigenen empirischen Untersuchungen heranzieht, sondern nur die diversen zeitdiagnostischen Meinungen aus der Literatur zusammenstellt und kommentiert. Die Deuteleistung A.s im Blick auf das gegenwärtige Verständnis der Kirchen wird auch begrenzt durch die Verwendung von Modellen, die in einer anderen Zeit als der jetzigen entwickelt wurden – ein Anachronismus, den A. selbst gelegentlich bemerkt (z. B. 135 im Blick auf Troeltsch).
A.s Untersuchung präsentiert jedoch viele bedenkenswerte An­regungen eines reformatorischen Kirchenverständnisses für die heutige Lage der diversen evangelischen Kirchen und Gemeinschaften in Deutschland und die ekklesiologische Diskussion in der evangelischen Theologie.