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Ausgabe:

März/2010

Spalte:

341-343

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Barth, Hans-Martin

Titel/Untertitel:

Die Theologie Martin Luthers. Eine kri­tische Würdigung.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2009. 586 S. gr.8°. Geb. EUR 29,95. ISBN 978-3-579-08045-1.

Rezensent:

Martin Brecht

Es gilt hier eine neue, umfängliche Behandlung des Themas anzuzeigen. Der Vf., Dogmatiker in Marburg, hat sich bereits zuvor in zahlreichen Veröffentlichungen an diesem Thema abgearbeitet. Sein Verhältnis zum Stoff ist schon nach den Eingangsbemerkungen ein zwiespältiges, einerseits bestimmt vom Respekt vor der Größe des Gegenstandes, andererseits voll vielfältiger Kritik. Als spezifisch an der Darstellung ist hervorzuheben, dass sie Luther als aktuelles Gegenüber wahrnimmt, anfragt und angeht bis in den ökumenischen Zusammenhang. Er soll jedenfalls in der gegenwärtigen Situation zur Rede gestellt werden. Dabei kann es freilich kaum ohne Anachronismen und Wadenbeißereien abgehen. Den distanzierenden Respekt vor einer bis in die sprachliche Gestaltung großartigen geistigen Leistung vermisst man weitgehend.
Vor einem erfolgreichen Zugang zum Thema sollen die Zu­gangsschwierigkeiten bewältigt und sozusagen die Leichen aus dem Keller geholt werden. Sie sind aber auch danach immer noch da und werden erneut vorgebracht. Mithin stößt man zunächst auf gewaltige Vorbehalte, ein seltsames Verfahren im Umgang mit einem großen Sujet. Wie fast zu erwarten, wird Luthers »Antisemitismus« vorweg angeprangert. Hier gibt es in der Tat nichts zu be­schönigen oder zu verteidigen. Um Luthers Zentralproblem handelt es sich gleichwohl nicht. Der Vf. ahnt, dass die Fehlleistung mit Luthers betroffener Christologie oder Hermeneutik zu tun haben könnte, aber nur um auch diese bedeutsameren Komplexe mit Verdacht zu überziehen. Unter dem Etikett »Intoleranz« wird Luthers Verhältnis zum Islam vorgeführt, eine gegenwartsbedingte grobe Verkennung damaliger Zeitumstände. Ebenso trifft die Qualifizierung von Luthers Haltung im Bauernkrieg als »Opportunismus« schwerlich die Sache, auch wenn es richtig ist, dass damals das Verständnis der Freiheit strittig war. Wegen seiner Stellung zum Hexenwesen wird Luther schließlich des »Aberglaubens« geziehen. Das mag gängig sein, ist aber eher marginal und jedenfalls schief. Man hätte nicht jedes Vorurteil übernehmen müssen.
Luthers Theologie wird einigermaßen flächendeckend in zwölf assoziativ aneinandergereihten Komplexen generell als »Provokation« wahrgenommen. Der Aufbau ist damit eher systematisch-assoziierend als genetisch. Insofern die begegnenden Phänomene Berücksichtigung finden, ist dem Stoff jedoch keine vorgefasste Dogmatik übergeworfen. Als eine erste Alternative ist der »Konflikt zwischen Theologie und Philosophie« benannt, dabei werden aber alsbald auch Anthropologie und Soteriologie berührt. Die Differenz wird herausgearbeitet, aber Luthers theologische Konzentration gilt dann doch als rational defizitär. Der »Rivalität zwischen Heiliger Schrift und menschlicher Tradition« wird nachgegangen. Dass das Verhältnis nicht erstarrt, sondern in Bewegung bleiben muss, lässt sich nachvollziehen. Angesichts der »Alternative zwischen Kreuz und Selbstbestimmung« werden Vorbehalte gegen die Kreuzestheologie geltend gemacht. Von Luther wurde mit ihr lediglich zeitlich begrenzt argumentiert, und sie darf gewiss nicht über Gebühr verabsolutiert, aber ebenso wenig psychologisch, politisch oder religionskritisch eskamotiert werden. Beim »Durchbruch vom verborgenen zum offenbaren Gott« bezieht sich der Vf. ganz stark auf die auch von ihm einmal mehr unzulässig systematisierte, aber doch exegetisch argumentierende Schrift De servo arbitrio. Die Verwechselbarkeit von Gott und dem Bösen wird moniert. Der Kritik ist Berechtigung nicht abzusprechen. Ob man dabei K. Barth schließlich den Vorzug vor Luther geben muss, ist eine andere Frage.
