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Ausgabe:

März/2010

Spalte:

346-349

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Troeltsch, Ernst

Titel/Untertitel:

Rezensionen und Kritiken (1894–1900). Hrsg. v. F. W. Graf in Zusammenarbeit m. D. Brandt.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2007. XXI, 925 S. gr.8° = Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe, 2. Lw. EUR 228,00. ISBN 978-3-11-019304-6.

Rezensent:

Hermann Fischer

Durch ein Versehen des Verlages ist der bereits 2007 erschienene Band 2 der Troeltsch-KGA erst mit zweijähriger Verspätung dem Rezensenten zur Besprechung zugeschickt worden. Das erklärt die Verzögerung. Während der mittlere der insgesamt drei Bände, mit denen T.s Rezensionstätigkeit im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe seiner Werke dokumentiert wird, bereits (als Bd. 4) 2004 erschienen ist und die Rezensionen zwischen 1901–1914 enthält (vgl. die Rezension ThLZ 131 [2006], 764–767), bietet der jetzt vorliegende Band T.s Rezensionen seit Beginn 1894 bis zum Jahr 1900.
Überblickt man die 46 Einzel- und die vier umfänglichen Literaturberichte, die von 1894–1900 erschienen sind, dann verschlägt einem allein die außergewöhnliche Fülle der genannten und be­sprochenen Werke den Atem. Das gilt besonders für die vier Literaturberichte, die T. zu dem von H. J. Holtzmann herausgegebenen »Theologischen Jahresbericht« von 1896–1899 beigesteuert hat (81–163.213–309.367–484.555–642).
Nach Grafs Zählung enthalten die bib­liographischen Listen, die den einzelnen Abteilungen dieser Jahresresümees vorangestellt sind, mehr als 1200 Titel (6)! T. hat aber nur einen Teil der hier aufgelisteten Werke und Aufsätze rezensiert und gesteht ein, dass es sich bei den besprochenen Publikationen oft auch um solche handelt, »die dem Ref., so weit überhaupt, meist nur aus Recensionen anderer Zeitschriften bekannt geworden sind« (82). Viele dieser Autoren und Titel sind heute vergessen. Manche Werke werden hier besprochen, die T. auch in an­derem Zusammenhang rezensiert, und er hat auch keine Scheu, eigene Publikationen vorzustellen oder sich auf sie zu beziehen (97.115.369 f.439 f.594 f.641). Die Rezensionstätigkeit wird außerordentlich breit angelegt. T. be­spricht nicht nur Werke, die thematisch im Zusammenhang mit ihn unmittelbar interessierenden Arbeitsbereichen stehen wi eDog­matik, Ethik, Theologiegeschichte, Religionsphilosophie, -psychologie und -ge­schichte oder Studien zum Verhältnis der Theologie zu den Nachbarwissenschaften. Er äußert sich auch zu methodischen Debatten der Profanhistoriker und schlägt sich im Streit zwischen K. Lamprecht (269.429) und seinen Gegnern mit G. von Below auf deren Seite (529–531).
Daneben rezensiert er populäre religiöse Schriften, so etwa mit Sympathie Werke von Richard Wimmer (»Liebe und Wahrheit«; »Gesammelte Schriften«, 325–327.525) oder greift in einer Rezension über H. Siebecks Monographie über »Aristoteles« (702 f.) weit in die Vergangenheit zurück. Sogar in Bereiche der chinesischen Philosophie wagt er sich in einer Besprechung des Werkes von M. von Brandt »Die chinesische Philosophie und der Staatskonfuzianismus« vor (681 f.). Auch sprachlich bewegt sich T. souverän auf unterschiedlichen Feldern und stellt neben deutschen Werken solche in englischer, französischer und holländischer Sprache vor. Unverkennbar lässt er sich bei seinen Rezensionen von strategischen Gesichtspunkten leiten und versucht über solche Werke zu schreiben, die in einem engen Kontakt zu eigenen Arbeitsprojekten stehen. Dabei überrascht das un­glaubliche Arbeitspensum, das er sich neben seiner Vorlesungs- und Vortragstätigkeit sowie neben einer einschüchternden publizistischen Produktivität mit seiner Rezensionstätigkeit abgerungen hat. Hier können nur einige wenige Rezensionen vorgestellt werden. Im Übrigen sei auf die »Einleitung« des Herausgebers verwiesen (1–27), die einen vorzüglichen Überblick über T.s Rezensionsarbeit bietet.
