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Ausgabe:

März/2010

Spalte:

356-358

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Böttigheimer, Christoph, Fischer, Norbert, u. Manfred Gerwing [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Sein und Sollen des Menschen. Zum göttlich-freien Konzept vom Menschen.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2009. XII, 496 S. gr.8°. Kart. EUR 39,80. ISBN 978-3-402-12760-5.

Rezensent:

Karin Scheiber

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Zunke, Christine: Kritik der Hirnforschung. Neurophysiologie und Willensfreiheit. Berlin: Akademie Verlag 2008. 222 S. gr.8°. Geb. EUR 49,80. ISBN 978-3-05-004501-6.


»In der Behauptung durch die moderne Hirnforschung, wirtäusch­ten uns über unsere Freiheit, sind also zwei Weisen der Verkehrung zu finden: die objektive Verkehrung von Freiheit in Herrschaft durch das Kapitalverhältnis und die ideologische Verkehrung der hieraus resultierenden Unfreiheit von einer ökonomischen zu einer neuronal hergestellten, womit dann behauptet wird, der Grund der Unfreiheit läge nicht in der Verfasstheit der Gesellschaft, sondern in der Natur des Menschen.« (Zunke, 175) Die Hirnforschung, soweit sie mit dem Anspruch auftritt, gültige Aussagen zu Bewusstsein und Willensfreiheit zu machen, wird in der theoretisch-philosophischen Oldenburger Dissertation von Christine Zunke einer schonungslosen Kritik unterzogen. Nicht nur werden in unzähligen Anläufen die Selbstwidersprüche einer Leugnung von Willensfreiheit und Bewusstsein stringent aufgezeigt – so etwa der einer Vorstellung vom Gehirn als einer materialisierten Vorstellung (194) –, sondern es wird auch der in marxistischer Tradition stehende ideologiekritische Einwand formuliert, die Hirnforschung affirmiere die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse und sei damit – ob intendiert oder nicht – reaktionär und repressiv (11.67). Willensfreiheit und Handlungsfreiheit, moralische Freiheit und politische Freiheit werden dabei nicht immer auseinandergehalten und führen zu widersprüchlichen Bestimmungen. Gilt nun, dass »Menschen unter Bedingungen der Herrschaft unfrei« sind (175), oder gilt: »Deswegen ist der Mensch jedoch kein unfreies Wesen, sondern deswegen ist diese Gesellschaftsform zu kritisieren« (189)? Mit tatsächlichen oder vermeintlichen Ungereimtheiten und Widersprüchlichkeiten anderer geht Zunke ihrerseits hart ins Gericht (»naiv«, »Unsinn«, »peinlich«, »mogeln«, »reaktionär«, »ideologisch«).
Zu den von ihr Kritisierten zählen neben der Hirnforschung – vertreten durch Gerhard Roth und Wolf Singer – auch Jürgen Habermas und Peter Bieri und die gesamte analytische Philosophie (in offenkundiger Unkenntnis der letzteren und einer für mich nicht nachvollziehbaren Interpretation Habermas’ und Bieris). Diese lassen sich von Zunke in einem Abwasch erledigen, vertreten sie doch ihr zufolge alle eine unhaltbare identitätstheoretische Lösung des Leib-Seele-Problems (208), welche wiederum mit einem Reduktionismus gleichgesetzt wird (202). Ebenso unhaltbar sei ein Dualismus (200.208; ob Substanz- oder Eigenschaftsdualismus sei unerheblich, da beide an denselben Problemen litten: 96), weswegen Zunke selbst weder eine identitätstheoretische noch eine dualistische, sondern eine »philosophische« (195) Position vertritt, die darin besteht, dass »die Notwendigkeit und die Unmöglichkeit einer Vermittlung zwischen Materiellem und Ideellem« festzuhalten ist (ebd.), welche »praktisch« und eben darin »real« nur in der »lebendigen Arbeit« qua »zielgerichteter Tätigkeit« gelingt (205). Für ihr Freiheitsverständnis beruft sie sich in erster Linie auf Kant (und in zweiter auf Hegel). Wie Kants Freiheitsverständnis positiv aussieht, muss sich die Leserin aufgrund einiger aus dem Zusam­menhang gerissener Kant-Zitate und einer gerade mal zwei Sätze umfassenden Darstellung auf der letzten Seite zusammenreimen. In Anbetracht dessen, dass es unter den namhaften Freiheitspositionen kaum eine gibt, deren Interpretation heftiger umstritten ist als jene Kants, ist diese Unterlassung gravierend. Es wird so getan, als sei vollkommen klar, was Kant unter Freiheit versteht, und als stellten sich gewisse Probleme gar nicht. »Sie [die ›Freiheit des Bewusstseins‹] ist nicht nur kein empirischer Gegenstand, sie ist auch, solange sie nicht den Beginn von Kausalketten in der Welt setzt, als reine Gedankenfreiheit so gut wie nichts.« (209) Doch wie kann sie den Beginn von Kausalketten in einer Welt setzen, die zugleich vollständig kausal determiniert ist (30)? Trotz aller genannten Kritik: Beim besprochenen Werk handelt es sich um ein eigenständiges, argumentativ kraftvolles Werk, das der Rezensentin beim Lesen viel Widerspruch, aber auch viel Zustimmung abnötigte und dessen starke Seiten vor allem im Aufweis der Selbstwidersprüche einer empirischen Beweisführung für oder gegen die Willensfreiheit und im Plädoyer für die Notwendigkeit eines transzendentalen Freiheitsbegriffs liegen.