Schon bei der »Spannung von Gesetz und Evangelium« werden aktuelle Vermittlungsschwierigkeiten konstatiert. Gegen andere dogmatische und ökumenische Offerten pflichtet der Vf. schließlich doch Luther bei. Die Frage nach der Erneuerung hätte man immerhin aufwerfen können. Auch was die »Identität – Sünder und gerecht zugleich« und damit die Rechtfertigungslehre anbetrifft, sieht der Vf. heute außerhalb eines evangelischen Innenraums allenthalben Vermittlungsprobleme anstelle herbeigeführter Plausibilität. Es bleiben ihm zu viele Wünsche offen, ökologische, gleich diverse und dabei auch gegenläufige in der Anthropologie, exegetische, ökumenische, kommunikative usf. Dass die Anforderungen, die ein Sündenbewusstsein an das Gewissen stellt, kaum mehr erfüllt werden, ist einzuräumen. Dazu bedürfte es neuer Bemühung, Aber eine Passepartout-Lösung ist gerade an dieser Stelle nicht zu erlangen. Da müsste der Vf. schon mit seiner eigenen Dogmatik herausrücken, aber die steht hier an sich nicht zur De­batte. Tragende Funktion kann das Lehrstück so schwerlich mehr übernehmen. Man muss sich an Modifikationsvorschlägen genügen lassen. Die Ausführungen sind damit ihrerseits eine ernste Herausforderung. Als eine wesentliche Wurzel des Übels wird hier und dann auch immer wieder ein unsachgemäßer Christozentrismus auf Kosten der Trinitätslehre konstatiert. Weder dem Schöpfer noch dem erneuernden Geist werde Genüge getan. In der Tat scheint der Vf. der Bedeutung von Gottes Kondeszendenz in Christus für Luther nicht innegeworden zu sein oder sich ihr zu verweigern. Das spezifische Element in Luthers Christologie mit seiner Dynamik fällt somit aus, theologisch und für die Frömmigkeit ein schwerer Verlust. Dass Luther in seiner »Dialektik von Freiheit und Gebundenheit« den Anforderungen des Vf.s, vorweg den politischen und sozialen, dazu empirisch betrachtet nicht gerecht werden kann, ist kaum anders zu erwarten, obwohl die Grundlinien der Freiheitsschrift dann auch wiedergegeben werden. Das Verständnis der Unfreiheit des Menschen wird nach De servo arbitrio vorgeführt und von den Einsichten moderner Anthropologie her ventiliert. Gegenüber den deterministischen Tendenzen in der Gotteslehre fällt die Entscheidung für die emanzipatorischen Opti­onen.
»Die Komplementarität von Wort und Sakrament« gilt als vorgegeben, aber der Vf. macht bewusst, wie stark heutige Vorstellungen von Luthers sakramentalem Wortverständnis differieren. Im Blick auf die Taufe werden die Probleme der Kindertaufe, des Glaubens und des allgemeinen Priestertums erörtert. Entsprechend bekommt man die unterschiedlichen Phasen von Luthers Abendmahlsauffassung in ihrer Ausrichtung vorgeführt. Die kritische Würdigung weist die Qualifizierungen »Sakramentspositivismus« und »Wortfetischismus« trotz artikulierter Vorbehalte ab. Dabei muss aber wie­derum gefragt werden, ob der Sinn der christologischen Zentrierung der Sakramente zureichend begriffen worden ist.
