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Ausgabe:

März/2010

Spalte:

330-332

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Whitacre, Rodney A.

Titel/Untertitel:

A Patristic Greek Reader.

Verlag:

Peabody: Hendrickson Publishers; Edinburgh: Alban Books 2007. XXIV, 279 S. gr.8°. Kart. US$ 29,95. ISBN 978-1-59856-043-5.

Rezensent:

Ulrich Volp

Das vorzustellende Buch gehört zu einem der ältesten Genres christlicher Theologie und ist zugleich eine wirkliche Neuerscheinung. Es handelt sich im Wesentlichen um ein Enchiridium Patris­ticum, eine Sammlung von lesens- und bewahrenswerten Texten der Kirchenväter, die zusätzlich mit zahlreichen philologischen Lesehilfen ausgestattet ist. Solche Sammlungen hat es seit dem Ausgang der Antike gegeben, sei es in Form ausführlicher Florilegien in byzantinischer Zeit oder in Gestalt scholastischer Sentenzensammlungen. Zu erinnern ist außerdem an das kommentierte Florilegium Patristicum, das Martin Bucer um 1539 zusammenstellte, oder an die Kompilation des damals 30-jährigen Jesuitenpaters Marie Joseph Rouët de Journel (1880–1974), dessen Enchiridion Patristicum im 20. Jh. 25 Auflagen erfuhr und noch bis in die 1990er Jahre nachgedruckt wurde.
Die apologetischen bzw. kontroverstheologischen Motive von Bucer und Rouët de Journel für eine solche »autoritative« Auswahl liegen auf der Hand. W.s Agenda ist zunächst einmal eine andere. Er war eine Zeit lang Direktor des Griechischprogramms am Gordon-Conwell College in Massachusetts, und seine damaligen Studierenden standen ihm zweifellos als Adressaten für dieses Textbuch im Rahmen eines Griechischunterrichts mit theologischen Texten vor Augen. Dementsprechend gibt es zu allen abgedruckten griechischen Texten nicht nur jeweils eine Einleitung, in der der »Schwierigkeitsgrad« des anschließenden Textes numerisch bewertet wird, sondern umfangreiche Anmerkungen mit Übersetzungsvorschlägen für einzelne Wörter, Bestimmungen von grammatikalischen Formen und sonstige Erläuterungen zu Grammatik und Syntax. Im zweiten Teil des Buchs werden englische Übersetzungen zu allen Texten sowie Vokabel- und Stammformenlisten geboten. Solche Reader sind auf dem amerikanischen Buchmarkt weit verbreitet: Für die Vorsokratiker, Alexander den Großen, Catull, Cicero, Horaz, Ovid oder Vergil gibt es Vergleichbares, für die Patris­tik steht W.s Buch meines Wissens bisher allein. Ein Urteil dar­über, ob diese umfangreichen Hilfen nun ein Indiz dafür sind, wie rudimentär die Griechischkenntnisse englischsprachiger Theologiestudierender heute nur noch sind (warum bieten die in Deutschland führenden Bände der »Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen« eigentlich keine Originaltexte?), oder dafür, welch großen Interesses sich das Fach in Nordamerika heute erfreut, wird vom Standpunkt des Betrachters oder der Betrachterin abhängen. Verheerend ist freilich, dass W. teilweise einen Text bietet, der schon seit Generationen überholt ist: etwa die dem Migne entnommene Pottersche Ausgabe der Stromateis von 1715 oder Lightfoots Wie­dergabe der Didache von 1892. Ein Grund dafür wird nicht genannt, und ein solches Vorgehen ist auch nicht entschuldbar, sendet es doch den Studierenden das falsche Signal im Hinblick auf wissenschaftliche Sorgfalt. Immerhin enthält die Bibliographie Hinweise auf die einschlägigen neueren Ausgaben.
Unbeschadet dieser Kritik lohnt es sich dennoch, W.s Auswahl einmal theologisch unter die Lupe zu nehmen. Zu finden sind Auszüge aus der Didache, von Ignatius und Clemens von Rom, der Diognetbrief und das Polykarpmartyrium, natürlich Justin, die Paschahomilie des Melito von Sardes, Clemens von Alexandrien, Euseb, Athanasius, Gregor von Nazianz, die Apophthegmata Pat­rum, Chrysostomos, Hesychios von Jerusalem und Symeon d. J. Ein Großteil dieser Texte findet sich auch bei Rouët de Journel, dessen Enchiridion aber deutlich umfangreicher ausfällt, zumal er auch noch lateinische Autoren und zu den griechischen Texten lediglich lateinische Übersetzungen, aber keine sonstigen Hilfen bietet.
Ein genauer Vergleich zwischen den beiden Ausgaben ist aufschlussreich: Das Enchiridion enthält etwa die dreifache Quellenmenge in Form von hunderten von Texten von über 100 Verfassern gegenüber 15 Texten bei W. Lediglich drei Werke des Readers kommen bei Rouët de Journel nicht vor, die Apophthegmata Patrum und die Texte von Hesychios und Symeon. Das Enchiridion be­schränkt sich allerdings häufig auf sehr kurze Zitate, während der Reader zwischen vier und 18 Seiten hintereinander abdruckt. So kommen etwa die Didache, das Polykarpmartyrium oder der Römerbrief des Ignatius deutlich umfangreicher zu Wort. Der Umfang der aus dem Diognetbrief, den Stro­ma­teis des Clemens von Alexandrien oder den Matthäushomilien des Johannes Chrysostomus ausgewählten Abschnitte ist ähnlich, die Texte überschneiden sich aber nur zum Teil oder, wie im Fall des Chrysostomus, gar nicht.
Inhaltlich fällt bei W.s Textauswahl eine Präferenz für Stellen auf, die sich zu Gebet, Gottesdienst und Ostern sowie zum Lebenswandel und zur Hoffnung der rechten Christen und vor allem der Geistlichen (auch im Kontext der frühen Martyriumstheologie) sowie zur rechten Bedeutung der Schrift äußern. Zentrale Texte der Dogmengeschichte im engeren Sinn finden sich dagegen kaum. Selbst bei der Athanasiusauswahl ist eher die Bedeutung der Inkarnation »für mich« im Blick, was gut etwa zu den übrigen Texten zum Paschamysterium passt. Das Ergebnis sind ungeheuer »mo­derne« Kirchenväter, die sehr unmittelbar zum »gläubigen Ich« der Leserinnen und Leser sprechen. Dies macht den Reader zweifellos zu einer spannenden Lektüre auch für wenig patristik-affine Studierende, was wohl seinen Erfolg erklärt. Die Texte sind dogmatisch weit und offen, jedenfalls für die meisten Protestantinnen und Protestanten nicht anstößig, sie führen die Bedeutung von reichen und historisch weit zurückreichenden liturgischen und spirituellen Traditionen vor Augen und präsentieren die Kirchenväter als Teile der Einen, Heiligen, Katholischen und Apostolischen Kirche, zu der sich auch die anglikanische Kirche immer wieder ausdrücklich zählt, aus deren Mitte W. nicht zufällig stammt. Vielleicht wird aus diesem griechisch-englischen Reader deshalb ein neues internationales ökumenisches Enchiridion, das das Beherrschen der lingua franca des 21. Jh.s voraussetzt, um das Erlernen derjenigen der Antike zu ermöglichen. Eine stärkere Berücksichtigung der einschlägigen wissenschaftlichen Ausgaben in kommenden Auflagen sollte dafür aber Voraussetzung sein.