Der Sammelband »Sein und Sollen des Menschen« vereinigt in sich Vorträge, welche an einer im Januar 2008 abgehaltenen Tagung der katholischen Fakultät der Universität Eichstätt-Ingolstadt ge­halten wurden. Sie verkörpern eine große Diversität an involvierten Fachrichtungen, Zugangsweisen und Fragestellungen. Im ersten Teil der Sammlung finden sich Beiträge aus philosophischer, (medizin-)ethischer, neurobiologischer, juristischer und politischer Sicht. Im zweiten Teil geht es um grundsätzliche Fragen im Zusammenhang mit den Menschenrechten und außerchristliche Perspektiven. Der dritte Teil schließlich umfasst theologische Beiträge, welche u. a. um das cusanische Menschenverständnis, den Naturrechtsbegriff und das Verhältnis von Schöpfung und Evolutionsbiologie kreisen. Anlass der Tagung war eine Anregung des Papstes, »drängende Fragen bezüglich des Naturbegriffs bzw. des natürlichen Sittengesetztes zu vertiefen« (1). Dies macht sich nicht nur in der konfessionellen Zugehörigkeit der Referierenden bemerkbar, sondern ebenso im teilweise etwas unangenehmen Bekenntnis- oder Gefälligkeitscha­rakter mancher Äußerungen und der unverblümten Bezeichnung der Tagung als »Papst-Symposium« (Hattrup, 383).
Auf knappem Raum sind nur äußerst selektive Bemerkungen zu einzelnen Beiträgen möglich; Selektionskriterium im Zusammenhang dieser Sammelrezension ist die thematische Nähe zu Zunkes oben besprochener Dissertation. In jedem Teil des Tagungsbandes finden sich Beiträge, in denen es um die Freiheit geht, und mehrere berufen sich dabei auch ausdrücklich auf Kant. Diese Verankerung in Kant fällt unterschiedlich überzeugend aus. In Norbert Fischers Beitrag findet sich die bei Zunke vermisste Darstellung von Kants Freiheitsverständnis. Es gelingt ihm, auf nachvollziehbare Weise die zentralen Punkte herauszuarbeiten; die Schwierigkeiten und großen Divergenzen der aktuellen Interpretation von Kants Freiheitsverständnis kommen dabei aber nicht zum Vorschein. So wird beispielsweise nicht deutlich, dass der von Fischer präferierte Ansatz zur Auflösung des Widerspruchs von unbedingter Freiheit und Determinismus, der Perspektivendualismus (25), zwar nicht ohne Anhalt bei Kant selbst ist, aber bei weitem nicht Interpretationskonsens darstellt. So klar und erhellend Fischers Beitrag ist, so philosophisch konfus ist derjenige des Biologen Martin Heisenberg. Er verteidigt eine »Verhaltensfreiheit«, welche aus dem Zusammenspiel von Gesetzmäßigkeiten und Zufall entstehe. Diese Freiheit kommt demjenigen zu, in welchem sich das Zusam­menspiel ereignet; nicht nur Menschen haben sie, sondern auch Tiere und wohl auch die »Wurzelspitze[, die] ihren Weg durch steiniges Erdreich ›sucht‹« (50). Wenn das »spezielle[n] Zusammenspiel von Ursachen und Zufällen« »vollständig im jeweiligen Individuum« liegt und nicht »die Außenhülle des Organismus« durchtrennt, dann liegt »Urheberschaft« vor (51). Diese Einhaltung der »Systemgrenze« kennzeichnet Vorgänge in »autonomen« Systemen. Autonomie, Urheberschaft und Verhaltensfreiheit können damit gleichermaßen mit den Taumelbewegungen des Bakteriums Es­cherichia coli wie mit dem menschlichen Denken in Verbindung gebracht werden, und beide werden mit denselben Begriffen charakterisiert: Sie sind initial aktiv. Nicht nur verwendet Heisenberg traditionsreiche philosophische Begriffe in einer Weise, die man, um den Zufallsfaktor darin zu würdigen, als »initial aktiv« bezeichnen könnte, er sieht sich dabei auch noch in grundsätzlicher Übereinstimmung mit Kant (49.50.54; vgl. aber 51). Auf Dieter Hattrups theologische Ratifizierung von Heisenbergs Freiheitsverständnis und seiner Berufung auf Kant ist hier nicht einzugehen. Dagegen sei auf Lothar Wehrs Beitrag hingewiesen, dessen zutreffende Darstellung des paulinischen Freiheitsverständnisses einen berechtigten Platz in dieser Sammlung hat.