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Ausgabe:

März/2010

Spalte:

351-354

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Wendte, Martin

Titel/Untertitel:

Gottmenschliche Einheit bei Hegel. Eine logische und theologische Untersuchung.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2007. XIV, 381 S. gr.8° = Quellen und Studien zur Philosophie, 77. Lw. EUR 98,00. ISBN 978-3-11-019531-6.

Rezensent:

Arne Grøn

Die Arbeit ist eine sehr eindrucksvolle Dissertation, deren hohes Ambitionsniveau schon aus einer kurzen Zusammenfassung hervorgeht. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt in der Aufgabe, die im Konzil von Chalcedon getroffene Festlegung zu begreifen, dass Jesus Christus wahrer Mensch und wahrer Gott in einer Person ist. Das Chalcedonense gibt dergestalt zu denken, »nicht etwas anderes, aber auf ihm aufbauend mehr zu sagen, als es selbst festhält« (2). Auf diesem Hintergrund will die Arbeit Hegels Theorie des Absoluten als philosophische Auslegung der chalcedonensischen Festlegung rekonstruieren. In diesem exegetischen Ziel spielt ein systematisches mit: Hegels Auslegung theologisch und besonders philosophisch zu kritisieren und dadurch zu einer sowohl expliziten wie impliziten Verwendung von Hegel in der gegenwärtigen Theologie Stellung zu nehmen. Der erste Teil des Buches besteht in einer Einleitung, die besonders die Arbeit durch einen Forschungsüberblick verortet. Der zweite Teil ist der Rekonstruktion von Hegels Konzeption der gottmenschlichen Einheit gewidmet und trägt als Hauptteil des Buches dessen Titel. Der abschließende dritte Teil formuliert relativ kurz erstens die Kritik an Hegel und zweitens zeitdiagnostische Perspektiven.
Die »Zentralbeobachtung« oder These der Buches lautet: Wegen der zugrunde liegenden logischen Struktur absoluter Vermittlung kann Hegel keine sachangemessene Rekonstruktion der chalce­donensischen Bestimmung liefern. Hegels Religionsphilosophie führt »mit unausweichlicher Konsequenz« dazu, dass die Religion in die Philosophie aufgehoben wird, indem sie die gottmenschliche Einheit in philosophierendem Denken vollendet sieht. Im An­schluss an Schelling und die Schelling-Interpretation von Walter Schulz wird eine zu Hegel alternative Grundstruktur skizziert, die darin besteht, dass für jede Vermittlung Unmittelbarkeit und Entzogenheit konstitutiv ist.
Es ist schon verdienstvoll, dass das Buch mit einem Forschungsüberblick zu Hegels Religionsphilosophie anfängt, der jedoch leider nur deutschsprachigen Monographien (seit 1965) Rechnung trägt. Der Überblick wird durch zwei Unterscheidungen strukturiert: erstens die Unterscheidung zwischen einer »religiösen« Lesart (derzufolge die positive Religion »bleibend als Vollendungsgestalt des absoluten Geistes zu fassen ist«, 15) und einer »philosophischen« Lesart (der »Systemverlauf« führe zu der Aufhebung der positiven Religion in die Philosophie); zweitens die Unterscheidung, ob die jeweilige Arbeit auf die Wissenschaft der Logik zurück­greift oder nicht. Dadurch kann W. seine eigene Arbeit profilieren: Er will die philosophische Lesart plausibilisieren, und zwar unter Rekurs auf die Wissenschaft der Logik. Seine Hegel-Interpretation zeichnet sich dadurch aus, dass er die Religionsphilosophie Hegels aus dem abschließenden Kapitel in der Wissenschaft der Logik über die absolute Idee liest. Sein Hauptargument für die philosophische Lesart ist, dass »gerade die Arbeit des Begriffs in der Religion zu der Aufhebung der Religion in die Philosophie führt« (52).
Der zweite Teil des Buches beginnt damit, Hegels Gesamtsys­tem zu skizzieren (II.1): Es hat wesentlich ein Thema, die absolute Idee. Die Vernunft erkennt sich als das Absolute und letztbegründet sich. Die Wissenschaft der Logik wird als transzendentalphilosophische Onto-Theo-Logik bestimmt. Die Logik fungiert als der »innere Bildner« der Realphilosophie. Das Prinzip der Wissenschaft der Logik ist die Subjektivität, die erst vollständig in dem Ab­schlusskapitel über die absolute Idee gesetzt wird, der auch das Methodenkapitel für Hegels gesamtes Denken ist, indem die absolute Idee die vollendet durchgeführte Voraussetzungslosigkeit ist.
Demnach (II.2) wird die absolute Idee als der logische »Bildner« der Religionsphilosophie ausführlich bestimmt. Die absolute Idee wird mit Rückgriff auf die Wesenslogik ausgelegt: Der Widerspruch hat nur als ein sich auflösender sein Dasein. Was als selbständig gegeneinander auftritt, hebt sich dadurch auf, dass es zum Anderen seiner wird. Erst auf begriffslogischem Niveau liegt aber absolute Subjektivität vor, die sie selbst in absoluter Vermittlung ist. Die einzige Form der Selbsthabe der Subjektivität ist Selbstgewinn durch Selbstverlust. Methode (Dialektik) und Prinzip (absolute Subjektivität) fallen damit in eins: Das Prinzip ist Selbstbewegung als »die Bewegung eines Selbst, das sich, indem es sich in sein Andere[s] hinein verliert, als Selbst gewinnt, weil es gerade als das Andere seiner es selbst ist« (147). Hegel entwickelt damit eine Form von Dialektik, die in ihrer vollständigen Selbstdurchklärung endet. Dass die Religion notwendigerweise in die Philosophie aufgehoben wird, ist somit in ihrer logischen Grundstruktur begründet.