Beim »Kampf zwischen wahrer und falscher Kirche« wird die Entwicklung bis hin zu den letzten polemischen Schriften als zunehmend problematisch beurteilt. Freilich betrifft das nur einen Teil der explizierten Ekklesiologie. Dass sowohl das allgemeine Priestertum als auch die institutionelle Ausgestaltung der Kirche defizitär geblieben sind, trifft zu. Gegenüber der späten Polemik wird die anfängliche Kritik wiederholt und wiederum in der Konzentration auf die Christologie festgemacht. Man sollte darüber aber jedenfalls Luthers Verletztheiten nicht vergessen. Der Vf. beurteilt den Dualismus Luthers als weitgehend problematisch für die heutige Zeit.
Im Rahmen der »Arbeitsteilung – Gottes linke und Gottes rechte Hand« werden die Bereiche von politia und oeconomia samt den darüber sich entwickelnden Vorstellungen von den beiden Reichen oder den drei Hierarchien behandelt. Luthers Terminologie ist nicht mehr gebräuchlich, und eine klare Systematik vermisst man in den wechselnden Situationen offenkundig, und sie ist auch in der Darstellung wohl nicht geglückt. Mit den emanzipatorischen Optionen des Vf.s ist das ohnehin nicht zu vereinbaren, und in den Rahmen seiner Theologie passt das alles nicht. Der Abschnitt über die »Christliche Existenz – säkular und spirituell« kombiniert die ethische Orientierung (Gebote) mit dem geistlichen Lebensstil (Gebet). Der Vf. vermisst aber heute den eschatologischen Schwung und die energische Verwirklichung christlicher Existenz.
Der letzte Abschnitt, die »Verschränkung von Zeit und ewigem Leben« hat die Eschatologie zu bieten, sowohl was das persönliche Sterben und Auferstehen als auch was das Ende von Geschichte und Welt anbetrifft. Über die die Vorstellungen und Sprache sprengende Auferstehungshoffnung beim alten Luther hätte sich wohl noch mehr sagen lassen, die futurische Eschatologie war bei ihm über wesentliche Hinweise hinaus nicht sonderlich entwickelt.
Der letzte Abschnitt zieht Bilanz, mehr noch: Er stellt das Programm für einen modernen evangelischen Christen und Theologen auf, wie es mit der immerhin noch als bedeutsam geltenden Hinterlassenschaft Luthers weiterzugehen hat. Das entspricht genau der Attitüde des Buches: über die Kenntnisnahme des großen Gegenstandes hinaus an ihm herumzuwerkeln und zu -modeln. Als »das Bleibende« werden die Existenztheologie, gemeint ist weithin der Gestus, die »an der Bibel gewonnene Theologie« und die befreiende Theologie benannt. Als »das zu Verabschiedende« gelten »konstitutions- und sozialisationsbedingte Befangenheiten« – für wen träfe das nicht zu? –, religiöse Intoleranz und tendenziell dualistisches Denken, was auf die Christozentrik zielt. Als »das zu Entfaltende« werden ein erkennbar protestantischer Lebensstil, eine geistliche Hermeneutik (einschließlich eines mehrfachen! Schriftsinns und einer pfingstlichen Sprache) eingefordert, dazu eine missionarisch, ökumenisch und eschatologisch bestimmte Ekklesiologie. Mit einer »integrativen Trinitätslehre« wäre man wohl vollends bei einem alternativen theologischen Modell, aber schwerlich mehr bei Luther. Immerhin wird der Theologie Luthers abschließend attes­tiert, »existenziell inspirierend und global an­schlussfähig« zu sein, was sogar das Buch selbst bewiesen hat. Als Kirchenhistoriker war ich nicht auf einen Katalog gefasst, was alles heute gegen Luther vorzubringen ist, und hätte mich lieber mit dem Staunen über ein einzigartig kreatives theologisches Werk beschieden.