Bereits die erste Rezension über die Dogmatik von Lipsius (32–52) lässt einige Charakteristika des Zugriffs erkennen. T. skizziert mit wenigen Strichen die Diskussionslage seit Auflösung der altprotestantischen Schulorthodoxie und ordnet die Dogmatik von Lipsius in einen durch Kant und Schleiermacher vorgezeichneten Problemhorizont ein. Das Werk besticht »durch umsichtige und eingehende Berücksichtigung der philosophischen Gesamtarbeit und der außertheologischen Wissenschaft, sowie durch feine Durcharbeitung der erkenntnistheoretischen und religionsphilosophischen Grundfragen« (33). Stärken und Schwächen des Werkes werden in noblem Stil vorgetragen, allerdings mit den für T. charakteristischen Satzungeheuern. Im Referat über die von Lipsius vorgetragene Rekonstruktion des Christentums als »Vollendung des Wesens der Religion« (47) klingen schon kritische Fragen an, die T. später in seiner Schrift »Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte« auf seine Weise zu beantworten sucht. Trotz aller Vorbehalte gelangt er zu einem insgesamt positiven Urteil (52). – Das verhält sich ganz anders im Blick auf J. Köstlins Alterswerk »Der Glaube und seine Bedeutung für Erkenntnis, Leben und Kirche«, das T. als »letztes und edelstes Erzeugnis der Vermittlungstheologie« einstuft (66), fernab von einem für die neue wissenschaftliche Lage geöffneten Problembewusstsein. Die »Isolierung des Christentums« (72) läuft auf eine Selbstimmunisierung hinaus, die T. völlig überraschend und originell mit der Konzeption des islamischen Theologen Ghazzali (1059–1111) parallelisiert (74–79).
Mit Besprechungen von Kierkegaard- und Nietzsche-Literatur (u. a. 279–281.281–283) nimmt T. konträr zum Zeitgeist verlaufende Strömungen wahr. Die Behauptung von der Entdeckung Kierkegaards im 20 Jh. ist ins Reich der Legenden zu verweisen. T. schreibt (279 f.): »Unter den bedeutenden religionsphilosophischen Denkern der Gegenwart pflegt Kierkegaard jährlich die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, sei es durch weitere Übersetzungen seiner Werke, sei es durch ihm gewidmete Darstellungen.«
Eine ausführliche Rezension widmet T. der Monographie des Overbeck-Schülers C. A. Bernoulli »Die wissenschaftliche und die kirchliche Methode« (335–348). Bei diesem Buch handelt es sich nach T. »um einen Stoß in das Herz jeder gegenwärtigen Theologie, die ihren Bestand als einen vor dem Forum der wissenschaftlichen Methode haltbaren ansieht«. Im Gefolge Over­becks hält hier eine historische Untersuchung »Gericht über die bisherige Theologie, eine systematische begründet die zukünftige« (335). Bernoulli ex­poniert einen Gegensatz zwischen wissenschaftlicher und kirchlicher Methode. Richtig daran ist, dass in der Theologie unterschiedliche Interessenlagen zusammenlaufen, die bewusst ge­macht werden müssen. Kritisch bemängelt T., dass Bernoulli die­sen Gegensatz unter Berufung auf Lagarde, Overbeck, Duhm und Wellhausen als einen prinzipiellen und ausschließenden fasst. Während die wissenschaftliche Methode nach Bernoulli zu einem prinzipiellen Relativismus führt, entspricht der kirchlichen Me­thode ein wie auch immer gearteter Supranaturalismus. Diesen absoluten Widerspruch hält T. für verfehlt und macht deutlich, dass die wissenschaftliche Theologie sich niemals mit einem prinzipiellen Relativismus zufrieden geben kann, sondern immer auch um normative Wahrheit bemüht ist, dass andererseits sich das religiöse Leben in der Obhut der kirchlichen Methode niemals ohne Beziehung zum Wahrheitsbewusstsein entfaltet. Insofern muss die von Bernoulli zu Recht hervorgehobene Verschiedenheit der beiden Methoden auf ihre Vermittelbarkeit hin reflektiert werden.
Aus Anlass des 100. Geburtstages von R. Rothe 1899 widmet sich T. der Rothe-Literatur (517–524.622 f.683–685) und hält als Dekan der Theologischen Fakultät über die »überaus anziehende und geradezu erbaulich wirkende Persönlichkeit dieses Mannes und seiner bei weitem noch nicht ausgeschöpften Gedanken« (517) die 1899 publizierte Gedächtnisrede. – Eine ausführliche Besprechung widmet T. den »Dogmatische[n] Zeitfragen« M. Kählers (654–667; auch 627–629). Man liest diese Texte T.s mit besonderer Aufmerksamkeit, weil M. Kähler über P. Tillich bis ins 20. Jh. hinein ge­wirkt hat.
Es könnte noch viel aus dem Schatz dieser Rezensionen vorgestellt werden. Das muss hier unterbleiben. T. schöpft für seine Re­zensionstätigkeit aus bisher erarbeiteten Einsichten und bereitet in diesem Medium eigene Frage- und Problemstellungen vor. Insofern ergänzt der vorgelegte Band auf ideale Weise das Verständnis der frühen Werke T.s. Erleichtert und befördert wird das durch exzellente Kommentierung. Hilfreich und wie im­mer vorzüglich sind die Biogramme und die Erschließung der Texte durch Literaturverzeichnisse und Register. Mit seinen Mitarbeitern hat der Herausgeber für die Fertigstellung des Bandes eine Sisyphusarbeit geleistet, für die ihm nur hohe Anerkennung und rückhaltloser Dank ausgesprochen können.