Die Aufgabe ist dann (II.3) zu zeigen, dass und wie Hegels Religionsphilosophie von der absoluten Idee und somit von der Grundstruktur absoluter Vermittlung geprägt ist. Die Religionsphilosophie wird als diejenige Realphilosophie ausgelegt, in der sich die logische Grundstruktur als die Einheit der zwei Naturen als geistiger Wesenheiten verwirklicht. Die Vorstellung der Zwei-Naturen-Einheit zeichnet sich dadurch aus, dass sie der Vermitteltheit des unendlichen und des endlichen Geistes auf die Weise entspricht, dass sie sie gleichsam aus beiden Perspektiven vorstellt. Sie ist »somit diejenige Vorstellung, die aus der Sache heraus zu der Verschränkung der Betrachtungsperspektiven zwingt« (229). Diese Vorstellung hat einen paradoxen Status als Vorstellung, indem sie das vorstellungsgemäße Auseinander der Vorstellungsinhalte negiert, damit aber sich als Vorstellung aufhebt. Die Einheit der zwei Naturen führt zur Selbstaufhebung des Christentums in der Philosophie. Anders gesagt, »die vollständige Realisierung des Begriffs der Religion realisiert sich als Negation ihrer« (284).
Im abschließenden dritten Teil wird erstens eine doppelte Kritik an Hegel formuliert. Die theologische Kritik lautet, dass Hegel unsachgemäß opus Dei und opus hominum vermischt. Gott hängt von Menschen ab, indem er nur durch die Vermittlung mit den Menschen er selbst wird. Dies »Verspielen« des rechten Auseinanders von Gesetz und Evangelium ist »die eiserne, unausweisbare Konsequenz der Hegelschen Grundstruktur« (297), die Grundstruktur absoluter Vermittlung. Die philosophische Kritik zielt auf die Rationalität dieser Grundstruktur. Die Arbeit skizziert hiermit eine zu Hegel alternative Grundstruktur: Absolute Vermittlung dependiert von Unmittelbarkeit, die der Vermittlung bleibend vorausgesetzt und bleibend entzogen ist. Oder präziser formuliert: Vermittlung ist »keine suisuffiziente Struktur« und somit nicht als absolute Vermittlung zu fassen. Formelhaft heißt es, dass Dialektik gerade darin dialektisch ist, nicht nur Dialektik zu sein, sondern wesentlich von dem ihr vorgängigen Anderen abzuhängen. Damit argumentiert die Arbeit nicht nur für eine philosophische Lesart der Religionsphilosophie Hegels, sondern auch für eine philosophische Kritik an Hegel, durch die Religion als Vollendungsgestalt des absoluten Geistes (re-)etabliert wird. Zweitens setzt sich die Arbeit unter dem Stichwort »Zeitdiagnostische Perspektiven« teils mit einer expliziten Verwendung Hegels (Jüngel), teils mit dem »impliziten Hegelianismus in der gegenwärtigen Theologie« (Moltmann, Greshake) kurz auseinander.
Es ist besonders eindrucksvoll, wie die Arbeit von W. ihre komplexen Fragestellungen beherrscht. Die Arbeit ist klar aufgebaut und pointiert geschrieben. Die Analysen sind scharfsinnig und fruchtbar. Selbstredend kann und muss man die Frage stellen, ob die hohen Ambitionen eingelöst werden. Diskussionsbedürftig finde ich besonders das Diktum, es gebe nur zwei Möglichkeiten, auf Hegel zu reagieren: entweder Hegel als Ganzes zu akzeptieren oder ihn als Ganzes abzulehnen. Erstens scheint die Arbeit selbst die Möglichkeit zu öffnen, mit Hegel gegen Hegel zu denken. So heißt es, dass sich in Hegels Struktur ein Moment aufzeigen lässt, das die unaufhebbare Vorgängigkeit der Praxis vor der Theorie repräsentiert. Es ist die Rede von einem »Selbstwiderspruch« von Hegels Position als Mitteilung. Indem die Kritik auch zentralen Intentionen Hegels gerecht zu werden beansprucht, kann auch von einem Verspielen eigener Ansätze bei Hegel die Rede sein. Zweitens scheinen mir »Konsequenz« und »Grundstruktur« formelhaft stilisiert zu werden. In der Interpretation einer komplexen philosophischen Position ist die Frage, wie sie ihre »Grundstruktur« auslegt und wie konsequent diese durchgeführt wird. Deshalb kann auch darüber gestritten werden, was ihre Grundstruktur ist. Wie das Buch andeutet, kann eben eine alternative Position andere Möglichkeiten in der kritisierten Position freilegen. Ein gutes Beispiel dafür ist der wirkungsvolle Gegenentwurf von Kierkegaard, der eben die Grundstruktur von Selbstgewinn durch Selbstverlust radikal re-interpretiert. Ein anderes Beispiel ist die hermeneutische Reflexion Paul Ricœurs, die sich nicht zuletzt über das Verhältnis von Vorstellung und Begriff mit Hegel (religions)philosophisch auseinandersetzt. Dies ändert nichts daran, dass W.s Ab­handlung für eine Diskussion von Hegels Religionsphilosophie unübergehbar ist. Sie ist besonders bemerkenswert in ihrer systematischen Ausrichtung.